Vor etwa einem Jahr, am 1. November 2005, traf sich reichlich Prominenz aus der Buchbranche im Rathaus zu Hildesheim zu einer Festveranstaltung anlässlich des 325jährigen Bestehens der Weidmannschen Buchhandlung und dem 60sten Jubiläum des Georg Olms Verlages. Der Verleger ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen, selbst eine kleine Rede zu halten und diese in einem Sonderdruck veröffentlichen zu lassen[Fn1]. Das Thema ist sein Thema, nämlich das Buch und warum es nicht nur kulturelles Erbe, sondern auch die kulturelle Zukunft ist.
Entsprechend fulminant und weitblickend umreißt Olms seine Position, nachdem vor ihm auch schon der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff verkündete, dass man sich in den „nächsten Hunderten von Jahren“ um das Buch nicht sorgen muss.
Die Maxime des W. Georg Olms lautet also: „Wir sind überzeugt, daß sich das Buch auch in den nächsten 500 Jahren bewähren wird.“
Dass solch eine Überzeugung Gründe bedarf, schiebt der Redner auch gleich nach. Und da mich diese Gründe – trotz dem ich um Wert und Schönheit und Bedeutung des Mediums Buch zu wissen glaube – nicht ganz überzeugen, drängt es mich, ein paar Annotationen vorzunehmen.
„1. Die augenschonende Lesbarkeit längerer Texte.
Jeder weiß es bereits aus eigener Erfahrung, und inzwischen haben wissenschaftliche Studien längst bewiesen: Mehr als sechs Seiten hintereinander werden am Bildschirm nicht gelesen. Die Lern- und Merkfähigkeit ist bei der Lektüre am Bildschirm geringer als beim Buch. Der ganze Text ist beim Buch stets ohne technischen Eingriff zur Hand. Er ist handlich, transportabel, überall und ohne weiteres nutzbar, langlebig. Kurzum, das Buch ist instrumental betrachtet überaus praktisch.“
Dem letzten Satz ist weitgehend zuzustimmen, der Rest des Argumentes ist allerdings recht dürftig. In der aktuellen Wissenschaftswelt liest man praktisch selten von einem Text/Aufsatz mehr als 6 Seiten am Stück, sondern sichtet einerseits zunächst einmal nur Titel und Abstract hinsichtlich der möglichen Relevanz für die eigene Forschungsarbeit und wenn man dann etwas Spannendes findet, springt man selektiv durch die Struktur, um sich die notwendigen (unbekannten) Fakten und Aussagen zu extrahieren. Das Instrument der Volltextdurchsuchbarkeit lernt man in diesem Fall sehr zu schätzen. Das man sich die Humboldtschen Lebenserinnerungen nicht als PDF zuführt, steht einigermaßen außer Frage.
Was die Entwicklung anderer Ausgabegeräte (e-ink) angeht, ist wiederum nur eine Frage der technischen Entwicklung, d.h. eine Frage der Zeit. Ich würde mich sehr wundern, wenn sich in dieser Marktnische in den nächsten 500 Jahren nichts erfinden ließe, was der Rezeptionsqualität einer Druckseite entspricht. Und unpraktisch wird das Medium Buch spätestens dann, wenn man einmal mehr als 5 Bücher auf eine Reise mitnehmen möchte, dies besonders, wenn es sich um umfängliche Sammelwerke handelt, aus denen man eigentlich jeweils nur einen Beitrag benötigt. Für die modernen „Job-Nomaden“, wie sie Wissenschaftler häufig sind, ist in diesem Fall das gedruckte Buch eher unpraktischer als der Wechseldatenträger mit Kapazitäten von einigen 10 bis 100tausend Druckseiten.
„2. Die nachgewiesene Langlebigkeit.
Die Dauerhaftigkeit des Buches, wenn man einmal von den Problemen der auf säurehaltigem Papier gedruckten Werke absieht, ist unbestritten. Von den notwendigen Aktivitäten der Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes haben wir gehört und wir wissen, dass auch wir hier gefordert sind. Nachdenkliche Zeitgenossen wie der Generalsekretär der Alexander von Humboldt Stiftung, Manfred Osten, oder der Bibliotheksdirektor Peter Rau weisen schon seit längerem auf folgenden Umstand hin, den skandalös zu nennen wir nicht vermeiden können: Nachdem das in den letzten 150 Jahren in Büchern mit säurehaltigem Papier materialisierte Gedächtnis schon bedenkliche Auflösungserscheinungen zeigt, droht nun dem digitalen Gedächtnis eine wesentlich kürzere Halbwertzeit. Dies führt zu einem „horror digitalis“. Jeder kennt es aus seinen eigenen Erfahrungen im Umgang und Neukauf von Computern: Nach und nach verschwinden bereits jene Geräte, mit denen Daten ursprünglich bearbeitet wurden. Alle verfügbaren Analysen zeigen: Die Digitalisierung kommt die Bibliotheken und damit die Steuerzahler nicht billiger zu stehen, sondern teurer. Die Vision des offenen Zugangs zu wissenschaftlichen Erkenntnissen wird durch die rasante technologische Entwicklung unterlaufen. Das Buch ist eine einmalige Anschaffung. Der Datenwust, mit der nach wie vor ungelösten Frage der Datenarchivierung kostet, kostet, kostet.“
Was Herr Olms in seiner Kalkulation leider nicht bedenkt, sind die Baukosten, die sich aus steigendem Magazinbedarf für erworbene Bücher ergeben. Auch der Betrieb der Bibliothek mit entsprechendem personellem Aufwand und dazu konservatorische Fragen, die im geringsten Fall die entsprechende Klimatisierung betreffen, kosten, kosten, kosten.
Selbstverständlich wirft die Migration von Daten regelmäßig Probleme auf, allerdings befindet sich die technologische Entwicklung im Bezug auf digitale Daten eben noch ziemlich am Anfang, wogegen das Druckmedium Buch 500 Jahre Zeit hatte (und als Medium eigentlich noch länger), um eine gewisse Formstabilität und Standardisierung zu entwickeln. Hier technikpessimistisch aus voller Brust auf einen „horror digitalis“ zu verweisen und subjektive Frustration mit EDV-Geräten zum Maß aller Dinge zu erheben, ist argumentativ eigentlich unhaltbar. Zudem spricht überhaupt nichts dagegen, per DTP ein paar Exemplare der digitalen Dokumente auf säurefreiem Papier auszudrucken und binden zu lassen. Schon ist diese Archivierungshürde genommen.
„3. Eine weitere ‚Qualität des Buches’: sein dokumentarisch unveränderbarer Charakter und die damit verbundenen urheberrechtlichen Schutzmöglichkeiten.
Was schwarz auf weiß gedruckt steht, ist nicht mehr veränderbar. Die Körperlichkeit eines gedruckten Werkes lässt sich nicht verfälschen. Auch Ruhm und finanzielle Ansprüche des Autors beruhen auf ihm. Der unkörperliche digitale Text ist dagegen fast beliebig manipulierbar.“
Olms bringt an dieser Stelle das Beispiel der beliebten
Zielscheibe „Wikipedia“ und zitiert den hanebüchenen
Vergleich von Ex-Britannica-Herausgeber Robert McHenry, für
den die Wikipedia eine Art „Bedürfnisanstalt“ verkörpert.
Hier haben wir wieder das häufige Problem, dass die Wikipedia
in dieser Phase ihres Bestehens völlig zu unrecht und albern
hysterisch als Konkurrenz zu herkömmlichen Lexika angesehen
wurde. Der Reiz der „Sozialen Encyclopädie“ liegt
nun eindeutig in der Selbstentfaltung und in der Erfassung von Gegenständen
und Phänomenen, die es so nicht in den Wissenskanon des Allgemeinen
Lexikons schaffen. Gerade weil man hier nicht den Beschränkungen
des Druckbudgets unterworfen ist, bleibt dieser Entfaltungsraum.
Die Qualitätssicherung ist eine andere Sache, allerdings gilt
auch hier die Anerkennung des „Perpetual Beta“ und das
Vertrauen darauf, dass sich aus der Notwendigkeit entsprechend nachhaltige
Lösungen entwickeln. Andererseits müssen auch die Enzyklopädisten
von Brockhaus bis Britannica einsehen, dass die neuen virtuellen
Kommunikationswelten auch ihren Status Quo nach vielleicht 200 Jahren
ein wenig in Frage stellen. Statt Beschimpfung und Frontenbildung
scheint hier Kreativität und Veränderungswillen eher Erfolg
zu versprechen.
Zur Körperlichkeit kann man auch nochmals getrost darauf hinweisen, dass man zur Absicherung problemfrei ein sauber datiertes Belegexemplar drucken lassen kann. Ansonsten gibt es mittlerweile auch technische Ansätze zur digitalen Markierung von Dokumenten, die der Manipulierbarkeit immerhin die „Beliebigkeit“ nehmen. Mehr noch: Wer eigene Dokumente ins Netz stellt, bemerkt mitunter, dass bei nachträglichen Korrekturen, dennoch irgendwo in einem Cache einer Suchmaschine die Urversion bewahrt wird, worüber nicht jeder immer glücklich ist.
Olms äußert sich weiterhin wunderbar reaktionär und kein wenig sachlich zur anstehenden Weltbeherrschung der Googledominanz und zeigt wenig Vertrauen in die zukünftige Entwicklung von entsprechenden inhaltlichen Erschließungsverfahren:
„Aber das Ganze zu steuern, in sinnvolle Bahnen zu lenken, ist eine Sisyphusarbeit. Und wenn schon heute, wo doch nur ein Bruchteil digitalisiert ist, unter Goethe über fünf Millionen Einträge zu finden sind, kann man sich vorstellen, was es bedeutet, hier Ordnung zu schaffen.“
Eine Möglichkeit wäre z.B. die Vermittlung einer Recherchekompetenz, die mehr als Einwort-Suchen zulässt. Dem Suchunterfangen muss außerdem eine gewisse Sachkompetenz vorausgehen, die das Finden richtiger Fragestellungen und entsprechender Suchanfragen erfahrungsgemäß erleichtert. Auch wer an die klassische Bibliothekstheke tritt und „Alles über Goethe“ verlangt, wird nicht besser dastehen, als der ahnungslose Google-Jünger.
Andererseits müssen wir uns auch wirklich eingestehen, dass bei der existierenden Fülle an Publikationen, sowohl gedruckt wie auch digital, der hehre Anspruch an die Vollständigkeit durch systematisches Erschließen nicht mehr zu leisten ist. Mit Querdenken und dem Erstellen von Relationen zwischen einzelnen Inhalten kommt man vermutlich in diesem Informationspluriversum eher zum Ziel als über das Abarbeiten der „Wissenschaftskunde“. Das klassische Unterfangen des Gesamtkatalogs aus den 1930er Jahren ist ein schönes Beispiel, wie weit man mit der Vorstellung, alles erfassen zu wollen, gelangt. Vollständigkeit erreicht man nur durch extreme Begrenzung (man nennt es manchmal auch Spezialisierung). Dass aber hoch eingegrenztes Denken in komplexen Systemen nicht unbedingt problemadäquat ist, kann man regelmäßig an diversen Beispielen in der Tagespresse verfolgen.
Dass ein Verleger wie Georg Olms angesichts der Open Access-Bewegung nicht gerade zu jubilieren beginnt, ist nachvollziehbar. Andererseits müsste man auch an dieser Stelle ein wenig mehr Differenzierungsvermögen erwarten dürfen. Einen derart undurchdachten Satz wie „Open-Access-Modelle werden mit Steuermitteln finanziert, um Steuerzahler und Arbeitsplätze zu vernichten“ zu zitieren, müsste man sich eigentlich als Open-Access-Gegner zu zitieren zu fein sein. Auch hier kann man nur wiederholen, dass man es mit einer Entwicklung zu tun hat und nicht mit einer manifesten Betonage eines Publikationsprinzips. Es gibt zweifelsfrei Dokumente, die sich für Open-Access nicht anbieten (z.B. Belletristik). Andererseits gibt es gerade in der Wissenschaft keinen vernünftigen Grund, durch künstliche Zugangsschranken den wissenschaftlichen Diskurs, der über die gegenseitige Kenntnisnahme von Problemlösungen und Forschungsergebnissen abläuft, zu sanktionieren. Die von Olms zitierte Skepsis Rafael Balls bezüglich der Qualitätssicherung, „Integrität von Daten“, „Langzeitverfügbarkeit“ und „Finanzierung“ sind alle berechtigt, aber keinesfalls Grund genug, um kein Vertrauen zu haben, dass sich auch hier mit der Zeit akzeptable Antworten finden werden.
Olms viertes Pro-Buch-Argument ist das „haptische oder taktile, das ästhetische oder bibliophile Moment, und wenn man so will, die Seele des Buches“, wobei er zunächst die Hirnforschung im Visier hat. Dort werden „Hirnstörme“ viel zu sehr an die Stelle der „Existenz der Seele“ gesetzt, allerdings ist diese Debatte wirklich etwas zu vielfältig, um sie nonchalant mit einem halben Satz auf die eigene Argumentationslinie zu bügeln.
Dennoch scheint sie dem Referenten notwendig, um die „Seele des Buches“ gegen die „Evangelisten“, die „nur noch an die Geschwindigkeit, mit der Impulse durch elektromagnetische Felder geschickt werden, glauben“ aufzurechnen. Dass es statt einem „Entweder, oder“ auch ein „Sowohl, als auch“, im Verhältnis Mensch und Hirn wie auch bei der Relation Buch und Netz, geben kann, scheint Olms leider nicht im Bereich des Möglichen.
Ansonsten entgleitet ihm schnell sein Seelen-Argument und er eröffnet eine Breitseite auf das Phänomen der Deutschen Universitätsverlage. In den staatlich subventionierten University Presses sieht der Verleger Olms tatsächlich den Untergang des Abendlandes bzw. dessen wissenschaftlicher Buchkultur und fordert stattdessen mehr Wertschätzung für sein eigenes Wirken ein: „Es gilt schließlich, unsere wenigen noch selbstständig wirkenden Wissenschaftsverlage in ihrer Arbeit zu stärken, damit sie den Autoren nach wie vor ein Forum bieten können, das Qualität verspricht. Sonst ist das Buch schon bald tatsächlich nur noch ein Weltkulturerbe, und man ist dem Internet ausgeliefert.“
Was an der Rede wirklich erschreckend ist, ist nicht
das erzkonservative Denken, welches man von dem – nach dem
SIGMA Milieu-Schema so charakterisierten – „Etablierten
Milieu“, zu welchem der Verleger unzweifelhaft gehört,
erwarten muss, gilt für dieses doch:
„Die Angehörigen des Etablierten Milieus sehen sich häufig
als Wahrer kultureller und moralischer Werte und Traditionen. Ihr
nicht selten hoher sozialer Status wie auch ihr Selbstverständnis
als wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite kulminiert in einem
gleichsam ‚natürlichen’ gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Führungsanspruch.“ Vielmehr entsetzt
das offen zur Schau gestellte hochreaktionäre Schwarz-Weiß-Denken,
welches die Möglichkeit einer Koexistenz von gedruckten und
digitalen Medien, von verlegerischen Geschäftsmodellen und
Open-Access, von Lesen und Browsen mit keiner Silbe als Möglichkeit
in Betracht zu ziehen scheint. Dass man gerade dann, wenn man an
den Hebeln der Entwicklung zu sitzen meint, auch die Aufgabe inne
hat, hier kreativ und progressiv lenkend zu handeln, ist ein Bewusstsein,
das man wenigstens in dieser Rede schmerzlich vermisst. Und wenn
der lokale Ministerpräsident Wulff auch noch höflich und
ziemlich oberflächlich in die Kiste der üblichen Phraseologie
greifend, sekundiert, ist dies auch nicht unbedingt ein viel versprechendes
Zeichen. Man wundert sich schon manchmal, ob man mit der Idee des
ergänzenden statt des gegensätzlichen Charakters grundverschiedener
Medienformen tatsächlich schon zu weit in der publizistischen
Postmoderne angelangt ist. Ein Buchtitel des Soziobiologen Edward
O. Wilson lautet „Vom Wert der Vielfalt“. Man kann sich
nur wünschen, dass dieser nicht nur für Ökosysteme,
sondern auch stärker in der Print/Digital-Debatte erkannt wird.
P.S.
Fast zum Schluss seiner Rede unterläuft Olms noch ein Irrtum
ganz anderer Art. Er zitiert nämlich Nicholson Baker über
den Umweg von Paul Ingenday: „…renommierte Häuser
waren dabei, ihre Papierbestände zu digitalisieren und dabei
in Kauf zu nehmen, daß Originalbücher ausgeschlachtet,
zerstört oder verramscht wurden“ und bemerkt dazu erleichtert,
aber irgendwie auch getäuscht: „Wie mir die anwesenden
Bibliothekare bestätigen können, ist dergleichen bei uns
in Deutschland undenkbar.“...
Auch erschienen in BuB - Forum Bibliothek und Information 10/2006. S. 696-698 unter dem Titel "Das Buch – nur ein Weltkulturerbe? / Zur Zukunft der Printmedien aus Sicht eines wissenschaftlichen Verlegers". (zurück)
Ben Kaden studiert Politik, Soziologie und Bibliothekswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.