Die New Economy, deren ökonomische Luftschlösser pünktlich zur Jahrtausendwende in sich zusammenfielen, hat, wie so viele visionäre Ideen, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Im Verkaufsgeschäft heißt dieser Wirt „Kunde“. Es gab aber auch zwei ganz handfeste Gründe, die dem e-kommerziellen Investorentraum vom Goldesel Netconomy entgegenstanden: ein ökonomischer und ein infrastruktureller, wobei die beiden auch noch in fataler Verbindung zueinander standen. Der Weg ins Web war für den Nutzer bzw. Kunden einst nämlich ungleich steiniger als der Fußmarsch in die Fußgängerzone, denn er führte lange Zeit über das nicht selten hassgeliebte Modem, welches den Nutzer eher in Maultiermanier als im Stile eines Araberhengstes über die Datenrennbahn trug. Und mehr als heute im Zeitalter der DSL-Standleitungen bis fast in die kleinste Hütte der Republik bedeutete Online-Zeit gleich Geld.
Wer das Web also als Intensivnutzer durchstreifen wollte, benötigte einerseits mindestens glasfaserkabeldicke Nervenbahnen und andererseits die Möglichkeit (oder die Bereitschaft), mehr Geld in Telekommunikation zu stecken, als man es bis dato gewohnt war, kostete doch 1995 eine Webnutzung von einer Stunde pro Tag im Monat bei T-Online um die 200 DM plus Telefonkosten. Der normale Webgestalter wusste dies und entsprechend – aus heutiger Sicht – spartanisch und übertragungsoptimiert muten die Webangebote dieser Zeit an. Von wegen 12 Megapixel, 50 Kilobyte und kein Bit mehr – so hieß der Richtwert.
Die E-Commerce-Anbieter jedoch schienen die technischen Begrenzungen, denen sich ein Großteil ihrer angepeilten Kundenmasse ausgesetzt sah, zu unterschätzen und gingen mit Bausch und Bogen baden, als das Risikokapital dann eines Tages doch aufgebraucht war. Bis auf wenige Ausnahmen (Amazon etc.) sind die meisten heute erfolgreichen Webgeschäftsmodelle, wie man am Beispiel E-Bay besonders gut sehen kann, erst dadurch möglich geworden, dass Online-Zeit und Geschwindigkeit nicht mehr das Nadelöhr markieren, durch das der Datenstrom muss. Dieses scheint sich ein wenig mehr in Richtung Nutzer bewegt zu haben und liegt nun etwa auf der Höhe „Lebenszeit und Kognition“. Aber auch an diesen Punkten wird eifrig gefeilt, auch wenn sich selbst ein Second Life am Ende irgendwie doch im ersten Leben vollzieht.
So wurden, nach der Argumentation Tom Albys in seinem sehr eingängigen und soliden Buch zum Web 2.0 erst aufgrund des verhältnismäßig günstigen Zugangs dank DSL-Flatrate all die neuen Nutzungsmöglichkeiten des WWW möglich, die nach und nach auch den Mainstream der Webbevölkerung bis zur „Late Majority“(S.11) durchdringen. Und so führt der Autor nach einem einleitenden und sehr aufschlussreichen Umweg durch die jüngere Webgeschichte unweigerlich hinein in die Blogosphäre, das Podcast-Universum, den Social Software-Kosmos und die Folksonomy-Welt, wobei auch die technologischen Grundkomponenten und -prinzipien von Ajax bis Perpetual Beta und eigentlich alles, was man immer schon über das Web 2.0 wissen wollte, aber sich den Kollegen am Schreibtisch nebenan nicht zu fragen traute, anschaulich beschrieben wird. Der erfahrene Web 2.0-Nerd kennt das meiste natürlich schon irgendwie, freut sich aber dennoch, alles einmal so schön in robuster Bindung für den Nachtschrank zu haben.
Und ihm ist selbstverständlich auch schon klar, dass man als normaler Web 2.0-Benutzer, wenn man nicht gerade in der Freizeit YouTube! oder ähnliches zusammenprogrammiert, nach den klassischen Regeln der Ökonomie ein permanentes und widersinniges Zuschussgeschäft betreibt, in dem man Unmengen Zeit, des Öfteren gekoppelt mit etwas Kreativität oder Talent, investiert und gratis Inhalte (bzw. sich selbst) auf den Aufmerksamkeitsmärkten feil bietet. Der Lohn liegt hier ganz sicher nicht im schnöden Mammon. Allerdings: „Wenn man sich […] vor Augen führt, dass sich die Benutzer in Währungen wie Aufmerksamkeit, Bestätigung und Gemeinschaftsgefühl auszahlen lassen und die Betreiber daran echtes Geld verdienen, dann bekommt dieser Aspekt des Web 2.0 einen etwas schalen Beigeschmack.“ (S. 155) Wobei man die Schalheit nicht unbedingt zum Fest machen muss, immerhin bekommt man dafür, dass man nichts zahlt, in der Regel eine schöne Plattform zum eigenen In-Szene-Setzen, also sozialen Entfaltungsraum. Geschröpft muss man sich bislang eigentlich nicht fühlen – das gilt übrigens auch für den sorgsam kalkulierten Preis des Buches, der knapp an der psychologisch wichtigen 20 Euro-Marke vorbeischrammt.
Die sind der Titel in jedem Fall wert und durchweg als Überblickswerk empfehlenswert, wobei Alby etwas mitbringt, was man sich von jedem Fachbuchautoren wünscht (und von manchem leider nur wünschen kann): umfassende Sachkenntnis und die Fähigkeit, diese höchst anschaulich und angenehm lesbar zu transportieren. Ungemein praktisch ist dabei, dass Fachbegriffe wie Folksonomy, Linky Love oder Mashup nicht als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt werden, sondern sich in der knappsten vertretbaren Form in einem angehängten Glossar erläutert finden. Wer zu einzelnen Phänomenen mehr wissen möchte, kann dann immer noch einmal zu Wikipedia wandern. Nicht zwingend notwendig, aber als Second Opinion ganz interessant sind die im Anhang gesammelten Gespräche mit den Glücksrittern und Enthusiasten im Web 2.0, u.a. auch zum Web 3.0. Für dieses sind die Grundtrends bereits recht eindeutig: Noch mehr Individualisierung, noch mehr Simplifizierung, noch mehr Virtualisierung (á la dreidimensionale simulierte Lebenswelt) und „weniger bullshit“ (Johnny Haeusler). Obwohl der letzte Aspekt erfahrungsgemäß eher ins Reich der Wunschträume gehört.
Sicherlich ist die Halbwertszeit von Titeln
wie dem vorliegenden ausgesprochen gering – das Buch selbst
ist so überzeugend verfasst und gestaltet, dass man ihm schon
gut ein Jahr als Standardwerk zugestehen möchte. Die vereinzelt
anzutreffenden Druckfehlerchen schmälern die Güte des
Bandes überhaupt nicht und eifrige Blogleser haben sich dahingehend
ohnehin schon eine dicke Haut der Fehlertoleranz zugelegt. Wer ein
Exemplar erwirbt erhält einen persönlichen Code zur Ausgabe
als eBook. Als eines der ersten gedruckten und gebundenen Handbücher
zum Thema erfüllt „Web 2.0“ die Erwartungen voll
und ganz und schafft es überraschend souverän, nicht als
Anachronismus zu erscheinen, wobei man vermuten kann, dass sich
der Verlag auch sehr bemüht hat, hier ganz schnell das Manuskript
auf die Druckstöcke zu bringen. Gut gemacht.
Ben Kaden studiert Politik, Soziologie und Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.