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doi:10.18452/23808 (edoc HU Berlin)

Überlegungen für die Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa

Zielsetzung – Der Artikel fasst die Argumentation meiner Dissertation zusammen. Darin wird untersucht, wie die Arbeit mit wissenschaftlichen Publikationen in Bibliotheken und bei Informationsdienstleistern daran mitwirkt, Beiträge zum Wissenschaftssystem aus dem Globalen Norden zu privilegieren. Die dadurch reproduzierte soziale Ungerechtigkeit kann als Kolonialität bezeichnet werden. Schließlich stellt der Artikel Optionen vor, wie Bibliotheken ihre eigene Dekolonialisierung in die Wege leiten können. Forschungsmethoden – Die Zusammenfassung ist rein argumentativ und bezieht sich nur implizit auf die vielfältigen empirischen Studien der Dissertation. Ergebnisse – Die Durchlässigkeit für wissenschaftliche Kommunikationsmedien aus dem Globalen Süden wird als zentrale Weiche für Kolonialität erkannt, insbesondere die Abtrennung der Regionalwissenschaften von den Kerndisziplinen, die Inklusionskriterien von bibliographischen Datenbanken und Paketprodukten von Informationsdienstleistern, Szientometrie und die damit verbundene Quantifizierung von wissenschaftlicher Kommunikation, die Kommerzialisierung von Open Access und die Orientierung von Bestandsentwicklung am Bedarf. Schlussfolgerungen – Neutralität als einer der Kerne bibliothekarischer Berufsethik sollte in Europa als kulturell demütige Neutralität rekonzeptualisiert werden, um Kolonialität entgegen zu treten, die eigene privilegierte Position zu reflektieren und einen erhöhten Aufwand zu akzeptieren. Dies führt zwar zu mehr Komplexität im Wissenschaftssystem, bietet aber die Chance auf produktive Irritation und Anreize für Kooperation.


Objective – The article summarises the argumentation of my PhD thesis that investigates how the work with scholarly publications in libraries and by information service providers privileges contributions to the research system from the Global North. The thereby reproduced social injustice can be termed coloniality. The article presents options for libraries to initiate their own decolonization. Methods – The summary is solely argumentative and refers to the diverse empirical studies of the PhD thesis only implicitly. Results – The permeability for scholarly communication media from the Global South is recognised as an important passage for coloniality, in particular the separation of area studies from the core disciplines, the inclusion criteria of bibliographic databases and package products from information service providers, scientometrics and the associated quantification of scholarly communication, the commercialization of Open Access and the focus of collection development on demand. Conclusions – Neutrality as one of the core values of the librarian`s professional ethics should be re-conceptualized in Europe as culturally humble neutrality, in order to counter coloniality, reflect on one's own privileged position and accept increased effort. Although this leads to more complexity in the research system, it offers the opportunity for productive irritation and incentives for cooperation.


Zitiervorschlag
Nora Schmidt, "Überlegungen für die Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa". LIBREAS. Library Ideas, 40 ().


Anmerkung der LIBREAS-Redaktion: Bei diesem Artikel handelt es sich um eine Zweitveröffentlichung. Die Erstveröffentlichung erfolgte in: Young Information Scientist Vol. 6(2021), https://doi.org/10.25365/yis-2021-6-1.

Diesem Beitrag liegt folgende Dissertation zugrunde: Schmidt, Nora (2020). The Privilege to Select. Global Research System, European Academic Library Collections, and Decolonisation. Phd Thesis. Lund: Lund University, Faculties of Humanities and Theology, Lund Studies in Arts and Cultural Sciences, 2. Sep. 2020. DOI: 10.5281/zenodo.4011295

1 Vorwort

Dieser Artikel fasst die Ergebnisse meines Dissertationsprojekts zusammen, und ähnelt stark der Zusammenfassung in schwedischer Sprache, die in der Dissertation enthalten ist (siehe Schmidt 2020). Das empirische Fundament des Projekts besteht aus vielen einzelnen Studien, die selbst auf Forschungsdaten aus verschiedenen Quellen basieren. Anstatt diese Studien zusammenzufassen, werde ich im Folgenden die Hauptargumentationslinie der Dissertation darstellen. Der Umfang einer Zusammenfassung würde es lediglich erlauben, einige ausgewählte Autorïnnen und Werke aus der sehr breiten und vielfältigen Literaturbasis der Arbeit herauszustellen. Um diese Privilegierung zu vermeiden, die von der tatsächlichen Erarbeitung der Argumentation eine verzerrte Vorstellung vermitteln würde, werde ich hier nur implizit auf diese Literaturbasis verweisen. Diese Entscheidung folgt der Erkenntnis, dass alles Wissen sozial ist. Viele für meine Arbeit relevante Themen wurden in verschiedenen Kontexten bereits diskutiert. Meine Kenntnis der in diese Wissensproduktion eingeflossenen Beiträge ist ohnehin notwendig unvollständig. Die Argumentation in der vorliegenden Form ist jedoch meine eigene, und ihre Herleitung mit genauer Referenzierung findet sich in gleicher Abfolge in meiner Dissertation. Durch das Verfassen dieser Zusammenfassung habe ich die Möglichkeit, zumindest für diesen Moment von meinem Privileg zurückzutreten, einzelne Beiträge anderer herauszuheben.

2 Forschungsproblem, Ziele und Aufbau der Dissertation und dieser Zusammenfassung

Unter mehr oder weniger großem Aufwand ist es heute möglich, weltweit für Kommunikation erreichbar zu sein. Dieser weltgesellschaftliche Zustand ist jedoch enorm durch soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägt, was sich auch in sozialgeographischen Verhältnissen spiegelt, und auf historischem Kolonialismus und seinen Folgen, der Kolonialität (coloniality), beruht. Insoweit unterprivilegierte Weltregionen werden häufig als Globaler Süden bezeichnet. Auch im Wissenschaftssystem ist diese Unterscheidung präsent (siehe Abschnitt 3). Ziel der Dissertation ist es, sichtbar zu machen, wie die Arbeit mit wissenschaftlichen Informationen in Bibliotheken und bei Informationsdienstleistern, deren Dienste Bibliotheken mit zumeist öffentlichen Geldern zukaufen, dazu beiträgt, Kolonialität fortzusetzen.

Wissenschaftliche Kommunikation wird oft als eine Art von Kommunikation konzipiert, deren einzelne Beiträge über Referenzen global eng miteinander verbunden sind. Unter anderem spielen sowohl die aktuelle Relevanz für identifizierbare Zielgruppen, als auch der Veröffentlichungsort eine wichtige Rolle dafür, welche Referenzen angegeben werden, und zwar in beide Richtungen: Autorïnnen wählen Literatur, die sie entdecken konnten und die sie für relevant halten; aber sie nehmen auch Rücksicht darauf, was gewisse Zielgruppen sowie die Reviewerïnnen und die Herausgeberïnnen ihrer Manuskripte für relevant halten mögen. Wie die szientometrische Studie in der Dissertation für eine Stichprobe von südostafrikanischer Literatur der Geistes- und Sozialwissenschaften zeigt, ist im Globalen Norden veröffentlichte Literatur leichter zu entdecken als im Globalen Süden veröffentlichte Literatur; sie erscheint schon allein deswegen – völlig unabhängig vom Inhalt – als relevanter, und ist daher in diesem Prozess privilegiert.

Die Dissertation analysiert sowohl konzeptionell als auch empirisch, wie sich das Wissenschaftssystem als global konstruiert, und dabei Unterscheidungen zwischen Zentrum und Peripherie einzieht (siehe Abschnitt 4). Sie zeigt, inwiefern eine Stichprobe südostafrikanischer Publikationen zur sozial- und geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung in die globale wissenschaftliche Kommunikation integriert ist (siehe Abschnitt 5). Publikationsorte geben Hinweise zur Auffindbarkeit innerhalb der wissenschaftlichen Informationssysteme, die vor allem im Globalen Norden den meisten Forschenden in mehr oder weniger größerer Breite – abhängig vom Budget der Institutionen, die ihnen zugänglich sind – zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden die Auswirkungen einiger aktuellen globalen Entwicklungen auf die Infrastrukturen des südostafrikanischen Publikationswesens erörtert. Da für diese Zwecke keine ausreichend inklusive bibliografische Datenquelle verfügbar ist, muss sie erstellt werden. Ein zusätzliches Ziel dieser Arbeit ist es daher, einige blinde Flecken der Szientometrie zu reflektieren.

Am Beispiel wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa wird schließlich untersucht, wie die angedeuteten problematischen sozialen Strukturen mit der bibliothekarischen Berufsethik, insbesondere mit dem Prinzip der Neutralität, und mit verbreiteten Vorgängen bei der Bestandsentwicklung und -pflege in wissenschaftlichen Bibliotheken zusammenhängen (siehe Abschnitt 6). Abschließend stelle ich in Abschnitt 7 eine Liste von Vorschlägen bereit, die als Grundlage für eine professionelle Debatte über die Dekolonialisierung einer wissenschaftlichen Bibliothek dienen kann.

3 Das Wissenschaftssystem in der Weltgesellschaft

Das Wissenschaftssystem erfüllt mit seiner hochspezialisierten Kommunikation eine bestimmte Funktion in der Weltgesellschaft, nämlich ihre Versorgung mit neuem und verlässlichem wissenschaftlichen Wissen. Ich gehe davon aus, dass Forschende, insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften, dabei die Interessen der lokalen Bevölkerung am Forschungsstandort zumindest bis zu einem gewissen Grad vertreten, und dass sich die Interessen der Bevölkerung im Globalen Süden mehr oder weniger von jenen der Bevölkerung im Globalen Norden unterscheiden, weil sich die kulturellen und sozialen Bedingungen unterscheiden. Nachdem die große Mehrheit der Weltbevölkerung im Globalen Süden lebt, leicht verfügbare Forschungsergebnisse jedoch überwiegend an Forschungsstandorten im Globalen Norden erzeugt werden, kann also angenommen werden, dass das Forschungssystem seine Funktion im Hinblick auf die Mehrheit der Interessen nur äußerst ungenügend erfüllt.

Durch die Kolonialisierung und die damit verbundene gewaltsame Ersetzung von Bildungsinstitutionen verhinderte der Globale Norden das Gedeihen lokaler Wissensproduktions- und Rezeptionssysteme im Globalen Süden. Die Kolonialisierung verdrängte diese lokalen Systeme zugunsten des seinerzeit entstehenden Wissenschaftssystems des Globalen Nordens, das mittlerweile in praktisch allen Ländern des Globalen Südens institutionalisiert wurde. Diese Strukturüberlagerung, die bislang im Globalen Norden kaum hinterfragt wurde, ist ein Beispiel für Kolonialität.

Die Ungleichheit der Teilnahme an der Kommunikation in den Sozial- und Geisteswissenschaften folgt den Gräben sozialer Ungerechtigkeit, die in der Weltgesellschaft insgesamt allgegenwärtig sind. Nach der Befreiung vom politischen Kolonialismus änderte sich die Perspektive der Forschenden aus dem Globaler Norden auf den Süden kaum. Verfehlte Entwicklungspolitik (developmentalism) und der Kalte Krieg stabilisierten eine ausgrenzende Sichtweise, die durch die Klassifizierung der Wissenschaft in klassische Disziplinen einerseits, und Regionalwissenschaften andererseits, weiter gestärkt wurde. Da diese beiden Wissenskorpora mittels physischer und informativer Distanzierung, beispielsweise in Bibliotheken, voneinander isoliert werden, bezeichne ich dieses Problem als Abtrennung der Regionalwissenschaften (area studies incarceration). So werden beispielsweise Beiträge von auf dem afrikanischen Kontinent ansässigen Philosophïnnen häufig den Afrikawissenschaften zugeordnet.

Auch die verbreiteten Methoden, mit denen sich das Wissenschaftssystem selbst beobachtet – evaluiert, tragen zur Fortsetzung der Kolonialität bei. Bestimmte wissenschaftliche Publikationen werden eher nicht entdeckt und weniger referenziert als andere, weil sie nicht in den im Globalen Norden erstellten Zitationsindizes verzeichnet sind. Der bedeutendste dieser Indizes, Web of Science (Wos), war zunächst in erster Linie als Werkzeug zum Auffinden von wissenschaftlichen Informationen gedacht, um die Schneeballmethode mit quantitativen Daten anzureichern: Forschende hangeln sich bei dieser Methode von Referenz zu Referenz durch die Forschungsliteratur, um die Entwicklung einer Debatte nachvollziehen zu können. Quantitative Daten zur Häufigkeit einzelner Referenzen helfen, Schlüsselbeiträge und die Zeitschriften, in denen sie gewöhnlich erscheinen, schnell zu identifizieren. Forschungsfördereinrichtungen verwendeten Zitationsindizes jedoch bald als ihr Hauptwerkzeug, um das Wissenschaftssystem zu beobachten, und die Mainstream-Bibliometrie etablierte sich auf dieser Grundlage.

Die Inklusionskapazität eines jeden Indizes ist allerdings technisch begrenzt. Der Aufwand bei der Inklusion von im Globalen Süden erscheinenden Zeitschriften ist allein schon dadurch besonders hoch, weil sie häufig im Globalen Norden kaum zu beschaffen sind oder, im Falle von elektronischen Publikationen, den im Globalen Norden gesetzten technischen Standards mitunter nicht folgen. Dadurch wird die Ausgrenzung dieser Publikationen weiter verstärkt. Selbst wenn Datenbanken aus dem Globalen Süden z. B. von Wos inkludiert werden, so geschieht das als Regional Citation Indexes, womit sie den Status des eingegrenzten Ausgegrenzten erhalten. Zudem machen die kommerziellen Unternehmen, die Zitationsindizes betreiben, ihre Inklusionsentscheidungen kaum transparent. Die veröffentlichten Inklusionskriterien von Wos legen den Ausschluss von Beiträgen aus dem Globalen Süden aus formalen, nicht inhaltlichen Gründen nahe. Die Mainstream-Bibliometrie und die Inklusionskriterien der Indizes, auf die sie sich stützt, tragen zur Verfestigung der Zentrum-Peripherie-Struktur im Wissenschaftssystem und seiner Kopplung an sozialgeographische Strukturen bei (siehe Abschnitt 4).

Wissenschaftliche Bibliotheken befinden sich als Vermittlerinnen zwischen kommerziellen Anbietern von wissenschaftlichen Informationen und Forschenden in einer problematischen Position. Auswahlprozesse bei der Bestandsentwicklung werden zunehmend ausgelagert (teilweise an unbezahlte Benutzerïnnen). Statt den Benutzerïnnen unmittelbar Informationsressourcen zugänglich zu machen, fungieren Bibliothekarïnnen zunehmend als Helpdesk, Überwachungs- und Marketingdienst für die Container-Produkte der kommerziellen Anbieter. Die Bibliothek als Organisation des öffentlichen Dienstes unter neoliberalen Vorzeichen kann sich privatwirtschaftlichen Interessen schwer entziehen. Die Handlungsfähigkeit der Bibliotheken in der Wissensvermittlung und die Durchlässigkeit für Publikationen aus dem Globalen Süden wird dezimiert.

Die Umstellung des Publikationswesens auf Open Access und die damit verbundene Verbesserung der Auffindbarkeit von so publizierten Forschungsergebnissen klingt vielversprechend, aber die Finanzierung dieser Open-Access-Publikationsservices ist entscheidend: Wenn von Autorïnnen oder ihren Institutionen für die Veröffentlichung jene Gebühren an die Verlage gezahlt werden, die sie fordern, verlieren Bibliotheken das einzige kraftvolle Instrument ihrer Handlungsfähigkeit gegenüber den kommerziellen Verlagen: ihre Macht als Großkunden in den Preisverhandlungen.

Während diese Macht der Bibliotheken im Globalen Süden noch nie stark ausgeprägt war, erlangen sie auch mit der Konstitution von Open Access als neuem Standard keine vorteilhaftere Position: Die Bereitstellung von oder Mitwirkung an global verfügbaren nicht-kommerziellen Open-Access-Publikationsservices ist mit Kosten verbunden, die häufig die Teilnahme des Globalen Südens ausschließen, da hierfür eine aktuelle It-Infrastruktur und erhebliche Personalressourcen erforderlich sind. Die Entwicklung dieser global verfügbaren Infrastrukturen findet also weiterhin in beträchtlichem Ausmaß im Globalen Norden statt, vor dem Hintergrund der entsprechenden lokalen Interessen, während bestehende lokale Infrastrukturen im Globalen Süden dagegen häufig aus der Zeit fallen und eingehen.

In der Verlags- und Informationsbranche des Globalen Nordens decken zunehmend die Produkte einzelner Unternehmen den gesamten Forschungsworkflow ab. Forschende bekommen geringe Anreize, sich z. B. durch nicht-kommerzielle Angebote ihrer Institutionen oder ihrer Fachcommunities unterstützen zu lassen oder sich selbst für die Weiterentwicklung von nicht-kommerziellen Infrastrukturen einzusetzen. Der One-Stop-Shop als Software-Ökosystem verspricht den reibungslosen Zugriff auf alle während der Forschung erzeugten Daten, von der Lektüre bis zum Sammeln von Feedback zur Publikation. Jede zwischenzeitlich verwendete Software soll wie aus einem Guss wirken, ohne spürbare Einstiegshürden und Lernkurven. Das ist nur erreichbar, wenn den Forschenden Entscheidungen abgenommen werden, denn die Vielfältigkeit an Dokumenten, die während des Forschungsprozesses konsultiert und erstellt werden, erfordert ebenso vielfältige Überlegungen zu Fragen der Darstellung, der Verknüpfung mit anderen Dokumenten, der Zugänglichkeit für unterschiedliche Öffentlichkeiten etc. Wenn Forschende sich im One-Stop-Shop unhinterfragt einrichten, vermeiden sie die Konfrontation mit einer Welt, die nicht durch ein kommerzielles Unternehmen gefiltert und geordnet erscheint. Nicht nur die Unternehmen selbst, sondern auch die Forschenden, die ihre Produkte routiniert einsetzen, schirmen sich immer mehr von Irritationen ab, die von außen kommen und die Entwicklung von individuellen oder in einer Bezugsgruppe diskutierten Bewältigungsstrategien erfordern. Was nicht auf dem Radar der allesamt im Globalen Norden ansässigen Informationsdienstleistungsunternehmen erscheint, wie eben ein Großteil der Publikationen aus dem Globalen Süden, entzieht sich dann mit hoher Wahrscheinlichkeit der Aufmerksamkeit dieser Forschenden – und in der Folge auch der Aufmerksamkeit der Studierenden, die von ihnen unterrichtet werden.

Bibliotheken im Globalen Norden unterstützen die Unternehmen bei der Durchsetzung der One-Stop-Shop-Strategie, in der jede neue Funktionalität als Begründung einer Preissteigerung fungieren kann. Die Angebote der einzelnen Unternehmen basieren nach wie vor auf den exklusiven wissenschaftlichen Informationen in ihrem Portfolio und sind daher untereinander selten austauschbar, auch wenn es Überschneidungen gibt. Die Unternehmen operieren also in einer Umgebung, die sich äußerst vorhersehbar verhält, und in der es im Wettbewerb keine Verlierer geben kann. Die Unternehmen müssen lediglich sicherstellen, dass sich entweder eine ausreichende Anzahl von nachgefragten Publikationen im Portfolio befindet, über deren Verwertungsrechte das Unternehmen allein verfügt, oder dass tier one journals mit einem auf horrenden Publikationsgebühren basierenden Open-Access-Geschäftsmodell Einreichungen garantieren, weil die quantifizierte Wissenschaftskommunikation die Publikation in solchen Zeitschriften als Erwartung an Forschungskarrieren setzt. Die Nutzungsdaten, die diese Unternehmen sammeln, sind äußerst wertvoll, da sie einer interessanten Bevölkerungsgruppe zuzuordnen sind: der globalen Bildungselite. Durch die Bereitstellung von aus öffentlichen Mitteln bezahlten Zugängen zu den Plattformen, auf denen es von Trackern nur so wimmelt, ermöglichen Bibliotheken, dass diese Unternehmen doppelt profitieren.

Auch wenn im Bibliothekswesen wenig Bewusstsein für diese Problematik herrscht, so hat doch der Begriff Diversität im Bibliotheks- und auch im Wissenschaftskontext zunehmende Präsenz erlangt, was auf eine wachsende Sorge um soziale Gerechtigkeit hinweist. Sogenanntes Diversity Management könnte jedoch Kolonialität sogar stabilisieren, wenn es dabei in erster Linie um symbolische Aktivitäten geht, die der benannten Sorge Ausdruck verleihen, und sich bemühen, dem Ausgeschlossenen Raum zu geben, aber an den grundlegenden, oben skizzierten Zusammenhängen nicht zu rütteln vermögen. Ich schlage daher vor, sich aus einer privilegierten Position heraus stattdessen auf das Konzept der kulturellen Demut (cultural humility) zu konzentrieren. Es verschiebt den Fokus vom Anderen auf die Selbstbeobachtung und Selbstkritik der Privilegierten.

Schließlich spielt auch die gesellschaftsweite Präferenz für quantifizierte Kommunikation eine große Rolle für die Kolonialität im Publikationswesen. Forschende stehen unter zunehmendem Druck, in großen Mengen zu publizieren, und müssen dabei notwendig die Qualität vernachlässigen. Diese Entwicklung hat die Entstehung von räuberischem Publizieren (predatory publishing) ausgelöst. In der öffentlichen Debatte wurden Verlage, die mit Falschaussagen zu ihren Qualitätssicherungsprozessen und kurzen Publikationszeiten gegen vergleichsweise geringe Gebühren locken, häufig mit dem Globalen Süden in Verbindung gebracht: einerseits, weil als räuberisch identifizierte Verlage häufig dort ihren Sitz haben, und andererseits, weil ihre Autorïnnen nicht selten mit Forschungseinrichtungen im Globalen Süden affiliiert sind, was eine verallgemeinernde Unterstellung mangelnder Kompetenz begünstigt. Jedenfalls wurden in der Debatte auch Verlage als räuberisch bezeichnet, die nachweislich mit den besten Absichten operieren. Verlage im Globalen Süden trifft eine solche Beschuldigung aufgrund ihrer unterprivilegierten Ausgangsposition besonders hart. Darüber hinaus motivierte die Debatte Forschungseinrichtungen, Listen referierter Zeitschriften einzuführen, in denen Forschende publizieren müssen, wenn ihre Publikationen in Auswahlprozessen zählen sollen. Vergleichsweise schwer zugängliche Zeitschriften, die im Globalen Süden erscheinen, halten kaum Einzug in diese Listen und verlieren somit Autorïnnen.

Selbstverständlich muss das Wissenschaftssystem Wege finden, aus dem überwältigend hohen Volumen früherer wissenschaftlicher Kommunikation irgendwie jenes zu exponieren, was potentiell für die aktuelle Kommunikation relevant ist. Die Komplexität muss reduziert werden, und technische Systeme, die bei dieser Aufgabe helfen, wie z. B. Relevanzrankings von Suchmaschinen für Bibliotheken (discovery systems), sind willkommen, da sie einen geringen Eingabeaufwand erfordern und unmittelbar brauchbare Ergebnisse liefern. Wenn sich Forschende aber auf diese Systeme verlassen, ohne ihre Funktionsweise in Frage zu stellen und ohne für ihre Literaturrecherchen reflexive Methoden einzusetzen, wirken sich die internen Strukturen dieser technischen Systeme natürlich auch unmittelbar auf die wissenschaftliche Kommunikation aus. Nur wenn eine übermäßige Vereinfachung erkannt, mehr Durchlässigkeit und Komplexität zugelassen wird, kann Hoffnung auf mehr soziale Gerechtigkeit und kulturelle Demut im Wissenschaftssystem bestehen. Die Geschichte der Etablierung des globalen Wissenschaftssystems nimmt die wissenschaftliche Kommunikation selbst in die Verantwortung, über Privilegien zu reflektieren und aktiv von ihnen zurückzutreten. Diese Verantwortung erstreckt sich auch auf alle im System involvierten Institutionen und Personen, einschließlich der wissenschaftlichen Bibliotheken und der Forschenden.

4 Zentrum und Peripherie in der wissenschaftlichen Kommunikation

Bei der Untersuchung von Ursprung und Entwicklung des dualen Begriffs von Zentrum/Peripherie fällt auf, dass insbesondere die neueren Konzeptualisierungen eine räumliche, häufig sogar geografische Bedeutung tragen, die sich auf den Globalen Norden/Süden bezieht. Diese Begriffsbildung hat eine Reihe von Nachteilen, allen voran, dass sie die Akkumulation von referenziell produzierten Peripherien im Globalen Süden und von Zentren im Globalen Norden stabilisiert. Auf diese Weise werden Privilegien (re)produziert, und damit auch soziale Ungerechtigkeit. Daher sollte der Raumbezug durch einen Bezug zur inneren Differenzierung sozialer Systeme ersetzt werden.

Wissenschaftliche Debatten bilden notwendigerweise Zentren aus, auch ohne das Zutun von in technischen Systemen verankerten Relevanzkriterien. Die Kommunikation dockt vermehrt an bestimmte Forschungsergebnisse an, was zufällig oder wissenschaftlich begründbar geschieht. Diese Forschungsergebnisse verknüpfen sich dann über Thema, Theorie oder Methode mit anderen, bis eine Verdichtung entsteht, auf die außerordentlich häufig Bezug genommen wird. Was für eine solche Kommunikationsverdichtung peripher ist, kann für eine andere jedoch zentral sein. Die Konstellation zeichnet sich durch eine hohe potentielle Dynamik aus, auch wenn bestimmte Adressen – Forschende, Forschungsstätten, theoretische oder methodologische Schulen – Geschichte machen, also Zentralität akkumulieren. Jedoch kann es keine Zentren ohne Peripherie geben: Sie sind auf die Peripherie angewiesen. Das ist allerdings nicht ihr einziger Daseinszweck, denn wo sich periphere Kommunikation akkumuliert, ist auch ein Bereich, in dem erkenntnistheoretische Risiken eingegangen werden können. Das wiederum erzeugt ein großes Innovationspotential.

Die räumliche Unterscheidung von Zentrum/Peripherie spiegelt sich semantisch in der Unterscheidung von internationalen/lokalen Zeitschriften wider. Die Definitionen dieses Begriffspaars sind variantenreich und oft auch nur impliziert. Internationale Zeitschriften werden im Allgemeinen mit hohem Prestige und globaler Sichtbarkeit verknüpft, während lokale Zeitschriften eher nur für das lokale Publikum relevant oder gar von fragwürdiger Qualität sein sollen. Ein global agierendes Informationsdienstleistungsunternehmen überträgt leicht den immer positiv konnotierten Status der Internationalität auf die Zeitschriften, die es verlegt. Was diese Definitionen nicht berücksichtigen, ist das Potential lokaler Zeitschriften, unabhängig von großen Verlagen zu arbeiten und beispielsweise Autorïnnenrichtlinien zu entwerfen, die von den im Globalen Norden etablierten Standards abweichen. Hier wird ein Spielraum für produktive Irritationen in der wissenschaftlichen Kommunikation eröffnet, die über technische Innovationen hinausgehen. Aufgrund der geltenden Paradigmen von Evaluationsprozessen in Forschungsmanagement und Bibliotheken sind diese Kapazitäten im Abbau. Zeitschriften, die solche Zugangsmöglichkeiten für Entwicklungsimpulse bieten, verschwinden bereits in großer Zahl.

Die zuvor angedeutete problematische Konstellation bezüglich der Entwicklung des Open-Access-Publizierens taucht hier erneut auf: Die meisten Institutionen im Globalen Süden können es sich kaum leisten, die lokalen Infrastrukturen, zu denen auch lokale Zeitschriften gehören, zuverlässig zu betreiben. Selbst wenn technische Infrastrukturen bereitstehen, so braucht es freigestelltes Personal, um sie mit Inhalten zu befüllen. Ein wahrscheinliches Szenario ist vielmehr, dass Forschungsergebnisse weiterhin in die engen Korsetts von internationalen Publikationsorten eingepasst werden, um die Generalisierungsbarriere zu überwinden. Eine Generalisierungsbarriere besteht immer dann, wenn Forschung ihren Kontext im Globalen Süden explizit macht und in der Folge ihre globale Relevanz angezweifelt wird. Für Forschung aus dem Globalen Norden besteht kaum eine Generalisierungsbarriere, weil gar nicht erwartet wird, dass ihr Kontext über ein Mindestmaß hinaus explizit gemacht wird. Das Andere, das Periphere, wird nicht im Norden, sondern im Süden lokalisiert. Im Hinblick auf Prestige und Karriereentwicklung ist es also von Nachteil, sich im Globalen Süden mit Forschungsproblemen aus dem lokalen Kontext zu befassen, es sei denn, damit lässt sich unmittelbar ein Einkommen sichern, wie bei der weit verbreiteten Auftragsforschung. Diese ist jedoch im globalen Wissenschaftssystem kaum sichtbar und leidet unter mangelnder Qualitätssicherung ebenso wie darunter, dass dauerhafte Zugänglichkeit und Archivierung häufig nicht gewährleistet sind.

Szientometrie und Bibliometrie unterstützen die Reproduktion einer räumlichen Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, wenn sie Länder oder Institutionen als Zentren der wissenschaftlichen Kommunikation identifizieren, und zwar quantitativ, auf Grundlage fragwürdiger Daten. Bibliografische Datenbanken und jene Studien, die auf diesen Datenbanken basieren, beobachten wissenschaftliche Kommunikation lediglich in dritter und vierter Ordnung, suggerieren jedoch durch ihre wissenschaftlich akzeptierten Methoden eine weitaus größere Unmittelbarkeit. Die verbreitete Überzeugung, dass beispielsweise ein Gelistetsein in Wos hohe Qualität oder gar Exzellenz in der Forschung anzeigt, beeinflusst eine Reihe von Entscheidungen im Kontext von Forschungsförderung, Karriereentwicklungen, Platzierung in der Wissenschaftskommunikation und in Rechercheinstrumenten, die direkt darauf wirken, wer wann was beforscht und wie die Ergebnisse wahrgenommen werden. Wie jedoch oben bereits erläutert, ist das Gelistetsein nicht unwesentlich auf eher technisch-pragmatische und generell intransparente Entscheidungen von Informationsdienstleistungsunternehmen zurückzuführen, die gewöhnlich keinerlei Anzeichen von kultureller Demut erkennen lassen.

Auch wenn das Wissenschaftssystem nicht ohne Komplexitätsreduktion auskommt, so scheint es dennoch an der Zeit, es mit einem höheren Grad an Komplexität zu belasten, um die Kolonialität zu überwinden, die das System durch akkumulierte räumliche Peripherien im Globalen Süden reproduziert. Kolonialität löst alles, was als in dieser Hinsicht peripher erkannt wird, vom Kern der Relevanz und Exzellenz ab, und dient so der Verringerung der Komplexität im Wissenschaftssystem. Um soziale Gerechtigkeit zu erreichen, werden alternative Mittel zur Komplexitätsreduktion benötigt. Anstelle eines Programms, welches das System reparieren soll, müssen zunächst die gegenwärtigen Mittel zur Komplexitätsreduktion einschließlich seiner fragwürdigen Kriterien in ihrer Wirkmächtigkeit ausgesetzt und additive Ansätze wie Diversity Management vermieden werden. Um die Entstehung von neuen Strukturen anzuregen, die einem globalen System und sozialer Gerechtigkeit angemessen sind, braucht das System zunächst einmal mehr Komplexität.

5 Dekoloniale Szientometrie

Um Szientometrie mit dekolonialer Sensibilität und kultureller Demut zu versehen, sind Kenntnisse über den spezifischen Kontext erforderlich, in dem wissenschaftliche Kommunikation stattfindet. Darüber hinaus kann sie sich nicht auf eine bestimmte Datenquelle beschränken, wenn ihre Erkenntnisse über die Beschreibung dieser Datenquelle hinausgehen sollen. Quellen müssen auf ihre Inklusionskriterien und -beschränkungen explizit untersucht werden. Da das Kombinieren verschiedener Quellen viele manuelle Schritte erfordert, sind Stichproben dann – abhängig von den Kapazitäten des szientometrischen Projekts – notwendigerweise klein. Eine Datenerfassung, die auf individuellen Publikationslisten und institutionellen Forschungsinformationen basiert, kann dabei helfen, Veröffentlichungen aufzuspüren, die nicht in bibliographischen Datenbanken gelistet sind.

Die drei wichtigsten Ergebnisse der dekolonialen szientometrischen Studien der Dissertation können wie folgt zusammengefasst werden: Erstens sind lokale südostafrikanische Zeitschriften in Bezug auf ihre Autorïnnenschaft oft sehr international. Zweitens wird die südostafrikanische sozial- und geisteswissenschaftliche Literatur, die im Globalen Süden publiziert wurde, durchaus im Globaler Norden wahrgenommen – zumindest lassen in Google Scholar verzeichnete Zitationen dies vermuten. Drittens verliert die Beobachtung aus früheren Studien, dass Forschende aus dem Globaler Süden eher Forschung aus dem Globalen Norden zitieren, tendenziell ihre Überzeugungskraft, wenn die Datenbasis auf lokale Zeitschriften erweitert wird – zumindest gilt dies für die kleine Fallstudie, in der ich die Institutionszugehörigkeit derjenigen untersuchte, die Arbeiten mauritischer Autorïnnen zitieren.

Wenn sich südostafrikanische Autorïnnen zunehmend auf Veröffentlichungsorte im Globalen Norden fokussieren, verbessert sich natürlich die Auffindbarkeit und Sichtbarkeit ihrer Werke. Dieser Effekt mag sowohl von den Autorïnnen als auch von ihren Leserïnnen begrüßt werden, hat jedoch seinen Preis: die weitere Erosion der lokalen oder regionalen Publikationsinfrastrukturen, und mit ihr die Erosion der lokalen Eigenarten bei der Qualitätssicherung, Auswahl und Editierung von Publikationen. Wenn südostafrikanische Forschende weiterhin an dieser Arbeit, die für wissenschaftliche Kommunikation von größter Bedeutung ist, teilhaben, werden sie dies zunehmend unter Bedingungen tun, die vollständig im Globalen Norden definiert werden.

Die szientometrischen Untersuchungen in der Dissertation zeigen außerdem, wie unzureichend die von Bibliotheken zur Verfügung gestellten Suchinstrumente sind, wenn der Anspruch lautet, globale Forschung wenigstens repräsentativ auffindbar zu machen. Während Bibliotheken und die Unternehmen, von denen sie gewöhnlich Informationsdienstleistungen beziehen, auf standardisierte bibliografische Metadatenformate bestehen, um ihre Indizes zu befüllen, ist der völlig andere Webcrawl-Ansatz von Google zumindest in Bezug auf die Abdeckung weit überlegen, auch im Hinblick auf Literatur, die in lokalen Zeitschriften im Globalen Süden erscheint. Dennoch ist es höchst problematisch, Forschenden deshalb Google Scholar (Gs) für die Literaturrecherche zu empfehlen. Die Inklusionskriterien sind rein formal und technisch, und es gibt keine Möglichkeit, die Inklusion bestimmter Datensätze zu beantragen. Niemand ist für die Plattform Ansprechpartnerïn, weshalb auch die Frage nach der Verantwortung kritisch ist. Gs wird von einem Unternehmen betrieben, dessen Kerngeschäft auf Werbung und der Erfassung von Benutzerïnnendaten basiert. Es ist anzunehmen, dass die Hauptmotivation von Google, das kostenlos verwendbare Produkt anzubieten, nicht darin besteht, den Informationsbedarf von Forschenden zu decken. Aus diesen Gründen ist es nicht nachhaltig, sich auf Gs zu verlassen, auch wenn der Webcrawl-Ansatz gegenüber der kontrollierten Inklusion grundsätzlich eine Erhöhung der Komplexität zur Folge hat, was ja im Rahmen dieser Argumentation ein positiver Effekt wäre. Während es für das Wissenschaftssystem immer ein Risiko darstellt, wesentliche Infrastrukturen von wirtschaftlichen Interessen abhängig zu machen, potenziert sich das Risiko im Falle von Gs dadurch, dass die Bereitstellung von wissenschaftlicher Information nur ein winziges Nischenprojekt für das Unternehmen darstellt, das, wie bereits so viele Sparten von Google, auch plötzlich eingestellt werden könnte.

6 Dekolonialisierung von Beständen wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa

Der Bestand einer Bibliothek kann als Dienst verstanden werden, der für die Benutzerïnnen Materialien bereitstellt, welche die Ressourcen ergänzen, die bereits mit Hilfe von Standardsuchwerkzeugen auffindbar und zugänglich sind, wie z. B. mit Hilfe von Gs. Bestände, die sich durch kulturelle Demut auszeichnen, schließen Ressourcen zu Themen ein, von denen bekannt ist, dass sie für die Benutzerïnnen Relevanz haben. Darüber hinaus sollten solche Bestände aber auch Veröffentlichungen von kleinen Verlagen zu diesen Themen beinhalten, selbst wenn dies eine Abweichung von Standardworkflows bei der Auswahl und Beschaffung von Medien erfordert.

In der Literatur diskutierte Methoden zur Bestandsevaluation fokussieren normalerweise darauf, wie gut die Literatur abgedeckt ist, die in den Standard-Datenbanken der jeweiligen Fachbereiche verzeichnet ist, während alles darüber hinaus Gehende in eine undifferenzierte Grauzone verschoben wird. Kulturelle Demut erfordert thematische Offenheit, die durch einen Evaluationssansatz erreicht werden kann, der auf geografischer Verteilung von Verlagen und Institutionszugehörigkeiten von Autorïnnen basiert.

Derzeit wird die intellektuelle Literaturauswahl durch Bibliothekarïnnen immer seltener und ist nur eine ergänzende Methode zu Produkten von Informationsdienstleistungsunternehmen, die eine Vorauswahl treffen und statistisch-algorithmisch den vermeintlichen Bedarf der Benutzerïnnen messen, an dem dann die Akquisition mehr oder weniger automatisiert ausgerichtet wird (demand driven acquisition). Insbesondere kann als Bedarf nur erfasst werden, was bereits durch die Suchwerkzeuge auffindbar ist. Auch wird die Verfügbarkeit von Benutzerïnnendaten dazu verwendet, Bedarfe zu priorisieren – je nach hierarchischer Position der Benutzerïnnen, womit eine Machtkomponente in das System einfließt, die sich leicht verselbstständigen kann, wenn die kritische bibliothekarische Kontrolle des Systems z. B. aus Zeitgründen vernachlässigt wird. Es ist weiters festzustellen, dass Bibliothekstechnologien und Bestände aufgrund der seit Jahrzehnten voranschreitenden Konsolidierung von Informationsdienstleistungsunternehmen zunehmend zu Homogenisierung neigen, insbesondere durch die Lizenzierung von großen Ressourcen-Paketen (big deals) und durch Verträge, die schon vor deren Erscheinen die Lieferung bestimmter Ressourcen anhand vereinbarter inhaltlicher und formaler Kriterien zur Ansicht festlegen (approval plans). In den Produkten dieser Unternehmen spiegeln sich allgegenwärtige soziale Vorurteile, die mit der Verwendung dieser Produkte unkritisch reproduziert werden. Ein wichtiger Grundpfeiler der bibliothekarischen Berufsethik, die Neutralität – ganz gleich, ob sie als passiv den Bedarf bedienend oder als aktive Bereitstellung von diversen, aber nichtsdestotrotz zentralen Materialien verstanden wird, steht nicht im Widerspruch zu den beschriebenen neueren Methoden der Bestandsentwicklung. Eine so verstandene Neutralität wird unter den Bedingungen von Kolonialität ad absurdum geführt.

Um die Reproduktion sozialer Vorurteile in Bibliotheksbeständen anzugehen, während Benutzerïnnen ein notwendig selektiver Zugang zur Grundgesamtheit aller veröffentlichten Literatur ermöglicht wird, sind langwierige und kostspielige Akquisitionsprozesse erforderlich. Es ist ein zirkuläres Argument, wenn dieses Ziel wegen mangelnden Bedarfs der Benutzerïnnen nicht verfolgt wird. Benutzerïnnen können keinen Bedarf an etwas anmelden, das für sie unsichtbar ist. Die von der Bibliothek angebotenen Suchwerkzeuge sollten auch auf periphere Materialien verweisen, um produktive Irritationen zu ermöglichen. Die allgemein positive Konnotation von Neutralität im Kontext des Bibliothekswesens kann nur aufrechterhalten werden, wenn sie als kulturell demütige Neutralität konzipiert ist.

7 Implikationen

Der Charakter der Dissertation ist hauptsächlich argumentativ, und schließt viele Begriffsdiskussionen ein, die durch kleinere empirische Studien gestützt werden. Als Desiderat stelle ich im Anhang eine Liste von Vorschlägen bereit, die als Grundlage für eine professionelle Debatte über die Dekolonialisierung einer wissenschaftlichen Bibliothek dienen kann. Weil ich annehme, dass die Leserïnnen dieser Zusammenfassung besonders an diesen Vorschlägen interessiert sind, stelle ich sie hier unter dem Titel Kulturelle Demut für Bibliothekarïnnen wissenschaftlicher Bibliotheken bereit:

  1. Erkennen und analysieren Sie Ihre eigenen Privilegien, vermeiden Sie deren Nutzung und die Reproduktion von Privilegien in der Gesellschaft.

  2. Praktizieren Sie kulturelle Demut in Bezug auf Personalauswahl, Management und Öffentlichkeitsarbeit in Ihrer Bibliothek, und teilen Sie Ihre Erfahrungen mit dem bibliothekarischen Nachwuchs.

  3. Informieren Sie sich über das wissenschaftliche Publizieren in benachteiligten Kontexten.

  4. Hinterfragen Sie Bedarf als Hauptkriterium für die Bestandsentwicklung.

  5. Unterstützen Sie die Indexierung von peripherer Literatur.

  6. Fordern Sie auch von Informationsdienstleistungsunternehmen und ihren Produkten kulturelle Demut. (Konsortial-)Boykott ist eine Option.

  7. Unterstützen Sie gemeinnützige, nicht-kommerzielle Publikationsinfrastrukturen lokal und global, um die Macht, Standards setzen zu können, von kommerziellen Verlagen auf Forschende und ihre Institutionen zu übertragen.

  8. Unterstützen Sie keine Open-Access-Geschäftsmodelle, bei denen autorïnnenseitig Gebühren anfallen, da diese sozial ungerecht sind und Bibliothekarïnnen ihre Verhandlungsmacht gegenüber kommerziellen Verlagen nehmen.

  9. Öffnen Sie die black box Ihrer Bestände, insbesondere der lizenzierten Inhalte: Evaluieren Sie kritisch nach Veröffentlichungsorten und Autorïnnenherkunft.

  10. Öffnen Sie die black box auch für die Benutzerïnnen: Machen Sie in Ihrem Suchinstrument Felder für Veröffentlichungsorte und Autorïnnenherkunft verfügbar.

  11. Konzipieren Sie das Bestandsmanagement als kollektive Aufgabe neu: Bibliothekarïnnen, Forschende und Studierende sollten kooperieren, um an sozialen Vorurteilen zu rütteln und die Priorisierung von Akquisitionen abzuwägen.

  12. Initiieren Sie Diskussionsgruppen zur Dekolonialisierung des Curriculums, in denen Bibliothekarïnnen, Forschende und Studierende kooperieren, um Kursinhalte und Literaturlisten mit mehr kultureller Demut zu erstellen.

  13. Kooperieren Sie mit Bibliotheken in der Nähe, um gemeinsam umfassende Bestände mit gemeinsamen Suchwerkzeugen bereitzustellen. Lernen Sie von Bibliothekarïnnen, die auf Ressourcen aus dem Globalen Süden spezialisiert sind.

  14. Beenden Sie die Abtrennung der Regionalwissenschaften, indem Sie die entsprechenden Materialien über beschreibende Metadaten in die sozial- und geisteswissenschaftlichen Kerndisziplinen einordnen.

  15. Beschreiben und bewerben Sie Ihre Bestände gegenüber Benutzerïnnen, Geldgebern und der Öffentlichkeit als durch kulturelle Demut geprägte Bestände.

  16. Beenden Sie Debatten innerhalb Ihrer Institution nicht, indem Sie Leitlinien fixieren – Leitlinien sollten immer lebendige Dokumente bleiben.

Literatur

Schmidt, Nora (2020). The privilege to select. global research system, european academic library collections, and decolonisation. PhD Thesis. Lund: Lund University, Faculties of Humanities and Theology, Lund Studies in Arts and Cultural Sciences. DOI: 10.5281/zenodo.4011295


Nora Schmidt, MA, MSc, PhD | Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Wien, Österreich | ORCID: 0000-0002-7105-9515