Arne Barths Einstiegsfrage in sein Editorial zur Märzausgabe der Architekturzeitschrift, „Ganz ehrlich: Wann waren Sie eigentlich zum letzten Mal in einer Bibliothek?“, kann er als Redakteur am Ende selbst nicht ganz ernst nehmen, vermutet er doch einen großen Teil seiner Leserschaft im universitären und daher auch im Universitätsbibliotheksmilieu. Siebzig Prozent, so seine Angabe, der Bibliotheksbenutzer betreten Bibliotheken aufgrund „eines Studiums, einer Aus- und Fortbildung oder ihres Berufs“, 30 Prozent aus „Vergnügen“ und Arne Barth schon seit längerem nicht mehr oder bestenfalls als Neubau. Freundlicherweise ist diese Aussage dann eher selbstkritisch gemeint und im Rest des kleinen Textes räumt der Autor wohlwollend mit ein paar landläufigen Bibliotheksklischees auf und stellt schließlich fest:
“Bibliotheksbauten boomen derzeit regelrecht; viele veraltete Einrichtungen werden durch zeitgemäße und dem aktuellen Bedarf entsprechende Bauten ersetzt oder ergänzt.“
Nun ja, in die Falle der verzerrten Wahrnehmung bezüglich eines Bibliotheksbaubooms bin ich selbst schon einmal im Editorial – und zwar der ersten LIBREAS- Ausgabe – getapst. Blättert man nämlich tatsächlich einmal unvoreingenommen durch die Jahrgänge der Fahrzeitschriften, sowohl der bibliothekarischen wie auch der architektonischen, stellt man fest, dass eigentlich seit 100+ Jahren permanent Bibliotheken neu entstehen[Fn1]. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn schließlich „veralten“ die Einrichtungen ja zwangsläufig alle 20 bis 30 Jahre und zwar traditionell dadurch, dass sie für die Bestände zu klein werden.
Die Frage zielt also nicht in Richtung des „Booms“, d. h. der Quantität der neuen Bauten, sondern in Richtung des „Zeitgemäßen“ und des „aktuellen Bedarfs“: Wie muss eine Bibliothek, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts geplant und gebaut wird, beschaffen sein, um die nächsten drei Jahrzehnte aktuell und nutzbar zu sein? Entsprechend ist es spannender auf die Trends und Einflussfaktoren zu schauen und die sind – postmodern pluralistisch, wie die Welt sich nun mal heute darstellt – ziemlich vielfältig. Es gibt nicht mehr die Stadtbibliothek, es gibt nicht mehr die Universitätsbibliothek, es gibt jedoch seit zwei Dekaden die Digitale Bibliothek.
Ursula Kleefisch-Jobst führt in ihrem kurzen Einführungstext ein paar dieser Entwicklungslinien aus, darunter am beliebten Beispiel des Cottbusser IKMZ den möglichen Grund, warum Bibliotheksneubauten seit einigen Jahren eine stärkere breitenwirksame Aufmerksamkeit erfahren: die Architektur von Cottbus bis Alexandria, von Seattle bis Minsk wirkt „postfunktional“, sie wird dort – wo der Bauheer mitspielt und eine entsprechende „Leuchtturmarchitektur“ wünscht und finanziert – zum ästhetischen Mehrwert, gern auch mit Wahrzeichencharakter. Auch das ist keine neue Entwicklung – man denke nur an das Gebäude der durch Scharoun konzipierten Staatsbibliothek – am Beispiel Cottbus und den vielfältigen Interpretationen wurde jedoch sehr deutlich, dass die „Geste“, die das Gebäude darstellt auch in Hinblick auf die mediale Aufmerksamkeit von „archithese“ bis zur „Bild-Zeitung“ spekulieren konnte. Das ist insofern am Ende sogar etwas sehr schönes für das Bibliothekswesen, gelingt es so doch wenigstens punktuell mit einer ästhetischen Öffentlichkeitsarbeit. Dass aus den schaulustigen Architekturtouristen im IKMZ, Calatravas Rechtsbibliothek in Zürich oder auch im Foster- Brain der Freien Universität Berlin auch dauerhafte Bibliotheksnutzer werden, bleibt am Ende allerdings offen.
In ihrem Kielwasser werden meist weniger durch ihre Form als durch ihre funktionale Idee glänzende kleinere Projekte wie die schöne Doktorandenbibliothek der Universität Lausanne, die weiße Biblioteca Municipal de Alvito oder der rosè-farbene Diskus der San Sisto Bibliothek in Perugia ab und an ebenfalls in den Architekturmagazinen berücksichtigt. Es dominieren aber in der Regel die großen, eindrucksvollen Bauten der großen, das Spektakuläre versprechenden Namen der Architekten und so tauchen die üblichen Verdächtigen Sir Norman Fostar, Herzog & DeMeuron, OMA und Santiago Calatrava natürlich in leichter Permutation in all den Architekturzeitschriften von „A10“ bis „werk“, „bauen und wohnen“ auf. Und so ein bisschen ist das natürlich auch in der vorliegenden Sonderausgabe von „Architektur + Wettbewerbe“ der Fall, wobei letztlich aber eine ganz gute Mischung aus medialen Überfliegern wie dem IKMZ in Cottbus, den „Standards“ wie dem Idea Store Whitechapel und nicht ganz so intensiv im Licht der Öffentlichkeit stehenden Projekten, wie z.B. der Bibliothek der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden gelang.
Sowohl geographisch (viermal Deutschland, zweimal Spanien, je einmal Finnland, Großbritannien, Irland, Niederlande, Portugal, USA) wie auch von den Objekttypen (fünf Hochschulbibliotheken, vier Stadtbibliotheken, eine Dokumentationszentrum, ein Archiv, ein Kulturzentrum mit öffentlicher Bibliothek) ist eine große Bandbreite von Einrichtungen vorgestellt. Dass dabei nicht zwangsläufig die verschiedenen Bibliothekskulturen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Entwicklungen in den jeweiligen Bereichen im Zentrum der Beschreibungen stehen, ist angesichts der Tatsache, dass wir es hier mit einer architektonischen Fachzeitschrift zu tun haben, zu erwarten.
Entsprechend beziehen sich die durchweg leider sehr knappen und manchmal eher zu kurzen Texte auf die grobe Gebäudebeschreibung, wobei die Brücke zur Funktion bestenfalls am Rand geschlagen wird. Interessanter als die Kurzbeschreibungen, die man zumeist so ähnlich auch schon an anderer Stelle lesen konnte, sind sicher für den Außenstehenden die Wettbewerbsdokumentationen, in denen die Wettbewerbsaufgaben und die Preisgerichtsbeurteilungen zur Erweiterung und Sanierung der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz, zum Neubau der Universitäts- und Landesbibliothek in Darmstadt und zur neuen Mittelpunktbibliothek in Berlin- Köpenick, zusammengefasst werden.
Insgesamt stellt dieses Themenheft eine nette, knappe, nicht repräsentative Dokumentation zu aktuellen Entwicklungen im Bibliotheksbau dar, die allein genommen keine Grundlage für die Beschäftigung mit dem Thema sein kann, sich als Ergänzung oder für einen kurzen Überblick, besonders aufgrund der hier zusammengestellten Fotografien, Schnitte und Grundrisse aber durchaus anbietet.
Einen vertiefenden Eindruck gewinnt man natürlich nur, wenn man zusätzlich Arne Barths Ratschlag beherzigt und sich bei Gelegenheit einmal tatsächlich in eines der Gebäude begibt – idealerweise natürlich in einer Nutzungssituation.
Fußnoten
[Fn 1] Michael Brawne stellt beispielsweise in seinem Buch „Bibliothek – Architektur und Einrichtung“ aus dem Jahr 1970 mehr als zwei Dutzend z. T. sehr beeindruckende Neubauten der 1950er und 1960er Jahre vor. Auch in den 1970ern entstand von der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover oder der Universitätsbibliothek in Bremen bis hin zur – architektonisch nicht gerade zurückhaltenden – John P. Robarts Research Library in Toronto einiges an Neubauten. (zurück)
Ben Kaden studiert Politik, Soziologie und Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit kontext und dem ib.weblog ist er in der deutschen Biblioblogosphäre aktiv.