Die Hochschulausbildung im Bereich des Bibliotheks- und Informationswesens in Russland erlebt derzeit einen Wandel. Dieser Wandel steht im Zusammenhang mit den Veränderungen innerhalb Russlands sowie der außenpolitischen Positionierung Russlands in der sich entwickelnden Wissensgesellschaft.
Der Wandel Russlands zu einer Informationsgesellschaft, die internationale Integration und Globalisierung sowie die Herausbildung der Wissensgesellschaft führen zu einer paradoxen Situation: Russland nimmt heute unter den Nationen der Welt in Bezug auf den allgemeinen Lebensstandard den 89. Platz und gemessen an der Zahl der Milliardäre den 2. Platz ein.
Die Frage ist nun, wie sich auf dieser Grundlage die interne Entwicklung des Landes sowie die Integration in die Weltgemeinschaft vollziehen sollen.
Dabei nähern sich in diesem Punkt offizielle
und gesellschaftliche Positionen maximal an. [->1]
Die Verbesserung der Lebensqualität der meisten Bürger
Russlands bleibt ein bisher ungelöstes Problem. Dies führte
zu einer einzigartigen Situation: Die Sterblichkeit ist so hoch
wie in afrikanischen Ländern, die Geburtenzahl ist so niedrig
wie in Westeuropa.
Es gibt jedoch Reserven: Mit einem Nationalvermögen von 240.000
$ pro Kopf steht Russland auf einer von der Weltbank zusammengestellten
Liste der 20 hochentwickeltsten Staaten der Welt auf Platz 17-18
zusammen mit Finnland. [->2]
Die Situation wird erschwert durch eine zunehmende Verschlechterung des allgemeinen Bildungsniveaus der Bevölkerung. Nach Angaben des Programme for International Student Assessment (PISA) nahm Russland im Jahre 2000 den 27. Platz der 32 untersuchten Länder ein.[->3] 2003 stand Russland schon an 33. Stelle (von 41 Ländern). Dies resultiert in bedeutendem Maß aus dem verminderten Interesse für das Lesen, sowie dem Schwinden der Lesekultur. Erstaunlicherweise erfolgt das bei einem gleichzeitigen Wachstum des Büchermarktes, d.h. der faktischen Verdoppelung der herausgegebenen Titel.
Kulturwissenschaftler und Journalisten sprechen gemeinhin von einer „Verblödung“ der Gesellschaft. Die Erklärung dafür ergibt sich zumeist aus der in Russland gegebenen Geringschätzung bestimmter sozialer Bereiche, zu denen auch die Kultur gehört. Der Wert der Ausgaben der russischen Wirtschaft für den Bereich „Kultur und Kunst“ entspricht etwa 0,7%[->4], wobei dieser Anteil eher noch sinken wird.
Vor diesem Hintergrund gehören die Bibliotheken in Russland nach wie vor zu den demokratischsten und gefragtesten kulturellen Einrichtungen. Von ihnen gibt es in Russland etwa 130.000, mit ca. 1 Millarde Besuchern pro Jahr - das ist das Dreifache aller anderen Kultureinrichtungen zusammen. Allerdings unterscheiden sich die Zugangsmöglichkeiten zu bibliothekarischen Angeboten je nach Region. Der Vergleich der Ausgaben für Bibliotheksdienstleistungen je Einwohner hat gezeigt, dass sich die Zahlen in verschiedenen Regionen Russlands z.T. gravierend unterscheiden. Zum Beispiel wurden in Jakutien im Jahr 2003 180,5 Rubel je Einwohner für Bibliotheksdienstleistungen in öffentlichen Bibliotheken ausgegeben, während es in Moskau 63 Rubel und im Kursker Gebiet 10 Rubel waren.[->5] Zugleich sind größere Bibliotheken nicht in der Lage, in ihren Lesesälen alle Besucher unterzubringen, was Rückschlüsse auf den realen Bedarf nach dem Wissen und der Information zulässt.
Die Nutzerstruktur öffentlicher und wissenschaftlicher Universalbibliotheken hat sich geändert: die Zahl der Lernenden, vor allem der Studierenden, ist gewachsen. Nach der Statistik der Nationalen Russischen Bibliothek (RNB) in Sankt Petersburg waren im Jahr 2004 von den 40.000 neu angemeldeten Lesern ungefähr 29.000 lernende junge Leute - von Schülern über Studierende bis hin zu den Aspiranten. Von 2001 bis 2004 betrug der Anteil der Studierenden an der Gesamtnutzerzahl 70%. Das hat auf der einen Seite mit der zu teueren Lehr- und Wissenschaftsliteratur zu tun. Auf der anderen Seite gab es während der Perestrojka mehrere Hochschulneugründungen, in denen es keine den Bedürfnissen der Lehre entsprechenden Bibliotheken gegeben hat.
Die Veränderungen im Hochschulsystem im Bereich des Bibliotheks- und Informationswesens fielen mit der grundsätzlichen Umgestaltung des Hochschulwesens zusammen. Die Hauptursachen sind aber in den Veränderungen auf der beruflichen Ebene zu suchen.
Ungeachtet aller Schwierigkeiten vollziehen sich heute Umwandlungen, die die Organisation und die Formen der Bibliotheksarbeit betreffen. Einflussfaktoren sind sowohl der Struktur- und Bedürfniswandel der lokalen Benutzer als auch die erweiterten Möglichkeiten zur Befriedigung dieser Informationsbedürfnisse, der Ausbau der zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie die aktive Anwendung der elektronischen Kommunikationstechnologien.
Zurzeit bilden in Russland 26 Hochschulen Personal
für Bibliotheken aus, darunter Staatliche Universitäten
und Fachhochschulen für Kultur. In einigen Regionen der Russischen
Föderation gibt es Außenstellen und Vertretungen der
Hochschulen für Kultur.
Im Jahr 2002 wurden die „Bibliotheksfakultäten“
in „Fakultäten für Bibliotheks- und Informationswesen“
umbenannt und umstrukturiert. Zur selben Zeit erfolgte die Einführung
des neuen Staatlichen Standards für die Fachhochschulausbildung
im Fachbereich „Bibliothek und Information“, die den
früheren Ausbildungsgang „Bibliothekswesen und Bibliographie“
ablöst. Vorgesehen ist, dass das zukünftige Bibliothekspersonal
gleichermaßen im Umgang mit traditionellen und digitalen Informationsressourcen
ausgebildet wird.
Dem jeweiligen konkreten Ausbildungsziel entsprechend sehen die Qualifikationen der Absolventen je nach Schwerpunktausrichtung der Hochschulen folgendermaßen aus:
- Bibliothekar/Bibliograph bzw. Hochschullehrer einer sowohl bibliothekswissenschaft-
lichen wie auch praktischen Ausrichtung- Bibliotheksinformatiker/technischer Administrator mit dem einer sowohl bibliotheks-
wissenschaftlichen wie auch praktischen Ausrichtung und den Schwerpunkten
Informationstechnologien und Informationssysteme- Dokumentar mit dem Tätigkeitsbereich Informations- und Bibliographiewissenschaft
und -praxis- Informationsmanager mit bibliotheksorganisatorischer Ausrichtung
Die Schwerpunkte in der Ausbildung der Studierenden im Fach „Bibliotheks- und Informationswissenschaft“ werden bestimmt durch:
- förderale Komponenten /Inhalte förderalen Charakters
- nationale bzw. regionale hochschulspezifische Komponenten,
- Fachgebiete, die die Studenten selbst wählen können,
- und fakultative Disziplinen.
Obligatorisch für alle Hochschulen ist nur der föderale Bestandteil. Im Übrigen haben die Hochschulen Entscheidungsautonomie bei der Zusammenstellung der Lehrpläne und können selbstständig Kurs- und Fachprogramme ausarbeiten. Dadurch entstehen bei den bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fakultäten der verschiedenen Hochschulen individuelle Lehrpläne, unter Berücksichtigung der regionalen Nachfrage nach Bibliothekspersonal und entsprechend der Forschungsmöglichkeiten der Lehrkräfte.
Die Lehrpläne umfassen folgende Fachgebiete:
- Allgemeine Disziplinen: Fremdsprachen, Geschichte, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Ökonomie, Russische Sprache und Sprachkultur, Körperkultur;
- Berufsunterstützende Disziplinen: Mathematik und angewandte Informatik, Kommunikationswissenschaft, Literaturtheorie und -geschichte, allgemeines Bibliothekswesen, allgemeine Bibliographie, analytisch-synthetische Bearbeitung von Dokumentationseinheiten;
- Spezielle Disziplinen: Bestandsaufbau, Bibliotheksmanagement, bibliothekarische Dienstleistungen, Bibliothekskataloge, materiell-technische Basis einer Bibliothek, bibliographische Tätigkeit einer Bibliothek, ausländische Bibliographien und landeskundliche Bibliographie.
Im Vergleich zum vorherigen „Staatlichen Bildungsstandard der Hochfachschulbildung" (1996) wurde dem Block der allgemeinen Disziplinen noch eine Disziplin hinzugefügt – die Russische Sprache und Sprachkultur. Der Zyklus der berufsunterstützenden Disziplinen wurde durch Mathematik und angewandte Informatik ergänzt. Der Block der speziellen Disziplinen wurde wesentlich erweitert. Das ermöglicht eine flexiblere Vorbereitung des Personals unter Berücksichtigung der spezifischen regionalen Nachfrage.
Von den drei Hochschulen, die Fachkräfte für den Bibliotheks- und Informationsbereich ausbilden, ist die Sankt Petersburger Staatliche Universität für Kunst und Kultur die älteste. Sie wurde bereits 1918 gegründet und ist, gemessen an der Zahl der Studierenden am Fachbereich „Bibliothek und Information“, die größte Einrichtung. In Sankt Petersburg wurde 1967 mit dem Lehrstuhl für wissenschaftliche Information der erste Lehrstuhl für den Fachbereich Information an einer russischen Hochschule für Kultur gegründet.
Zur Zeit werden an der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fakultät der Universität Fachkräfte in drei Programmen ausgebildet – den Direkt-, Abend- und Fernstudienprogrammen. 2005 sind im Direktstudium etwa 100, im Abendstudium 40 und im Fernstudium 85 Studierende eingeschrieben. Obwohl die meisten Bewerber das Direktstudium absolvieren wollen, steigt parallel die Zahl der Bewerber im Bereich Abend- und Fernstudium, weil diese Studiengänge die Verknüpfung des Studiums mit der Berufstätigkeit ermöglichen.
Das Abendstudium sieht die Durchführung des Unterrichts an der Universität in der Regel vier Mal in der Woche nach Arbeitsschluss vor. Die Zahl der Studierenden in diesem Studienprogramm beträgt insgesamt 250. Unter ihnen sind Mitarbeiter/innen der Russischen Nationalbibliothek, der Bibliothek der Russischen Wissenschaftsakademie und öffentlicher städtischer Bibliotheken. Die Studierenden der Abendfakultät bearbeiten für ihre Diplomarbeiten in der Regel Themen, die sich auf ihre Berufspraxis beziehen, was sich positiv auf das Endergebnis auswirkt und zu einer praktischen Relevanz der Resultate führt. Am Ende ihres Studiums wählen die Studierenden ihrem Wunsch entsprechend eine der Spezialisierungen aus, die vom Dekanat vorgeschlagen werden.
Im Bereich Fernstudium besuchen die Studierenden vor Ort Präsenzstunden, legen Vorprüfungen und Prüfungen ab und besuchen 2-3-mal im Studienjahr Vorlesungseinheiten von ca. 40-50 Kalendertagen. In der Zwischenzeit erstellen die Studierenden im Selbststudium Kontrollarbeiten. Durch die geltende Gesetzgebung wird für die Studierenden ein Urlaub mit einer Teilerstattung des Gehaltes oder zusätzlicher Urlaub ohne Gehalt vorgesehen, damit sie an den Sitzungen teilnehmen und Praktika absolvieren, ihre Diplomarbeiten schreiben und verteidigen können. Die beschriebenen Ausbildungsformen erlebten im Laufe der Zeit sowohl Phasen des Aufschwungs wie auch Rückschläge - generell entwickelten sie sich aber stets weiter. Das Fernstudium war immer und bleibt auch jetzt eine der optimalen Formen der Ausbildung für die Studierenden mit besonderen Bedürfnissen – sie sind beruflich orientiert, vorbereitet durch die Praxis und wissen genau, wo sie die gewonnenen Kenntnisse anwenden können.
Zur Zeit studieren im Bereich Fernstudium der Bibliotheks- und Informationsfakultät der Sankt Petersburger Staatlichen Universität 1.217 Studenten, darunter auch die der Außenstellen der Universität in der nordwestlichen Region Russlands. 60 % der Fernstudenten haben einen Fachhochschulabschluss und bereits Erfahrungen bei ihrer Tätigkeit in einer Bibliothek gesammelt. Für das Fernstudium der Bibliotheks- und Informationsfakultät sind drei verschiedene Lehrpläne ausgearbeitet und eingesetzt worden, die diese Grundkenntnisse berücksichtigen. Unter Berücksichtigung dieser Situation werden die Studierenden in verschiedene Gruppen eingeteilt: Allgemeine Mittelschul-, Mittelfachschul- und geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung. Für letztere ist das Studium nach einem individuellen Plan möglich.
Für die Abend- und Fernstudiengänge bieten sich damit derzeit neue Entwicklungsmöglichkeiten: Mitarbeiter von Bibliotheken können hierbei Weiterbildungen absolvieren, ohne dass sie ihre berufliche Tätigkeit unterbrechen müssen und entsprechend ihrer Position weiterhin ihr Gehalt beziehen.
Die aktuellen sozioökonomischen Entwicklungen stärken die Position der Fern- und Abendausbildung und führen zur Notwendigkeit der Entwicklung neuer, flexiblerer und vielfältigerer Ausbildungsformen. Die ungünstige demographische Situation aber wirkt sich langfristig negativ auf die Entwicklung der Studierenden- und Absolventenzahlen an den, nicht nur, bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fakultäten aus. Am stärksten davon betroffen ist das Direktstudium, weil die Anzahl der Absolventen der Mittelschulen, die die Mehrheit der Studierenden des 1. Studienjahres bilden, immer geringer wird. Die Situation im Bereich Abend- und Fernstudium hingegen ändert sich praktisch nicht, weil sich in den letzten Jahren die Tendenz zur Zunahme der Abiturienten in der Altersklasse 25-40 Jahre zeigt. Gerade diese besetzen in erster Linie freie Stellen in Bibliotheken, wobei ein chronischer Personalmangel besteht. Dies erklärt sich vor allem durch das niedrige Gehaltsniveau für bibliothekarische Mitarbeiter. So beträgt das Gehalt in den Staatlichen Bibliotheken 2.000-4.000 Rubel pro Monat. Zum Vergleich: Das Durchschnittsgehalt der Einwohner St. Petersburgs betrug im September 2005 10.000 Rubel pro Monat.
Zu einer Hauptpriorität der staatlichen Bibliothekspolitik wird heute die Förderung einer kontinuierlichen Berufsausbildung für die Mitarbeiter/innen der Bibliotheken gezählt, um über die Vermittlung von neuen Kenntnissen und Fähigkeiten mit den neuen, sich schnell wandelnden und immer wieder steigenden Anforderungen Schritt halten zu können. Die Entwicklung eines allgemeinrussischen Systems der beruflichen Umschulung und Weiterbildung bibliothekarischer Fachkräfte ist im Gange, entsprechend des generellen Modernisierungstrends im Bibliothekswesen mit Unterstützung der Akademie für Umschulung der Berufstätigen auf den Gebieten Kunst, Kultur und Tourismus, der lernmethodischen Zentren in den föderalen Bezirken (Nowosibirsk, Chabarowsk) sowie der regionalen Bibliotheksschulen (Belgorod, Pskow, Krasnodar, der Republik Karelien, Nowosibirsk; Jekaterinburg u.a.).
Die bibliothekarisch-informationelle Hochschulausbildung in Russland erfolgt unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen. Eine positive Antwort auf die Frage, ob die sozio-ökonomischen Veränderungen in Russland und die Folgen des Wandels als ein Fortschritt zu bewerten sind, wird im Wesentlichen von einem erfolgreichem Verlauf der Reorganisierung abhängen.
Literatur:
[zurück->1] Бушуев В. Куда мы движемся // Свободная мысль. 2005. No.2. С.129
[zurück->2] Ливада Ю.А. Исторические рамки «будущего» в общественном мненни // Пути России: существующие ограничения и возможные варианты / под общ. ред. Т.Е.Ворожейкиной. М.: МВШСЭН, 2004. С.158
[zurück->3] Сколько стоит Россия / И.А..Николаев и др.; под общ. ред. И.А.Николаева. М.: ЗАО «Издательство «Экономика», Издательский центр «Елима», 2004. С.397
[zurück->4] ebd. С.387
[zurück->5] www.ifap.ru/library/book028.doc
Natalie Donchenko ist Dekanin am Bereich Fernstudium an der Fakultät für Bibliotheks-und Informationswesen der Sankt-Petersburger Universität für Kultur und Kunst.
Irina Kersum ist Dekanin am Bereich Abendstudium an der Fakultät fur Bibliotheks-und Informationswesen der Sankt-Petersburger Universität für Kultur und Kunst.