Neun Tage die Millionenstadt Seoul und davon vier Tage den Weltbibliothekskongress der IFLA unter dem Motto „Libraries. Dynamic Engines for the Knowledge and Information Society”[Fn1] dank der Unterstützung von BI-International[Fn2] zu erleben, bringt zwangsläufig Einiges an Berichten, mit denen sich wohl mindestens ein halbes Dutzend langer Winterabende ausfüllen ließe. Wir wollen an dieser Stelle allerdings nicht zu ausufernd in Erinnerungen schwelgen, sondern unsere Eindrücke auszugsweise wiedergeben. Ausführlicher und unmittelbarer lässt sich die Essenz unseres Korea-Erlebens im LIBREAS-Reiseblog[Fn3] nachlesen, den wir in schwülwarmen Nachtstunden am Gästerechner in Kim’s Guesthouse spontan und ungefiltert in die Welt hinaus tippten.
„Die große Hitze, welche sich nach und nach steigerte und einer allzu raschen Tätigkeit Ziel und Maß gab, machte solche Räume angenehm und wünschenswert, wo man seine Zeit nützlich in Ruh' und Kühlung zubringen konnte.“
Was für Goethe während seiner Italienischen Reise in den Auguststunden die Sixtinische Kapelle gewesen ist, war für uns an den schon morgens tropisch schwülen Tagen von Seoul ein fensterloser und dafür vollklimatisierter Mehrzweckraum im COEX Kongresscenter. Dort setzten wir die Texte des Konferenzblattes IFLA-Express über einen mitunter ziemlich breiten Fluss, der die englische von der deutschen Sprache trennt.
Die Musik spielte sicher woanders, in den Hauptsälen und Seminarräumen des COEX, während bei uns das kongressjournalistische Alltagsgeschäft den Ton angab. Das hatte zur Folge, dass wir viel mehr über den Hintergrund der Konferenz erfuhren, als über die bibliothekarischen Trends, Neuentwicklungen, die in den Vorträgen und Workshops, der Postersession und der Firmenausstellung das Konferenzprogramm dominierten. Anderseits kursierte im Vorfeld die Theorie – und wird von unserer Seite in der Rückschau bestätigt – dass Kommunikation, Fach- und auch private Gespräche am Rande mindestens ebenso wertvoll wie die Referate, Projektskizzen und Powerpoint-Slideshows sind.
Der IFLA-Express ist das tägliche Informationsblatt, das konferenzbegleitend in den IFLA-Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und seit der Konferenz in Glasgow 2002 auch in einer deutschen Ausgabe allmorgendlich auf den Informationstresen der Konferenzzentren ausliegt und, so die Beobachtung, die größte Zuwendung seitens der Leserschaft während der weniger spannenden unter den zahlreichen Vorträgen findet. Da die IFLA den Weltkongress in diesem August in Ostasien abhielt, gab es als Ergänzung neben der koreanischen auch eine chinesische Version. Das Procedere ist in etwa jedes Jahr das gleiche: Die verschiedenen Landesteams sitzen jeweils vor ihren Bildschirmen und übersetzen die Texte, die mal en bloc und mal tröpfelnd in Englisch aus dem Headquarter hereingereicht werden und passen die Ergebnisse in eine vorformatierte Druckvorlage ein, wobei sich WORD mitunter als etwas sturer Kamerad in puncto Flexibilität und Layout erweist.
In Seoul entstand die deutsche Ausgabe in einer schmalen
Auflage von 100 Exemplaren und einem ebenso schmalen Umfang von
acht Seiten, wobei der erste Wert durch die Tatsache erklärbar
ist, dass die Zahl der Teilnehmer, die dieser Version den Vorzug
geben, sich etwa in diesem Rahmen bewegt hat. Die acht Seiten sind
natürlich hauptsächlich dem Anspruch an Kürze, Griffigkeit
und Aktualität geschuldet.
An zweiter Stelle steht die Druckkostenproblematik und an dritter
die in diesem Jahr latent spürbare Tatsache, dass sowohl inhaltlich
wie auch vom Erscheinungsbild die Wiederkehr dessen, was in den
vergangenen Jahren den Express bestimmte, 2006 etwas uninspiriert
wirkt. Der IFLA-Express ist wichtig und erfüllt auch in der
Mehrsprachigkeit seinen Zweck, aber selbst wenn die deutsche Ausgabe
meist schon vergriffen war, wenn wir gegen Mittag unsere Schicht
im COEX begannen, hatte man doch den eigenartigen Beigeschmack,
dass hier mehr „herauszuholen“ wäre, als tatsächlich
geschah. Die Diskussion darüber, wie man hier die gewohnten
Pfade bei den zukünftigen Konferenzen ein bisschen „dynamisieren“
kann, ist jedenfalls mittlerweile im Gange und wer nächstes
Jahr nach Durban reist, sollte durchaus einmal darauf achten, was
sich in dieser Hinsicht verändert hat. Wenn Bibliotheken zunehmend
dem Paradigma nach personalisierten (oder zielgruppenspezifischen)
Angeboten folgen, so ist der Schritt zu stärker auf die jeweilige
Sprachgruppe zugeschnittenen Angebote bei der Ausgestaltung der
Konferenzzeitung nahe liegend. Denk- und machbar ist vieles und
wenn die Organisation vor Ort entsprechend modifiziert wird und
man beispielsweise in stärkerem Maße auf die Möglichkeiten
des Web 2.0-Kommunikationskosmos zurückgreift, kann man hier
den IFLA-Express mit mehr informationellen Mehrwert versehen, als
es in den letzten Ausgaben geschah. Allerdings darf man nicht vergessen,
wie komplex die Organisation einer Veranstaltung dieser Größenordnung
ist, und dass der IFLA-Express, obschon für uns im Zentrum,
nur eines der vielen Räder im IFLA-Konferenztrubel bildet.
Einen sehr schönen Nebeneffekt der Arbeit am Express stellt die soziale Komponente dar, die sich aus der interkulturellen Kooperation der internationalen Übersetzergemeinschaft ergibt: Wer eine Woche gemeinsam in einem Raum verbringt, lernt sich zwangsläufig ganz gut kennen und nicht selten halten die dort geknüpften Bande noch eine lange Zeit über die Konferenz hinaus. Auch Hella Klauser (IFLA-Deutschland beim DBV) und Ulrike Lang schauten regelmäßig vorbei und unterstützten uns in vielerlei Hinsicht, v.a. durch einwandfreie Kommunikation auch während stressigerer Stunden. Die unübertreffliche Erdbeertorte „Amelie“ brachte uns allerdings das koreanische Team vorbei und damit zum dahin schmelzen - trotz Klimaanlage.
Koordiniert wurde das Unterfangen IFLA-Express 2006 von Young-Seok Kim, einem Hochschullehrer am Department of Library and Information Science der Myingji University in Seoul, der – was vermutlich typisch ostasiatisch ist – im täglichen Koordinierungsstress hoch konzentriert, professionell und ein bisschen distanziert erschien. Nachdem die Arbeit des IFLA-Express getan war und wir am Hauptstadtfluss Hangang gemeinsam mit seinen Schülern in einer ganz unkomplizierten Plauderrunde beieinander saßen, koreanisches Dosenbier genossen und merkten, dass es zwischen den akademischen Großstädtern dieser Welt so gut wie keine kulturellen Schranken gibt, wurde er in einer Art locker und offenherzig wurde – übrigens auch im Umgang mit seinen Studierenden – für die „herzlich“ so ziemlich genau das treffende Wort ist. Dieser Abend vor der Kulisse der buchstäblichen Big City Lights war vermutlich die schönste menschliche Erfahrung der gesamten Reise, besonders da die sonstigen Begegnungen mit einer südkoreanischen Kultur, in der man, auch wenn man Nase an Nase in der von Kimchi-Aroma schwangeren Luft der überfüllten Rush Hour-Zügen der Seouler U-Bahn steht, keinerlei Anteilnahme am Gegenüber nimmt und sein Umfeld in einer Art und Weise nicht wahrnimmt, die man aus mitteleuropäischen Großstädten so nicht kennt. Vielleicht ist dieses „Ausblenden“ und der sich parallel dazu vollziehende Rückzug in das eigene Unmittelbarsein – bzw. die von uns mit staundenden Augen beobachtete Hingabe zu den mobilen Minifernsehgeräten, die die Koreaner in ihre Handys integriert bei sich tragen – bei dem man so wenig wie möglich auf die Umwelt einwirkt, auch die einzig erfolgreiche Taktik, im Gewühl der 13 bis 20 Millionen Einwohner zählenden Metropole überhaupt koordiniert durch den Tag zu kommen. Man nimmt hier nicht (nur) aus Höflichkeit Rücksicht, sondern weil es nicht anders geht.
Neben dem kulturellen Programm bzw. Social Programme (Opening Session, Minister’s Gala Reception, Cultural Evening, Mayor’s Reception) gab es für uns leider nicht viele Gelegenheiten, die im Kongressrahmen angebotenen Sessions ausgiebig zu besuchen. So sind dann auch mehr „halbe“ als „ganze“ Vorträge auf unserer „We did“- Liste zu finden. Das Caucus-Meeting der deutschsprachigen Teilnehmer am Vorkonferenztag zu besuchen gelang allerdings trotz der noch nicht gänzlich erfolgten persönlichen Abstimmung von antizipiertem Anfahrtszeitaufwand und tatsächlicher Anreisestrecke. Ein Caucus-Meeting kann man sich als Einstimmung auf die Konferenz vorstellen, bei der von Vorkonferenzen und ersten Sitzungen berichtet und auf verschiedene insgesamt oder auch nur für die kleine deutsche Gruppe relevante Aspekte der Konferenz und des Programms selbst hingewiesen wird.
Da wir, wie schon erwähnt, von den Sessions im Einzelnen wenig mitbekamen und vom schon beinahe übermäßigen kulturellen Rahmenprogramm vielleicht die Hälfte, springen wir direkt zum vorletzten Konferenztag.
An diesem bot sich die Gelegenheit, durch Bibliotheksbesichtigungen die tatsächlichen „bibliothekarischen Gegebenheiten“ vor Ort kennenzulernen. So ging es toporganisiert mit Bussen überraschend zielstrebig und schnell durch das Großstadtgewühl, zu den unterschiedlichen Einrichtungen. Die Führungen wurden durchweg von begeisterten wie begeisternden südkoreanischen Bibliothekaren organisiert und realisiert. Auf Besucher- und Gastgeberseite knipsten und klickten die Auslöser der Digitalkameras ohne Unterlass, um sich die internationale Begegnung auf die jeweilige Festplatte zur Erinnerung fest zu speichern. Das Ergebnis ist, dass man kaum Bilder machen kann, auf denen nicht die Hälfte der Gesichter selbst durch Kameras verdeckt ist. Hier hat sich die fotomanische Reisekultur Japans nahtlos auch auf Mittel- und Westeuropäer übertragen. Unsere jeweilig konkreten Ziele waren die Namsan Public Library, die Seongbuk Digital Public Library sowie die University Library der Yonsei University, die allesamt wie erwartet einen überzeugenden Eindruck machten.
Die insgesamt aber verständlicherweise knapp gehaltenen Bibliotheksbesichtigungen haben nur erahnen lassen, welche Veränderungen sich gerade im südkoreanischen Bibliothekswesen vollziehen und so war der Überblick gebende Artikel u. a. von dem oben genannten Young-Seok Kim im IFLA-Journal eine nützliche Ergänzung, die Entwicklungen und die gesellschaftliche Einstellung zu den Bibliotheken kurz zusammenfasst:
„The People of Korea and its government are keenly aware of the strategic role of libraries and information centers in a knowledge-driven society and have been actively investing in them. Harnessing its leading information technologies and helped by the growing size of its economy and financial resources, Korea has stepped up initiatives toward the advancement and growth of libraries especially since 2000. As of the end of 2004, Korea counts a total of 11, 792 libraries (487 public, 438 university libraries, 10, 297 school libraries and 570 special libraries) under its two national-level libraries (the National Library of Korea and the National Assembly Library).“[Fn4]
Zweierlei wird hier deutlich: Bibliotheken werden in der koreanischen Informationsgesellschaft als wichtige Ressource, ja sogar als strategische Einrichtungen für den Erhalt bzw. die Entwicklung dieser Gesellschaft angesehen, weshalb in jüngster Zeit ein reger und forcierter Auf-, Aus- und Neubau von Bibliotheken stattfindet. Schulbibliotheken werden besonders gefördert, weil hier sicherlich das Bildungsideal der gesamten koreanischen Gesellschaft mit dem Konzept des lebenslangen Lernens als Leitidee am Besten greift. Andreas Müller-Lee weist in seinem Artikel über Südkorea auf die Lerngewohnheiten der Koreaner hin: Es wird gelernt – zumindest bei den Jüngeren – bis zum „Umfallen“.[Fn5]
Welchen Stellenwert Kinder und Jugendliche in der koreanischen Gesellschaft haben, wird u.a. an den Zukunftsplänen für die Erweiterung des Bibliotheksnetzes, die auf der Grundlage der IFLA-Richtlinien der „National Library of Korea“ erstellt werden, deutlich: Eine Nationale Kinder- und Jugendbibliothek – „National Library for Children and Young People“ – soll noch in diesem Jahr eröffnet werden, um das Informationsangebot als Zentrum der öffentlichen Kinder- und Jugendbibliotheken zu erweitern und eine neue Strategie der Leseförderung zu entwickeln.[Fn6]
Getreu dem Motto der Konferenz gibt es also seit dem Jahr 2000 eine ungebrochene Aufbruchstimmung in Südkorea, die man als Teilnehmer der Konferenz und Gast im modernen Seoul täglich zu spüren bekam.
Rückblickend war die Reise zum geteilten Staat mit seinen auf dem ersten Blick irritierenden Gegensätzen des Alltags eine erlebnis- und erfahrungsintensive – was beinahe noch untertrieben ist – Zeit, die wir gern in unserem LIBREAS-Reiseköfferchen mit uns herumtragen und wenn im Berliner Stadtbild das ein oder andere „cute thing“ (siehe Reiseblog) unseren Blicken begegnet, denken wir kam.sa-ham.ni.da Seoul!
Fußnoten
[Fn 1]
www.ifla.org/IV/ifla72/index.htm
(zurück)
[Fn
2]
www.bi-international.de.
(zurück)
[Fn
3]
www.treepolar.de/daily.
(zurück)
[Fn
4]
vgl. Hee-Yoon Yoon, Duk-Hyun Chang
and Young-seok Kim: Libraries in Korea. A general overview. In:
IFLA Journal 32 (2): 93-103. Hier: 102 (zurück)
[Fn
5]
siehe Artikel „Einige Bemerkungen zu Südkorea“
von Andreas Müller-Lee in dieser Ausgabe (zurück)
[Fn
6]
ebd. S. 550 (zurück)