> > > LIBREAS. Library Ideas # 8/9

Soziale Bibliotheksarbeit: soziale Inklusion und soziale Anerkennung


Zitiervorschlag
Hans Elbeshausen, "Soziale Bibliotheksarbeit: soziale Inklusion und soziale Anerkennung". LIBREAS. Library Ideas, 8/9 ().


Soziale Bibliotheksarbeit – dieser Begriff öffnet ein weites Feld und führt in unwegsames terminologisches Gelände. Eine These oder – besser gesagt – eine Übertreibung könnte die Orientierung in dem Terrain terminologischer Unwegsamkeiten etwas erleichtern:

Wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, die ihr soziales Kapital schneller verbraucht als sie es produziert.

Begründen ließe sich diese These wie folgt:

Erstens: Der amerikanische Politologe Robert Putnam hat 1995 einen Aufsatz mit dem Titel: „Bowling Alone: America's Declining Social Capital“ veröffentlicht und die These vertreten, dass sich die US-Bürger in den letzten 40 Jahren mehr für sich selbst als für ihre Nachbarn und für die sozialen Einrichtungen in ihren Gemeinden interessiert haben. Bedenkliche Konsequenz: Vereinsamung, wachsende Angst und gated communities.

Zweitens: Der Bamberger Soziologe Ulrich Beck stellt in dem Buch „Risikogesellschaft“ fest, dass Gemeinschaftsbindungen zerfallen, und sich die spätmoderne Gesellschaft Individualisierungsprozessen nicht gekannten Ausmaßes gegenübersieht – mit Freiheits- und Wahlmöglichkeiten auf der einen Seite, dem Verfall von gewachsenen sozialen Milieus und Lebensformen auf der anderen – beides birgt Unsicherheits- und Risikomomente in sich.

Drittens: Der Bremer Soziologe Stefan Luft hat 2006 ein Buch zum Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland mit der spektakulären Überschrift „Abschied von Multikulti – Wege aus der Integrationskrise“ vorgelegt. Lufts nicht ganz so spektakuläre Zeitdiagnose zeigt auf, dass sich die deutsche Gesellschaft in den vergangenen 40 Jahren zu einer Parallelgesellschaft gewandelt hat – eine Entwicklung, die keiner wollte, die man aber billigend in Kauf genommen hat, weil, so meine Vermutung, die soziokulturellen Probleme in einer multikulturellen Gesellschaft nicht ernst genommen wurden.

Viertens: Wilhelm Heitmeyer, Professor für Pädagogik an der Universität Bielefeld, hat 1997 eine kritische Bestandsaufnahme moderner und hoch differenzierter Gesellschaften vorgenommen und einen Sammelband unter der Überschrift „Was treibt die Gesellschaft auseinander?“ veröffentlicht. Die soziale Polarisierung – so seine These – habe sowohl national und global zugenommen und zur Desorganisation der Gesellschaft und Desorientierung der Menschen geführt. Konflikte, die sich aus sozialen, ethnischen und kulturellen Unterschieden herleiten, können heute institutionell kaum abgefedert werden und würden auf lange Sicht die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft begünstigen.

Fünftens: Dann ist noch der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Lebenslagen in Deutschland“ zu nennen. Dem Bericht zufolge hat das Armutsrisiko in Deutschland zugenommen und lag im Jahre 2003 bei 13,5 % - ungleich verteilt zwischen Männern und Frauen, Neuen und Alten Ländern, jungen und älteren Mitbürgern. Die Schere zwischen Arm und Reich ist größer, manche sagen, gefährlich groß geworden. 11 Millionen Bürger sind in Deutschland vom Armutsrisiko bedroht.

Diese Beispiele zeigen, dass in spätmodernen Gesellschaften eine wirtschaftliche, soziale und politische Gemengelage entstanden ist, die andere Anforderungen und Erwartungen an soziale Inkorporation, an Sozialarbeit und Soziale Bibliotheksarbeit stellt. Es geht nicht mehr ausschließlich darum, soziale oder kulturelle Randgruppen zu integrieren oder vom sozialen Leben Ausgeschlossene zu unterstützen. Sozialpolitik und Sozialarbeit sehen sich vor neue Aufgaben gestellt. In einer individualisierten und konkurrenzorientierten Gesellschaft, in der wirtschaftliche Verhältnisse kaum langfristig kalkulierbar sind, soziale Beziehungen sich schnell verflüchtigen und die individuelle Planungssicherheit abgenommen hat, muss sowohl die soziale Inklusion gefördert als auch die Autonomie der Menschen gesichert werden.

Gerechtigkeit bei der Verteilung von Lebenschancen und soziale Inklusion auf der einen, Identitätspolitik und gegenseitige soziale Anerkennung auf der anderen Seite machen den Gegenstand einer sozial ausgerichteten Kulturarbeit oder kulturell ausgerichteten Sozialarbeit aus. Stärkung sozialer Verantwortung, Förderung von Gemeinschaftsbindungen und Hilfe in sozialen Konflikt- und Notlagen durch den Aufbau tragfähiger sozialer Netzwerke würden den Aufgabenbereich der sozialen Inklusion umfassen.
Eine selbstständige, widerstandsfähige und selbstverständliche Identität entwickeln und behaupten zu können, stellt einen zweiten umfassenden Komplex dar. Identitätsarbeit geschieht nach dem Konzept der wechselseitigen sozialen Anerkennung. Der Sozialphilosoph Axel Honneth[
Fn1] stellt drei Bereiche der Anerkennung mit ihren jeweiligen Organisationsformen heraus: die emotionale Anerkennung, die rechtliche Anerkennung und die soziale Wertschätzung.

Die Sicherung des sozialen Kerns der Gesellschaft und die Förderung von Identitäts- und Anerkennungsprojekten wären für mich der Punkt, an dem Sozialarbeit und Bibliotheksarbeit „verklammert“ werden könnten.

Es bleibt jedoch die Frage, wodurch sich Soziale Bibliotheksarbeit von Sozialarbeit unterscheidet. Vielleicht wäre es hilfreich, zwischen materieller und symbolischer Beziehungs- und Lebensgestaltung zu unterscheiden. Hilfe bei der materiellen Lebensgestaltung wäre eine Aufgabe der Sozial-, nicht der Kulturarbeit. Einen kompetenten Begleiter auf dem Weg in eine fremde Gesellschaft zu haben, in dieser Gesellschaft eine Heimat zu finden[Fn2], ein Gesicht und eine Stimme zu haben, eine individuelle, soziale und kulturelle Identität auszubilden – dies könnten Inhalt und Funktion einer symbolischen, einer kulturorientierten „Bibliothekssozialarbeit“ sein. Hier lägen ein Betätigungsfeld und eine Verpflichtung für öffentliche Bibliotheken, gemeinsam mit anderen kulturellen und sozialen Institutionen partizipatorische Gleichheit und Entfaltung von Subjektivität zu ermöglichen.

An dieser Stelle seien exemplarisch zwei dänische Integrationsprojekte genannt, um die Bandbreite sozial-kultureller Bibliotheksarbeit zu illustrieren.

Das erste ist ein Gemeinschaftsprojekt eines Fußballvereins, eines Jugendfreizeitheims und einer Bibliotheksfiliale in Kopenhagen mit dem Projekttitel „Fair Play“.
Inhaltlich ging es darum, potentiell gewaltbereite Jugendliche im Alter zwischen 10 und 15 Jahren besser in den Sozialraum der Nahgesellschaft einzubinden, die gegenseitige soziale Anerkennung verschiedener ethnischer Gruppen zu fördern und stabilere Ich-Identitäten aufbauen zu helfen. Die örtliche Bibliothek war an drei Tagen in der Woche eine Art Wissenszentrum und Stammtisch, wo man über Fußball gefachsimpelt, wo man Karriere- und Ausbildungsplanung betrieben und über Konflikte in Schule und Elternhaus gesprochen hat – das Personal hat sich außerdem aktiv am Fußballgeschehen beteiligt, indem sie Heimspiele ihrer Jungs besuchte oder selber die Stollen anzog.

Das zweite Projekt ist ein Multimediaangebot für Kinder und Jugendliche in Århus, der zweitgrößten Stadt Dänemarks „Circel Computer Club“, so der Name des Projektes, ist Teil der städtischen Kulturpolitik für Kinder und Jugendliche und wird an Schulen und Bibliotheken durchgeführt. Kinder und Jugendliche eignen sich in Workshop-ähnlichen Veranstaltungen mediale Gestaltungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen an, damit sie ihre Lebensgeschichte, ihre individuellen Erfahrungen und altersspezifischen Bedürfnisse auszudrücken und zu vermitteln lernen. Kreative Fertigkeiten gehen Hand in Hand mit sozialen Faktoren. Sich mitteilen zu können setzt Sprach- und Ausdrucksfähigkeit voraus und ist eine wichtige Voraussetzung für Gemeinschaftsbindungen. Die Bibliotheken übernehmen die Rolle eines „Fazilitators“ und informationellen Beraters.

Soziale Bibliotheksarbeit würde sich anhand der Projekte wie folgt bestimmen lassen:

Die Entfaltung der Gemeinschaft und der Individuen lassen sich nicht voneinander trennen – soziale Anerkennung ist immer auch die Anerkennung des kulturell Fremden und sozial Anderen. Gemeinwesenarbeit darf nicht die Unterordnung des Einzelnen unter die Zwänge sozialer Systeme oder kultureller Traditionen begünstigen.

Funktionale Subjektivität orientiert sich in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften am Modell der Selbstbehauptung und Konkurrenz. Soziale Bibliotheksarbeit wird daher Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln müssen, die die Selbstdurchsetzung des Einzelnen sichern.

Soziale Beziehungen sind nicht rein funktionaler Natur. Ich-Identität funktioniert nach dem Modell wechselseitiger Anerkennung und hat soziale sowie kulturelle Selbstbestimmung zum Ziel.

Soziale Bibliotheksarbeit besteht wie jede Arbeit aus Interaktion und Inhalt. Es stellt sich die Frage, ob der geänderte Inhalt des Sozialen neue Formen der sozialen Interaktion notwendig macht: z.B. Teilnahme an Bürgerforen, Stadtteilarbeit, eine dialogische Beratung oder systematische Wissensvermittlung durch Unterricht.

Soziale Bibliotheksarbeit hat sich mit dem Paradox auseinanderzusetzen, auf der einen Seite Veränderungen für sozial schwache Gruppen initiieren zu wollen, auf der anderen Seite ihre Benutzer, Klienten usw. nicht instrumentalisieren zu dürfen. Grundlage der sozialen Bibliotheksarbeit muss Selbständigkeit und Selbstbestimmung sein: „für und mit dem Benutzer“ könnte ihr Motto sein.

Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass soziale Bibliotheksarbeit – verstanden als soziale Inklusion und die Förderung gegenseitiger sozialer Anerkennung – aus folgenden Aufgabenbereichen bestehen könnte:

  • Begrenzung sozialer Ungerechtigkeit in konkurrenzorientierten Gesellschaften,
  • Sicherung und Ausbau tragfähiger sozialer und kultureller Netzwerke,
  • Förderung des Vertrauens in und Stärkung der gemeinsamen Verantwortung für die Normen und Werte sozialer Gemeinschaften,
  • Förderung der Selbstverantwortung, Selbstentfaltung und Selbstbehauptung der Einzelnen in der Gesellschaft,
  • Verbesserung partizipatorischer Gleichheit und Entfaltung von selbstbestimmter Individualität.

Literatur

Beck, Ulrich (1986) Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Bundesminister Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bericht April 2005 elektronische Ausgabe: www.bmas.bund.de/BMAS/Redaktion/Pdf/Lebenslagen-in-Deutschland...de

Cappai, Gabriele (2005) Im migratorischen Dreieck. Eine empirische Untersuchung über Migrantenorganisationen und ihre Stellung zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Stuttgart: Lucius & Lucius

Fraser, Nancy und Honneth, Axel (2003) Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt/Main: Suhrkamp

Glick-Schiller, Nina u. a. (2006) Jenseits der „ethnischen Gruppe“ als Objekt des Wissens: Lokalität, Globalität und Inkorparationsmuster von Migranten. In: Berking, Helmuth (Hrsg.): Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen. Frankfurt/New York: Campus-Verlag

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (1997) Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt/Main: Suhrkamp

Honneth, Axel (1992) Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte Frankfurt/Main: Suhrkamp

Luft, Stefan (2006) Abschied von Mulitkulti. Wege aus der Integrationskrise. Gräfelfing: Resch

Meueler, Erhard (1993) Die Türen des Käfigs. Wege zum Subjekt in der Erwachsenenbildung. Stuttgart: Klett-Cotta

Putnam, Robert (1995) Bowling Alone. America’s Declining Social Capital. In: Journal of Democracy; Vol. 6 (1995) 1

Fußnoten

[Fn 1] Honneth 1992; Fraser/Honneth 2003 (zurück)

[Fn 2] Glick-Schiller 2006 (zurück)

Hans Elbeshausen lehrt an der Royal School of Library and Information Science in Kopenhagen im Fachbereich Library and Information Management. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Bibliotheksservice für Ethnische Minderheiten; Integration, Identität und Soziales Kapital; Kommunikationstheorie, Bibliotheksgeschichte, Bibliothekskonzepte.