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„Es gibt nur noch die Digitale Bibliothek...“


Zitiervorschlag
LIBREAS-Redaktion, "„Es gibt nur noch die Digitale Bibliothek...“. ". LIBREAS. Library Ideas, 7 ().


Ein Gespräch mit Prof. Walther Umstätter, frisch emeritierter Direktor des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft.

Walther Umstätter, der das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin seit 1994 maßgeblich prägte, ist seit dem 1. Oktober dieses Jahres emeritiert. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass er sich sofort aus dem Wissenschaftsgeschäft verabschiedet, warten doch noch einige Abschlussarbeiten darauf, von ihm betreut erfolgreich bis zum Abschluss oder bis zur Verteidigung geführt zu werden. Aber was wird die nächsten Jahre im Leben des Walther Umstätter außerdem prägen? Und wie ist die Zäsur, die mit der fast zeitgleich zur Emeritierung erfolgten Berufung von Michael Seadle auf die Professur für „Digitale Bibliotheken“ die vermutlich grundlegendste Strukturveränderung am Institut seit den frühen 1990er Jahren darstellt, einzuordnen?

Dies im Hinterkopf tragend besuchten wir Walther Umstätter in seinem schon beinahe leer geräumten Büro in der Dorotheenstraße 26 und sprachen mit ihm über seine Erinnerungen und Zukunftspläne. Wenigstens für die nähere Zukunft scheint es so, als fände der promovierte Biologe den Weg zurück zu seinen Wurzeln: Draußen in Altlandsberg wartet hinter seinem Haus eine Art weites Feld, das es gärtnerisch zu erschließen gibt. Hinzu kommen die Akutziele „Verreisen“ und „Mehr Zeit mit meiner Frau verbringen“.

Und was ist mit der Bibliothek? Und mit der Bibliothekswissenschaft?

Wie es aussieht, wird sich Walther Umstätter nach beinahe einem Vierteljahrhundert Professorendasein in Köln und Berlin weitgehend aus der Scientific Community zurückziehen.
Und auch an den allgemeinen bibliothekarischen Diskussionen will sich Umstätter wahrscheinlich nicht mehr beteiligen. Die Beobachtung, wie andere Kollegen schnell den Anschluss verloren, als sie die Entwicklungen in ihrem Fach nicht mehr täglich verfolgten, ist ihm eine ernst zu nehmende Warnung: „Schon als ich im Online-Bereich tätig wurde, fiel mir auf, dass man bei der Dynamik der Entwicklung wirklich am Ball bleiben muss. Wenn man nicht mehr direkt dabei ist, wird es schwer. Das merke ich jetzt auch.“ Die Prioritäten liegen also momentan jenseits der Universität und der Wissenschaft. Allerdings bleibt noch ein gutes Konvolut an Abschlussarbeiten und Doktorarbeiten zu betreuen, so dass über diesen Weg wenigstens für die jüngere Zukunft eine gewisse Anbindung an die bibliothekswissenschaftlichen Entwicklungen in Deutschland gewährleistet ist. Und so ganz will man es dem gut gelaunten und durchaus nicht wie ein frisch gebackener Ruheständler wirkenden Emeritus auch nicht abnehmen, dass nun wirklich auf einmal Schluss sein wird mit den bibliothekarischen Belangen.

24 Jahre sind eine lange Zeit und die 12 Jahre seit 1994, die Walther Umstätter als Direktor am Institut tätig war, erwiesen sich als – vorsichtig formuliert – nicht gerade abwechslungsarm, fällt doch die Durchsetzung des Internets von einem Nischenangebot für ambitionierte Technikenthusiasten hin zu einem alle Kommunikationsstrukturen und vieles darüber hinaus umkrempelnden Massenmediums in diese Zeit. Die Konsequenzen für die Bibliotheken, die sich daraus ergeben, sind bis heute kaum abzuschätzen, aber mit Sicherheit gewaltig. Manche meinen, dass sich jetzt das Wirkungsfeld für die Bibliothekswissenschaft erst richtig eröffnet, befinden sich die Bibliotheken doch unter einem Innovationsdruck wie vermutlich niemals zuvor. Dass sich ein derart leidenschaftlicher Verfechter der Digitalen Bibliothek, wie es Walther Umstätter als Professor war, in einem solchen Augenblick so einfach auf das Altlandsberger Gebiet zurückzieht und gärtnert, fällt zu glauben schon sehr schwer. Immerhin war er einer der ersten Onliner in der BRD und damit eine Art Pionier dessen, was heute – wenn auch in anderer Ausformung – als Netzwerk-Paradigma gehandelt wird.

Professor Walther Umstätter

Professor Walther Umstätter im September 2006

Alles begann in den frühen 1970er Jahren mit Patentrecherchen für einen Patentanwalt. Wer damals einen Dokumentar für eine solche Aufgabe beschäftigte, besaß einen wichtigen Wettbewerbsvorteil. So manches Unternehmen ahnte zu dieser Zeit nur wenig von den Vorteilen der systematischen und professionellen Patentdokumentation und stürzte sich aus diesem Grund z. T. in große Probleme. Denn dank der Online-Recherchierbarkeit z.B. von Chemical Abstracts konnte man nun prüfen, welches Patent demnächst ablief und entsprechend an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit tätig werden. Just in time war also schon immer ein entscheidendes ökonomisches Prinzip. Was aus dem Patentanwalt geworden ist, haben wir nicht erfragt, aber Walther Umstätter besaß aufgrund seiner Online-Erfahrung besonders mit medizinischen Datenbanken vielleicht keinen Wettbewerbsvorteil, aber in jedem Fall einen Erfahrungsfortschritt gegenüber den meisten traditionellen Bibliothekaren und Dokumentaren. Insofern war er geradezu prädestiniert für die Übernahme der Leitung der 1975 neu geschaffenen Online-Vermittlungsstelle an der Universitätsbibliothek in Ulm, die ihre progressive Ausrichtung Richard A. Polacsek verdankt, der seit den 1960er Jahren das medizinische Bibliothekswesen in Deutschland entscheidend prägte und später als Leitender Bibliotheksdirektor und Professor of Medical Bibliography an der Johns Hopkins University in Baltimore wirkte. Seine Nachfolgerin Magarete Rehm führte die Polacsek’sche Linie ohne Abstriche fort und es ist sicher davon auszugehen, dass es diese Persönlichkeiten waren, die Walther Umstätters Verständnis der Dokumentation und ihrer Rolle im Bibliothekswesen maßgeblich prägten.

Es war die Dokumentation, in der der promovierte Biologe die Zukunft des wissenschaftlichen Bibliothekswesens sah, wobei sein Verständnis der Dokumentation von dem der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD) mitunter deutlich abwich. Folgerichtig gründete Umstätter mit anderen „Onlinern“ die Online-User-Group und veranstaltete eine jährliche Tagung: „Wir haben sie gegen die DGD gegründet, weil wir merkten, dass es dort ein bisschen verstaubt ist und wir sie modernisieren wollten.“ Daraus ist im Prinzip die Online-Tagung auf der Frankfurter Messe geworden. „Einige Jahre führten wir eigene Tagungen durch, bis uns dann – sofern ich mich richtig erinnere – die Bertelsmann Stiftung entdeckte. Bertelsmann hat eine Messe gemacht, die erstens teuer war und zweitens kaum Publikum anzog. Die Folge war, dass sie mit uns Kontakt aufnahmen. Unsere Tagung im Frühjahr war dann schnell größer als die DGD-Tagung im Herbst. Die DGD fragte uns dann, ob wir nicht im Herbst was zusammen machen wollen.“ Die Zielgruppe der Tagung beschränkte sich zunächst nur auf die User, also diejenigen, die tatsächlich täglich vor den Computern sitzen. „Auf der Tagung merkten wir aber, dass es einerseits die User gibt und andererseits diejenigen, die gut sprechen und präsentieren können. Wenn sie die Leute, die schöne Vorträge halten, nicht einladen, dann kommen die Praktiker nicht. Die typischen Onliner haben leider selten gute Vorträge gehalten oder griffige Analysen gemacht.“

Und man musste die Praktiker erreichen, um die eigenen Vorstellungen von einer modernen Dokumentation vermitteln zu können: Diese vertrat, so Umstätter, im Prinzip nichts weniger als den Anspruch, das Bibliothekswesen zu modernisieren. „Da ihr das nicht gelang und in den bestehenden Strukturen nicht gelingen konnte, hat sie sich – eigentlich gegen die Bibliothek – selbstständig gemacht.“ Heute gebe es genau genommen keine Dokumentation mehr: „Die Dokumentation sollte ein modernes Bibliothekswesen sein, wobei die Trennung
zwischen Dokumentation und Bibliothek in Deutschland viel stärker als in Amerika ausgeprägt ist.“ Heute sind z.B. Bibliographien wieder stark im Kommen, nur in einer anderen und erweiterten Form als in den 1970ern. Da die Trennung zwischen Dokumentations- und Bibliothekswesen heute weitgehend überwunden ist, gibt es die Dokumentation im alten Sinne nicht mehr. „Es gibt nur noch die Digitale Bibliothek.“

In dieser verbinden sich die Prinzipien des Dokumentations- und des Bibliothekswesens: „Im Gegensatz zur klassischen Dokumentation weist sie die Dokumente nicht nur bibliografisch nach, sondern stellt sie auch im Volltext zur Verfügung“ – so formuliert es Walther Umstätter im Lehrbuch der Bibliotheksverwaltung 1997 (S. 13). Und wir ergänzen, dass es analog auch die Bibliothek im alten Sinne nicht mehr geben kann.

Die Bestände, welche (noch) nicht digitalisiert vorliegen, sollen in dieser digitalen Bibliothek dennoch vollautomatisiert zum Nutzer gelangen. Dahinter steht das Konzept einer modernen Freihandbibliothek, wie Umstätter sie nennt. Er hat diesen Ansatz jahrelang verfolgt und fasst das Grundprinzip nun knapp folgendermaßen zusammen: „Sie gehen in die Bibliothek und sagen: 'Ich brauche alles über Computer’ und der Roboter sucht Ihnen dann egal aus welchen Bereichen, und nicht etwa nur der Informatik, alle Bücher heraus und liefert ihnen dann bei Bedarf alle relevanten Titel zum Thema aus dem Bestand.“ Das stellt nicht nur eine effektive Informationsdienstleistung dar, sondern spart zudem Personalkosten, ein weithin propagierter Schlüssel zur Wirtschaftlichkeit. Und Bibliotheken müssten wirtschaftlich arbeiten: „Wenn sie nicht wirtschaftlich sind, dann können sie morgen zu machen.“ Eine „Roboterbibliothek“ hat für Umstätter selbstverständlich Zukunft – was sowohl für öffentliche wie auch für wissenschaftliche Bibliotheken gilt. „Wir diskutieren doch gerade über das Problem der vollautomatischen Bibliothek. Die Sache ist doch die: Wenn Sie die Bestände über automatische Schnittstellen abrufen, brauchen Sie hier auch keinen Mensch mehr in der Bibliothek. Wirtschaftlich sinnvoll wäre es, alle Bücher zu digitalisieren und die alten Bücher weitgehend auszusondern. Dabei muss man ermitteln, was gebraucht wird und dies vorrangig digitalisieren.“ Selbstverständlich muss man auch Originale bewahren, aber das „planlose Verhalten“ einiger Leute, die einen „ganz wichtigen Bestand“ retten wollen, kritisiert Umstätter heftig: „Keiner weiß wofür, keiner weiß warum, aber es muss gerettet werden! Warum sollte man alles zu hohen Kosten aufheben, wenn wir es digitalisiert haben. Es wurde schon immer durch Abschreiben archiviert. Die Bücher, die Sie kennen, die ich kenne, sind alles abgeschriebene Bücher. Sie kriegen im Normalfall nie ein Original in die Hand.“ Die Digitalisierung ist dabei die zeitgemäße Form der Abschrift.

Auf die Frage nach dem Problem der Digitalisierung in Bibliotheken antwortet Walther Umstätter, dass digitale Archivierung gar kein Problem sei, sondern eine Selbstverständlichkeit und es überhaupt nicht diskutiert werden könne, ob digitalisiert werden muss. „Es gibt keine Alternative mehr dazu. Heute sprechen wir von Petabyte, die digitalisiert werden. Auf Papier geht das nicht mehr. Die Amerikaner haben mit SGML ein Format erschaffen, wie man archiviert.“ Auch bei der Problematik von RAK und AACR gäbe es nichts zu diskutieren, „d.h. natürlich kann man es tun, aber entweder sie wissen oder sie wissen nicht, worum es geht und wenn sie es wissen, dann wissen sie, dass es eigentlich keine Alternative gibt.“

Walther Umstätter verweist in diesem Zusammenhang auf seine Zeit in Ulm, die nach eigenen Worten ein „Glücksfall“ gewesen sei, da dort bereits in den 1970ern über diese Dinge diskutiert wurde. Die Universitätsbibliothek Ulm griff bei der Katalogisierung auf das Aufstellungssystem der Library of Congress und der National Library of Medicine (NLM) zurück, was er ausdrücklich als Verdienst Robert A. Polacseks heraushebt, der von vornherein die Ulmer Bibliothek in Hinblick auf einen Datenaustausch mit den amerikanischen Datenbanken ausrichtete. Dabei befindet sich Walther Umstätter auf einer Linie mit Margarete Rehm, die 1977 in einer Würdigung ihres ehemaligen Vorgesetzen schrieb, „Polacseks Stärke liegt weniger in der Detailarbeit als im Erkennen großer Zusammenhänge“ (DFW 25 /1977), Nr. 5. S. 73), wenn er meint, „Polascek war ein taktischer Mensch.“ Margarete Rehm, so erzählt Umstätter, teilte diese Eigenschaft, hatte es als Frau allerdings noch schwerer gehabt. „Sie sagte damals, sie werde als erste Online in die Bibliotheken einführen und wenn das schiefgeht, dann hätte sie schlechte Karten, da Frauen generell den Stempel tragen, dass sie keine Ahnung von Technik hätten. Als wir es dann hatten, schlug es ein wie eine Bombe. Es gab damals Leute, die glaubten, ich hätte die Recherchen gefälscht, weil sie nicht vorstellen konnten, dass 1200 Recherchen im Jahr machbar sind.“

Sich selbst bezeichnet Walther Umstätter nicht als taktischen Menschen. Als Wissenschaftler sei es auch nicht seine Aufgabe, taktisch zu sein. Aus der Wissenschaftsperspektive sei es sinnvoller, direkt zu sagen, was wichtig ist, statt zu taktieren.

Allerdings geht es bei der Umsetzung von Innovation nicht ohne Taktieren und ein gutes Beispiel dafür ist das Vorgehen der Vertreter des Inneren Kreises bei der Einführung von PICA in der BRD: „Man sagte, PICA sei ein europäisches System, welches wir jetzt nach Deutschland holen. Der Trick dabei war, dass sie damit indirekt OCLC nach Deutschland holten. Und dies während Diplom-Bibliothekare stundenlang diskutierten, ob RAK oder AACR besser wäre. Taktisch war das also völlig richtig.“

Die USA bleiben dabei immer der zentrale Hort der Innovation. In Deutschland sieht Walther Umstätter das grundsätzliche Problem, „dass es kaum Leute gibt, die Standards setzen können.“ Aus diesem Grund müsse zumeist auf die amerikanischen Entwicklungen zurückgegriffen werden. Als optimistische – und damit möglicherweise etwas blauäugige – deutsche Bibliothekswissenschaftler möchten wir an dieser Stelle nun nicht in ergebener Zustimmung nicken, denn obschon die bibliothekswissenschaftliche Forschung hierzulande der Vergangenheit (auch anteilig) bei Weitem keine mit amerikanischer Verhältnissen vergleichbare Ausstattung vorfand, heißt das noch nicht, dass es auch in Zukunft so bleiben muss. Und wenn es der Schritt war, in Michael Seadle einen „Amerikaner“ nach Deutschland zu importieren, der hier den Knoten platzen lässt, so ist dies um so mehr zu begrüßen. Was genau passieren wird, ist heute selbstverständlich noch nicht absehbar und ein „Amerikaner“ macht genauso wenig eine hochinnovative Bibliothekswissenschaft wie eine Schwalbe einen tollen Sommer, aber die Schlagzahl am Berliner Institut steigt spürbar an. Wie nachhaltig dies ist und ob die notwendige Vernetzung und fachliche wie personelle Expansion folgen wird, werden wir dann in einigen Jahren an dieser Stelle auswerten. So amüsante, das „Knowledge Gap“ zwischen deutschem und amerikanischem Bibliothekswesen illustrierende Anekdoten wie die folgende, von Walther Umstätter gern erzählte, wird es aber vermutlich auch unabhängig von der Entwicklung in Berlin nicht mehr geben: „Auf einer DGD-Tagung in den 1970er Jahren wurde ich von Teilnehmern mit der Bemerkung angesprochen ‚Aber Sie geben doch zu, dass die Lochkarte noch ihre Bedeutung hat!?’ Was soll man da antworten? ‚Ja, ja sie hat schon ihre Bedeutung, aber wir sind jetzt im Online-Zeitalter?’“

Und ähnliche Verzweiflung angesichts tatsächlicher oder vermuteter mangelnder Innovationsbereitschaft wiederholte sich auch später an der Humboldt und am Institut, wobei Walther Umstätter von den Wegen, die der Prozess der Einsicht nimmt, immer wieder fasziniert ist und sich nicht verwundert zeigt, wenn das, was er vor ein paar Jahren vertrat, irgendwann von einem einstigen Kontrahenten in den fachwissenschaftlichen Diskussionen auf einmal als neue Erkenntnis präsentiert wird: „Irgendwann muss man sich entscheiden, ob es einem um die Sache oder um die Eitelkeit geht. Von Eitelkeit können Sie sich ja nichts kaufen. Natürlich war es so, dass ich viele Dinge vorher wusste als andere. Es war mein Job. Ich war Professor dafür, vorher zu wissen, was andere wissen.“ Und wenn sich dieses Wissen als richtig erwiesen und durchgesetzt hat, dann ist der „Job“ erfüllt. Allerdings ist die Erzeugung von Wissen im Alltag des durchschnittlichen deutschen Professors zugunsten einer hoch redundanten Tätigkeit etwas in den Hintergrund gerückt: Die momentane „Projektmentalität“ erzwingt einerseits eine ständige Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsbürokratie und andererseits eine Selbstbeschneidung des eigenen Innovationswillens: „Im Moment müssen sie eigentlich nur noch Projekte an Land ziehen. Und bei Projekten können Sie nichts machen, was wirklich modern ist. Bei dem Projekt DissertationOnline habe ich beispielsweise gesagt, entweder SGML – XML gab es damals noch nicht – oder wir lassen es. Da hat die DFG eben gemeint, dass wir es lassen. Glücklicherweise haben es Peter Schirmbacher, Norbert Martin und Peter Diephold mit den Fachgesellschaften trotzdem geschafft, das Projekt zu bekommen. Es ist natürlich ein Fehler, dass verschiedene Universitäten bei digitalen Dokumenten auf unterschiedliche Formate setzen: Die einen nehmen WORD, die anderen bevorzugen LATEX oder PDF. Natürlich sollte alles in einem Format sein, idealerweise in XML. Die Humboldt-Universität ist eine der wenigen, die dank Peter Schirmbacher auf das XML-Format setzt.“

Derartige Erfolge sind allerdings eher die Ausnahme als die Regel und zumeist investiert man in die Vorarbeiten zu Projekten viel am Ende vergebene Liebesmüh: „Die meisten Wissenschaftler tun beinahe nichts anderes mehr, als Projektanträge zu schreiben, um von 20 eines zu bekommen. Ich habe, u.a. mit Roland Wagner-Döbler, versucht eine ganze Reihe von Projekten zu beantragen. Das einzige Projekt, welches bisher am Institut gelungen ist, war das Fernstudium. Die Idee wurde schon zu Zeiten von Paul Kaegbein diskutiert und auch Michael Heinz hatte schon vorher Gedanken dazu.“ Das dahinter stehende Prinzip des Distance Learning stellt für Walther Umstätter ein grundlegendes Konzept für eine zeitgemäße wissenschaftliche Ausbildung dar, wobei er dem Selbststudium mehr Effizienz beim Wissenserwerb zuschreibt, als dem Besuch von Vorlesungen. Andererseits ist er ein Anhänger des maieutischen Prinzips, das eines Dialoges bedarf. Entsprechend ist das Institut nicht zuletzt als Schnittpunkt für die Kommunikation im Sinne eines Blended Learning zwischen Lehrenden und Lernenden unabdingbar. Aber wie soll man es nennen?

Im letzten Jahr erfolgte nach langer Unentschlossenheit die Umbenennung in „Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft“, die Walther Umstätter jedoch als um drei Jahrzehnte verspätet bewertet: „1963 wäre der Schritt hochmodern gewesen. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren haben sich alle Institute in Amerika so genannt. Jetzt setzt man hier dieses Wort hinzu, was natürlich Unsinn ist. Wenn man im Jahr 2003 darüber nachdenkt, ob man sich in Informationswissenschaft umbenennen sollte, ist das eigentlich peinlich, wobei die Humboldt-Universität meint, sie sei damit modern und gar nicht merkt, wie anachronistisch sie daher kommt. Für mich ist das eine Tautologie: Bibliotheks- und Informationswissenschaft.“ Er betont, dass er am Berliner Institut gern eine andere Umbenennung durchgesetzt hätte und – jedoch vergeblich – versuchte, eine Umbenennung in Wissenschaftswissenschaft oder Knowledge Management o. ä. anzuregen.

Vielleicht dauert es bis zur nächsten Namensanpassung an das Aufgabenspektrum einer informationslogistischen Versorgung der Wissensgesellschaft dann auch weniger lange, als es dieses Mal der Fall war. Zumal die notwendige Profilschärfung und Diskussion über eine adäquate Verortung der Bibliothekswissenschaft (und Informationswissenschaft) im Wissenschaftssystem des frühen 21. Jahrhunderts noch sehr am Anfang steht.

Wofür man Walther Umstätter in jedem Fall die Zeit und Muße eines jung gebliebenen Emeritus wünscht, ist die Wiederaufnahme eines Unterfangens aus den 1970er Jahren: Damals schrieb er ein Kinderbuch, in dem die Bibliothek, „verpackt in eine Art Kästner-Krimi“ kindgerecht erklärt wurde. In Amerika gab (und gibt) es Bücher dieses Typs in einer größeren Titelvielfalt, in Deutschland fand und findet sich kaum etwas dieser Art. Das Manuskript aus dem Jahr 1977 fand damals keinen Verlag, obschon eine Testgruppe bestehend aus den eigenen Kindern und ihren Freunden das Skript begeistert lasen. Vielleicht war es seiner Zeit einen kleinen Schritt zu weit voraus – jedenfalls ist solches zu vermuten, wenn man diese Ablehnung hört: „Die lustigste Begründung war, dass ich nicht die Preußischen Instruktionen erklärte, aber was Online ist. Das muss eine Bibliothekarin gewesen sein…“

Vielleicht sollte man es 30 Jahre später wirklich noch einmal versuchen. Und eventuell ist auch der verkündete Rückzug aus dem Fachdiskurs nicht von Dauer: „Ach, wenn ich daran denke, was mir meine Frau alles sagt, was ich machen soll, überlege ich, ob ich meinen Job nicht doch verlängern sollte…“