Das Setting
Wie können Piraten und Kapitalisten
zusammenarbeiten? Fünfzehn Menschen, die meisten zwischen 25 und 35 Jahre alt und im Auftreten eher lässig als businesslike, wollen es herausfinden. Die Gruppe schart sich mit ihren Laptops um eine Mehrfachsteckdose wie um ein Herdfeuer. Nicht weit entfernt davon versammeln sich Hacker und Journalisten
sowie Profis und Amateure
, um mögliche Verbindungen und Kooperationen zwischen ungleichen Partnern auszuloten.
Doch wer ist hier wer? Der Einladung des Veranstalters Berliner Gazette
sind etwa 50 Künstler, Journalisten, Hacker, Kulturwissenschaftler, Soziologen, Juristen und auch zwei Bibliothekarinnen gefolgt. Viele stammen aus Berlin und Deutschland. Andere kommen aus Spanien, Portugal und Griechenland – den Krisenländern, Weißrussland und Mazedonien – Ländern mit aktueller Zensurerfahrung, sowie Kroatien, wo die Erinnerungen an Nationalismus und Krieg noch frisch sind. Der Horizont ist also weit gespannt, die Hintergründe sind vielfältig. Man spricht Englisch. Alle Anwesenden sind aktiv, ein passives Publikum ist nicht vorgesehen.
Wir sind bei der 13. Jahreskonferenz der Berliner Gazette, eines erfolgreichen Berliner Online-Magazins zu Journalismus, Kunst und Wissenschaft.1 Die Berliner Gazette wurde 1999 von Krystian Woznicki als Feuilleton und experimentelle Plattform im Internet gegründet. Woznicki, Chefredakteurin Magdalena Taube und ihr Team verbinden Online-Journalismus mit Offline-Aktivitäten: Sie organisieren Symposien und Seminare zur Medienkultur und kooperieren dabei mit Partnern wie Kulturinstitutionen, politischen Stiftungen, Schulen und Hochschulen. Jedes Jahr wählt die Berliner Gazette ein Schwerpunktthema.2 Die Complicity-Konferenz vom 7. bis 9. November 2013 bildet den Auftakt für das Jahresthema 2014. Tagungsort ist der SUPERMARKT in Berlin-Wedding.3. Vor wenigen Jahren ratterten in der schmucklosen Betonhalle noch Einkaufswagen zwischen Regalen entlang. Nach der Schließung des Discounters und einer Phase des Leerstandes gründeten Ela Kagel, David Farine und Zsolt Szentirmai im Jahr 2010 den SUPERMARKT neu – als Konferenz- und Workshopzentrum, Café und Coworking Space. Wenn nicht gerade die Berliner Gazette hier tagt, wird er von Berliner Internetaktivisten und jungen Start-Ups genutzt.
Die Atmosphäre während der drei Konferenztage im November 2013 ist entspannt und hoch konzentriert zugleich. Während morgens der geplante Anfangszeitpunkt verstreicht, kommt man bei Kaffee und Croissants schon einmal mit anderen Teilnehmern ins Gespräch. In den Workshops wird dann so leidenschaftlich diskutiert, dass darüber die Pizza kalt wird; doch unaufgeregte Moderatoren behalten die Lage unter Kontrolle. Und da hier schon von Konferenzkultur
die Rede ist: Eine gute Gedächtnisstütze und zugleich ästhetisch reizvoll sind die Graphic Recordings, mit denen eine Do-It-Yourself-Masterklasse des SUPERMARKTs (Leitung: Gabriele Schlipf, momik Berlin) die Workshops live dokumentiert.
Die Aufgabe
Warum heißen wir eigentlich Piraten und Kapitalisten
, und wer ist wer? In der Vorstellungsrunde wird deutlich: Fassen wir unter Piraten
die Aktivisten, die für eine freie Grundstruktur des Internet und für Informationsfreiheit eintreten, dann sind wir fast alle Piraten. Allerdings distanzieren sich einige Teilnehmer entschieden von Formen piratischen
Handelns wie dem illegalen Filesharing in Datenbanken - etwa der Musiker, der es ablehnt, to rip off someone else’s stuff
. Kapitalisten
, da ist sich die Gruppe einig, sind die Global Playerswie Google und Amazon, die durch ihre kommerziellen Interessen die Freiheit im Internet gefährden. Vielleicht nicht überraschend, will sich unter uns kein Kapitalist finden.
Den Workshop moderieren der Hacker-Künstler Nenad Romić´ alias Marcell Mars aus Zagreb und der Berliner Chris Piallat, Redaktionsmitglied der Berliner Gazette sowie Referent für Netzpolitik bei den Grünen.
Marcell Mars’ Eingangsreferat führt uns in das Szenario einer utopischen virtuellen globalen Public Library mit Sitz in Island ein und setzt Impulse für das Rollenspiel der Gruppe: Stellt euch vor, ein ganzes Land agierte piratisch. Stellt euch vor, das kleine Land Island spielte den Vorreiter und würde das gesamte Wissen digital verfügbar machen und eine digitale Bibliothek aufbauen. Welche gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen würden sich daraus ergeben? Dass die traditionelle Institution Bibliothek obsolet sei, setzt dieses Szenario gleichsam voraus: Seit der Digitalisierung sei sie von kommerziellen Interessen bedroht und durch das geltende Copyright geknebelt. Auch könne sie die Ansprüche ihrer Klientel längst nicht mehr erfüllen, die sich deshalb eigene, oft illegale Informationsstrukturen aufbauten.
Diese Idee einer globalen, digitalen Bibliothek setzt schnell Assoziationen frei. Während die Einen fragen, welche konkreten Schritte es zur Umsetzung dieser Utopie braucht, interessieren sich andere für Rechte und Rechtsverluste, verwickeln sich in Urheberrechtsdebatten und kommen dann schnell zur Frage nach alternativen Einkommensquellen für Kulturschaffende. Ein Anliegen bringen Kulturschaffende und Künstler immer wieder eindringlich vor: Wir wollen unsere Werke digital frei zur Verfügung stellen – aber wir wollen auch von unserer Arbeit leben können!
Zwischen Traum und Realität
In dem Szenario der Piraten und Kapitalisten
erscheint die Bibliothek
weniger als konkrete Institution denn als Projektionsfläche für gesellschaftliche Utopien. Die Vision beschreibt mit einer öffentlichen Universalbibliothek einen virtuellen Ort gelebten Austausches, gelebter Demokratie von Gleichen. Wissen und Kultur gehören der Gesellschaft und sind Gemeingut. Eine kommerzielle Ökonomie des Wissens hat hier keinen Platz. Diese digitale Superbibliothek war schon der Traum der Internetpioniere, bevor das Netz zum Shoppingparadies und zur Zerstreuungshölle wurde, der datengetriebene Kapitalismus zum Höhenflug ansetzte.
Kritische Fragen an die Utopie der globalen Bibliothek
Doch nicht alle sind bereit, der Utopie zu folgen, ohne die immerhin noch real existierende Bibliothekswelt unter die Lupe zu nehmen. Als wir uns in kleine Untergruppen aufteilen, um einzelne Probleme zu untersuchen, formiert sich ein gallisches Dorf (Iskra, Simon und Corinna) zur Verteidigung der realen Bibliothek.
Die Kulturvermittlerin Iskra Geshoska aus Skopje, Simon Worthington, der Dreampunk
und Entwickler hybrider Leseformate aus London/Lüneburg und die Bibliothekarin Corinna Haas aus Berlin denken über Libraries and Education
nach. Was machen Bibliotheken eigentlich?
, fragen Iskra und Simon die Autorin gleich zu Beginn. Schnell zeigt sich, dass die beiden, und das dürfte für viele andere Konferenzteilnehmer auch gelten, über die Aufgaben und aktuellen Arbeitsschwerpunkte von Bibliotheken nicht sehr viel wissen: Die zunehmende Anzahl von Digitalisierungsprojekten, die Entwicklung von Standards für die digitale Langzeitverfügbarkeit, Aktivitäten im Bereich Forschungsdatenmanagement, die Unterstützung von Forschungs- und Publikationsprozessen, das Engagement von Bibliotheken im Gebiet Leseförderung und Vermittlung von Informationskompetenz, die Rolle der Bibliothek als gesellschaftlicher Raum und (physischer) Lernort und so weiter. Auch wenn Anspruch und Wirklichkeit von Bibliotheken nicht immer übereinstimmen, wird doch aus den Ausführungen der Bibliothekarin schnell deutlich, dass Bibliotheken mehr leisten, als nur Informationsressourcen bereit zu stellen, wie eine reine Datenbank – sie unterstützen auf der Basis gemeinsamer gesellschaftlicher Werte Lernen, Bildung und Forschung auf vielen Ebenen. (Und die Grenzen zwischen Wissensinstitutionen wie Bibliothek, Schule und Universität sind heute durchlässig geworden.)
Kritische Fragen, die unser gallisches Grüppchen dann unter der Überschrift The Library Protest
dem Plenum stellt, sind etwa: Wollt Ihr wirklich Bibliotheken abschaffen oder für überflüssig erklären? Wer sagt Euch, dass Ihr den Regierungen damit nicht nahe legt, auch gleich die Universitäten zu schließen und durch Online-Vorlesungen zu ersetzen? Und danach die Schulen?
Die Großgruppe der Piraten reagiert ein wenig irritiert auf unsere Präsentation, da wir uns nicht auf die Island-Utopie eingelassen hätten. Vielleicht, um uns wieder ins Boot zu holen, interpretiert dann jemand unsere reale Bibliothek als universal classroom
– und führt sie so in die utopische Sphäre zurück.
Vertraute Thesen
Die Utopisten vertreten derweil vertraute Thesen, stellen Fragen, wie wir Bibliothekarinnen sie aus der frühen Open Access-Bewegung kennen: Wozu braucht es Verlage, wenn wir doch alle selber Verleger sein können? Spielen die Verwertungsgesellschaften nicht eher eine unheilige Rolle? Sind Initiativen wie die Cultural Commons Collecting Society, kurz C3S,4 als Gegenmodell zur Gema ein Vorbild auch für Wortkünstler? Ist das mit dem Urheberrecht verbundene Geldversprechen für Künstler wirklich mehr als ein großes Glücksspiel? Werden hier nicht vor allem die Zwischenhändler, Agenturen, Verlage geschützt? Die Forderung:Cut the middleman!
wird auf Graphic Recordings festgehalten. Am Ende der Diskussion steht auf einem Plakat der Ausspruch: Nicht jeder Künstler kann Lady Gaga sein. Nicht jeder wird mit seinem Werk Millionen verdienen können. Urheberrecht hin, Urheberrecht her.
Lessons Learned
Wir haben bei der Complicity-Konferenz sehr viel von Journalisten, Kreativen und Programmierern über ihre Probleme mit und ihre Sicht auf das geltende Urheberrecht gelernt. Wir waren beeindruckt von der Energie und dem community spirit unter den Konferenzteilnehmern. Und wir haben uns erzählen lassen, was von Bibliotheken – utopischen und realen – erwartet wird:
1. Die Zukunft der Bibliotheken findet sich in ihrer Vergangenheit. Wenn Bibliotheken sich auf ihre Grundaufgabe, Zugänge zu Information und Bildung zu schaffen, zurück besinnen, haben sie auch im digitalen Zeitalter eine Jahrhundertaufgabe vor sich.
2. Je ungelöster die Urheberrechtsprobleme, desto attraktiver wird piratisches Handeln. Wer hat noch nie einen Musiktitel geteilt oder eine PDF-Datei weiter geschickt? Die Behinderung wissenschaftlicher Arbeit durch rechtliche und finanzielle Hürden wird längst nicht mehr widerstandslos hingenommen. Seht hin, Bibliothekare: Wissenschaftler versorgen sich mit Literatur aus illegalen Datenbanken und packen am Rande von Konferenzen ihre Festplatten aus, um befreite Bücher
auszutauschen. Und Piraten
arbeiten fleißig daran, immer größere illegale Datenbanken aufzubauen.
3. Je sozial akzeptierter piratisches Handeln, desto größer wird der Druck der kritischen Masse
auf den Gesetzgeber. Die Gesetzgebung ist träge und hinkt zwangsläufig gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen regelmäßig hinterher. Doch wie viele illegale Downloads und illegale Digitalisierungen muss es noch geben, damit das Urheberrecht für die Wissenschaften und die lernende Gesellschaft eine zeitgemäße und praktikable Form erhält? Denn selbst wenn man es wollte, könnte man nach den bestehenden Vorgaben kaum beides haben: Absolut urheberrechtskonform handeln und zugleich an der digitalen Kultur und der digitalen Wissenschaft teilhaben.
4. Internetaktivisten und Bibliothekare wissen viel zu wenig voneinander! Vielleicht liegt es am unterschiedlichen professionellen Habitus und der großen Kluft, die Bibliothekare vom intelligenten Leben jenseits der Festanstellung
(Friebe/Lobo 2006) trennt: Jedenfalls wissen Bibliothekare und Internetaktivisten offenbar sehr wenig voneinander. Dabei gleichen sich ihre Ziele auf verblüffende Weise: Beide Gruppen wollen den freien Zugang zur Information! Eine größere Offenheit auf beiden Seiten und sehr viel mehr fachfremder
Austausch wären dienlich. Es gibt dafür Veranstaltungsformate - die Berliner Gazette hat es vorgemacht. Machen wir es nach!
Komplizen
Das theoretische Konzept zu der Veranstaltung Complicity – Komplizenschaft
lieferte die Hamburger Philosophin und Kulturanthropologin Geza Ziemer (Ziemer 2013) am letzten Tag. Mit dem Konzept der complicity
beschreibt sie Formen der Konnektivität und der Kollaboration, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Sie definiert Komplizenschaft als lose Verbindung zwischen Menschen, die sich in der Regel jenseits der Gesetze zu einer Tat verabreden. Es sind zufällige Begegnungen, die Menschen zu Komplizen machen. Komplizen suchen sich nicht, sie finden sich und das oftmals nonverbal (etwa durch mimische Signale). Komplizen verständigen sich, planen, handeln und gehen danach wieder auseinander. Das unterscheidet Komplizenschaften von Netzwerken (in denen man passiv bleiben kann) oder festen kollegialen Strukturen.
Weitere Vorträge stellen gelebte – oder auch konstruierte, denkbare – Komplizenschaften vor. Da berichten unter der Überschrift Hacker und Journalisten
Sebastian Candea, Journalist aus Bukarest und Stefan Mondial, Programmierer aus Deutschland, über das investigative Projekt Offshore Leaks.5 Beispiele einer gelungenen Zusammenarbeit von Amateuren und Profis
im Bereich Musik benennen Mitsuhiro Takemura, Crypton Future Media und Valje Djordjevic, iRights Media Berlin. Eindrucksvoll vermessen sie die Überschneidungen zwischen kommerzieller Musikproduktion, Fankultur und Nutzerkreativität. Zitiert wird dies am Beispiel der Gesangssoftware Hatsune Miku, die sich in Asien zu einem populären Trend entwickelt hat und nun auch Europa erreicht hat. Eine glückliche Verbindung von Kapitalisten und Piraten
findet Michiel de Jong schließlich im Projekt Opentabs, das dazu beitragen soll, ein Wirtschaftssystem ohne Banken zu etablieren.6
Internet- und Medienaktivisten, CopyLeft-Advokaten – die Komplizen der Bibliotheken wissen sehr, sehr gut Bescheid. Sie kennen die Nöte der Bibliotheken, die Tücken des Urheberrechts, die Fallstricke in den Lizenzverträgen mit Wissenschaftsverlagen, die Grenzen der Onleihe und die Hürden auf dem Weg zu einer freien, digitalen Privatkopie. Je radikaler die Komplizen, desto weniger wollen sie die Bibliothek als besseren Coworking Space. Stattdessen sollen die Bibliotheken sich auf ihre alten Werte, die Demokratisierung des Wissens, Zugänglichkeit zu schaffen, auch im digitalen Zeitalter rückbesinnen. Die Öffentliche Bibliothek als Idee hat nicht ausgedient, im Gegenteil gilt es für diese Idee neu zu kämpfen. Das wurde besonders deutlich in Gesprächen mit Intellektuellen aus Ländern, in denen weder politisch noch ökonomisch die Voraussetzungen für den freien Zugang zu Informationen und Bildung und die entsprechenden Institutionen, also Bibliotheken, gegeben sind.
Manche unserer Komplizen fangen schon einmal an und füllen illegale Portale wie Library Genesis,7 oder sie engagieren sich in Kunstprojekten wie memoryoftheworld.org.8 Aber auch unsere gar nicht so fernen Nachbarn in Norwegen machen Nägel mit Köpfen: Die norwegische Nationalbibliothek erklärte im Dezember 2013, den Gesamtbestand norwegischer Literatur digitalisieren und für den norwegischen IP-Bereich frei zugänglich machen zu wollen. Allerdings steht nur Literatur mit Erscheinungsjahr bis 2001 für Leser kostenfrei online zur Verfügung. Dem vorausgegangen war eine Einigung der norwegischen Rechteinhabern und der Bibliothek.9 Mit dieser Initiative rückt das auf der Konferenz leidenschaftlich beschworene Szenario in einem Teil von Europa schon ein wenig näher. So bleibt am Ende die Frage: Mit welchen Komplizen können sich Bibliothekare verbünden, damit die deutsche Bibliothekslandschaft norwegischer
wird?
Literatur
Friebe, Holm ; Lobo, Sascha (2006): Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème, oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München: Heyne
Taube, Magdalena ; Woznicki, Krystian (2014, erscheint demnächst): Komplizen. Wie können Hacker und Journalisten, Piraten und Kapitalisten, Amateure und Profis zusammenarbeiten? Berlin, iRights Media (Ebook)
Ziemer, Gesa (2013): Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität Bielefeld: Transcript
Konferenzwebsite: http://berlinergazette.de/symposium/complicity/↩
Marcell Mars stellt memoryoftheworld z. B. in diesem Podcast vor: http://vimeo.com/60889534↩
Mehr Informationen zur norwegischen Digitalisierungsinitiative: http://www.lesen.net/ebook-news/der-staat-zahlt-norweger-koennen-kommerzielle-ebooks-kostenlos-online-lesen-9430↩