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Stadtbibliothek – Mediathek in Reims. Zwei Seiten einer Medaille


Zitiervorschlag
Elisabeth Simon, "Stadtbibliothek – Mediathek in Reims. Zwei Seiten einer Medaille". LIBREAS. Library Ideas, 8/9 ().


Kennen Sie die Stadt Reims in der Champagne? Ein wunderbarer Landesteil im Norden Frankreichs, berühmt durch den Vin de Champagne, den wir als Champagner kennen und doch nicht nur ein historischer Ort mit Symbolik französischer Geschichte, sondern auch der unseligen kriegerischen Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich während der beiden Weltkriege. In Reims sollte der französische König (Charles der VIII.) einziehen, nachdem Johanna von Orleans den Sieg über die Engländer für ihren König errungen hat, deshalb nennt sich die Kathedrale in Reims heute Friedenskirche. Die Kathedrale von Reims gehört nicht nur zu dem Weltkulturerbe der UNESCO, sie ist eines der schönsten Baudenkmäler Europas und eng verbunden mit den französischen Königen, die hier gesalbt und damit für ihr dynastisches Amt geheiligt waren. Die Kirche wurde im Ersten Weltkrieg zerstört und danach mit Hilfe von Spenden vorwiegend aus den Vereinigten Staaten wieder aufgebaut. Aber nicht nur die Kathedrale weist auf eine vielfältige Vergangenheit hin – in Reims ist auch ein romanischer Kirchenbau, den man dem Frankenkönig Clodwig weihte, der sich mit seinem gesamten Gefolge an dieser Stelle taufen ließ. Dies hatte tiefgreifende Folgen für die Entwicklung Europas zum so genannten „christlichen Abendland“.

Reims ist eine historische Stadt mit wunderschönen Baudenkmälern, berühmt für seine Art Déco-Architektur und in einer weinseligen Gegend gelegen – also ein idealer Ort für Touristen. Tourismus kann das kommunale Leben sehr beeinflussen, sei es, dass nur bestimmte kulturelle Monumente und Veranstaltungen gefördert werden, weil sie wiederum den Tourismus fördern, sei es, dass man in dem Ausbau aller touristischen Attraktionen das beste Mittel für die ökonomische Sicherung der Kommune sieht. Dabei können jedoch gerade solche Überlegungen das kommunale Leben und den Zusammenhalt einer Stadt beeinträchtigen. Es lassen sich Beispiele dafür finden, wie sehr die Stadtgesellschaft an Bedeutung verliert, wenn Stadt und Landschaften gleichsam vorwiegend zur Kulisse eines für die Touristen aufgeführten Spektakels werden.

Wie lebt nun eine Kommune wie Reims? Ist es nur eine Touristenstadt mit Baudenkmälern? Ist es für die Einwohner eine reine Wohnstadt oder haben sie eine Beziehung zu ihr und ihrer Geschichte, die auch die französische Geschichte ist oder wenden sie sich innerlich gelangweilt ab, wenn die Karawanen der Reisebusse in schönster Touristenmanier klingelnd um die Ecke biegen.

Wir wissen nicht, welche Beziehung die Bewohner von Reims zu ihrer Stadt haben und doch gibt es Hinweise für das Leben dieser Kommune, die uns einige Rückschlüsse erlauben. Reims besitzt beispielsweise eine der schönsten Stadtbibliotheken im westlichen Europa. Sie wurde während der französischen Revolution gegründet, um den Bestand der ehemaligen kirchlichen Einrichtungen in dieser Stadt aufzunehmen, denn die Revolutionäre, deren Kämpfe Spuren hinterlassen haben, die heute noch zu finden sind, haben die Bestände des Adels und der Kirche konfisziert, um sie dem Volk zur Verfügung zu stellen. Manchmal gab es in Frankreich schon vor dieser Zeit Stadtbibliotheken, meist frühe Gründungen von aufgeklärten Wohltätern, aber sehr oft wurden erste Stadtbibliotheken mit dem Zweck gegründet, private Bestände aufzunehmen. So fehlte auch in Reims ein Raum für diese Bestände und noch während des 19. Jahrhunderts war die Bibliothek im Rathaus untergebracht. Im Ersten Weltkrieg, 1917, wurde die Bibliothek von einer Granate getroffen und brannte aus. Glücklicherweise waren 100.000 Bände des wertvollen historischen Bestandes rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden.
Nach dem Krieg hat die Carnegie Stiftung der Stadt Reims 200.000 Dollar (mehr als 3 Millionen Francs nach der Währung dieser Zeit) gestiftet, um eine neue Stadtbibliothek zu errichten. Dieser Bau war ausdrücklich als Infrastrukturmaßnahme für die schwer zerstörte Region gedacht.

Die Bibliothek wurde von Max Sainsaulieu (1870- 1953) im Stile des Art Déco ab 1921 erbaut und 1928 durch den Präsidenten der Republik in Anwesenheit des amerikanischen Botschafters eröffnet. Sie heißt seitdem Bibliothèque Carnegie[Fn1] und ist eine Stadtteilbibliothek der Stadtbibliothek in Reims, bibliothèque municipale de Reims[Fn2]. Die Flaggen beider Staaten und eine Büste des Stifters Carnegie schmücken den Eingangsbereich.

Diese Bibliothek im Jugendstil gehört zu den schönsten Bibliotheksbauten in Europa. Ob sie den Bau der Stadtbibliothek in Prag (1921) beeinflusst hat, oder ob man in der Tschechischen Republik, die im gleichen Jahr das erste Bibliotheksgesetz in Europa erließ, in dieser Epoche zu ähnlichen Lösungen kam, müsste geklärt werden. Auch die Stadtbibliothek in Prag ist ein durch seine Klarheit beeindruckender Bau mit Mosaiken und Glasfenstern und wurde in den letzten Jahren aufwendig restauriert.

Die Stadtbibliothek in Reims ist heute eine historische Spezialbibliothek, die aber seit 1997 in das Programm réseau de lecture publique de la Ville de Reims einbezogen ist. Sie hat konservatorische Aufgaben (missions de conservation du patrimoine écrit) und ist gleichzeitig eine Öffentliche Bibliothek. Das heißt, sie hat den Charakter einer französischen Stadtbibliothek erhalten, die historische und alte Bestände bewahrt, aber gleichzeitig auch einem interessierten, nicht akademisch gebildeten Publikum zur Verfügung stellt.

Im Zuge der Erneuerung des Öffentlichen Bibliothekssystems, die in den 1980er Jahren vom Kulturminister Jack Lang begonnen wurde, hat auch die Stadt Reims ihr Öffentliches Bibliothekssystem modernisiert. Im Jahre 1997 wurde das öffentlichen Bibliothekssystem und die Stadtbibliothek renoviert und um eine Mediathek in einem eigenen Gebäude erweitert[Fn3] : Dokumentation, Information und Freizeit sind die Eckpunkte des nunmehr modernen Programms. Nicht nur in Reims wird daher diese neue Öffentliche Bibliothek Mediathèque genannt. Auch, um zu demonstrieren, dass diese Bibliothek alle technischen Informations- und Kommunikationsmittel für ihre Nutzer zur Informationsbeschaffung einsetzt und zur Verfügung stellen will. Aber die Mediathèque Jean Falala ist nicht nur eine Öffentliche Bibliothek mit dem Angebot moderner Kommunikationsmittel und -möglichkeiten, sondern auch ein Mittelpunkt moderner Kultur mit Ausstellungen, Lesungen und vielen Veranstaltungen, die überall in der Stadt angezeigt sind. Sie ist nicht nur ein Schaufenster, sondern auch ein Mittelpunkt des modernen Reims, unweit der Kathedrale und der Bibliothèque Carnegie und damit ein gutes Zeichen für eine kulturell aufgeschlossene Gemeinde mit großem Interesse an dem kulturellen Leben in der eigenen Stadt.

Neben diesem Zentrum der Médiathèque Jean Falala arbeitet eine Zweigstelle, die Médiathèque Croix Rouge, für die Aus- und Fortbildung[Fn4]. Sie wurde 2003 eröffnet und ist eine Initiative der Stadt, um die Berufschancen der jüngeren Generation zu verbessern. Zu der Bibliothèque municipale de Reims gehören noch vier weitere Stadtteilbibliotheken (bibliothèques des quartiers), drei Bücherbusse sowie die Médiathèque du Conservatoire National de Région de Musique et de Danse und die Bibliothek und Dokumentation des Musée des beaux-arts de Reims.

Das Bibliothekssystem ist also vergleichbar mit einem modernen, auf die Kommune bezogenes, verschiedene Bereiche umfassendes Bibliothekssystem, wie wir es auch in vielen deutschen Städten finden. Es ist erstaunlich, dass die Kommune es nicht dabei bewenden ließ, den Einwohnern ein außerordentlich traditionsreiches Umfeld zu bewahren, sondern gleichsam als zeitgenössische Brücke zu mehreren Bibliotheksgebäuden als öffentliche Orte ein reiches kulturelles Angebot und den Zugang zu Informationen weltweit anzubieten.

Nun ist die Zielsetzung der Öffentlichen Bibliothek als Kulturzentrum nicht neu in Frankreich, das ja mit dem offiziellen Namen la lecture publique wie in anderen Institutionen immer die kulturelle und öffentliche Arbeit als Zielsetzung der Bibliotheksarbeit gesehen hat. Dieses wird vom Neubau der Nationalbibliothek in Paris Tolbiac[Fn5] ebenso verfolgt, die ein Kulturprogramm anbietet und mit diesen Aktivitäten auch in anderen Ländern vertritt. So äußerte sich etwa die Direktorin Rosa Regasder N.B. in Madrid in einem Interview: „Mon aspiration a été de propulser la BNE à la place qui lui revenait en tant que premier centre culturel d’ Espagne“[Fn6].

Es wäre eine Untersuchung wert, inwieweit diese erste aus dem Bürgersinn der Stadt und mit Hilfe eines der größten Stifter des internationalen Bibliothekswesens, Andrew Carnegie, gegründete Bibliothek die Weiterentwicklung des Öffentlichen Bibliothekswesens als Hort der Öffentlichkeit in der Kommune beeinflusst hat. Dies lässt sich schwer nachweisen, aber oft und durch alle Zeiten hindurch haben solche Traditionen bewusst oder unbewusst die Menschen beeinflusst. Das Bibliotheksnetz ist offensichtlich aber ein Grundbaustein des Bürgersinns in einer Stadt, die mit einem 100jährigen Weihnachtsmarkt und einem Fest zu Ehren der Johanna von Orleans in die Region ausstrahlt. In den letzten 20 Jahren wurde gerade im Hinblick auf die Midlands in Großbritannien der Ausdruck a community in despair erfunden – eine verzweifelte Kommune. Solche Kommunen, die wir heute europaweit finden, sind geprägt von sozialen und auch „kulturellen“ Krisen und suchen händeringend nach Lösungsmöglichkeiten.

Reims liegt in der Champagne: Die lukrativen Erwerbszweige „Tourismus“ und „Champagner“ mögen nicht wenig zum ökonomischen Funktionieren der Kommune beigetragen haben. Die Identitätsbildung einer Stadtgemeinschaft setzt jedoch mehr als das voraus. Und hier wirkt die Öffentliche Bibliothek als wichtiger und integraler Bestandteil dieser Kommune. Und zwar in der Verkörperung aller möglichen Schattierungen: in der Überlieferung und Bewahrung des kulturellen Erbes, im Zugang zur modernen Kunst und Kultur und im Angebot für Aus- und Fortbildung.

Fußnoten

[Fn 1]
www.bm-reims.fr/masc25/default.asp?instance=reims (zurück)

[Fn 2]
www.bm-reims.fr (zurück)

[Fn 3]
www.bm-reims.fr/masc25/default.asp?instance=reims (zurück)

[Fn 4]
www.bm-reims.fr/masc25/default.asp?instance=reims (zurück)

[Fn 5]
Bibliothèque nationale de France: programme des manifestations culturelles octobre- decémbre 2006 hrsg. von les amis de la BNF. URL-
www.bnf.fr (zurück)

[Fn 6]
Chronique de la bibliothéque nationale de France Nr. 36 automne 2006.Interview mit Rosa Regas von Matie Noele Darmois. (zurück)


Elisabeth Simon ist Vorsitzende des Förderkreises für West-Ost-Informationstransfer und Mitbegründerin des Verlags BibSpider sowie Lehrbeauftragte am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft.