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Einige Bemerkungen zum gegenwärtigen Südkorea


Zitiervorschlag
Andreas Müller-Lee, "Einige Bemerkungen zum gegenwärtigen Südkorea. ". LIBREAS. Library Ideas, 7 ().


Im Schatten des nördlichen Verwandten | Rückblicke | Lernen, Lernen und nochmals Lernen | Familie | Blickfänge | Kulturen |

Im Schatten des nördlichen Verwandten

Noch vor einigen Tagen hätte dieser Beitrag etwas anders beginnen müssen, doch nun ist einstweilen wieder alle Korea-bezogene Aufmerksamkeit auf den Norden der Halbinsel gerichtet. Allerdings ist es gar kein Nachteil, an genau dieser Stelle beginnen zu müssen. Wie verhält es sich also mit der Krise auf der koreanischen Halbinsel und wie sieht es aus mit der atomaren Bedrohung? Natürlich gibt es eine Krise, nicht aber erst seit dem wie auch immer zu charakterisierenden Atomtest am 9. Oktober 2006, es ist nicht die erste und wird wohl leider auch nicht die letzte bleiben. Und natürlich fühlt man sich hier gegenseitig bedroht, aber auch nicht erst seit ein paar Tagen.

Es herrscht hier formal und tatsächlich noch immer Krieg, und der vor einem halben Jahrhundert ausgehandelte Waffenstillstand wird durch ein vermutlich ausgeglichenes militärisches Drohpotential beider Seiten garantiert. Atomwaffen auf der nördlichen Seite verändern die Sicherheitslage um kaum einen Deut, denn der Süden könnte sich wohl umgehend echte Atomwaffen beschaffen, und um die koreanische Halbinsel von der Landkarte zu „radieren“, sind die vorhandenen Waffen eigentlich völlig ausreichend. Eine vollständige Kriegsmaschinerie in Gang zu setzen, ist jedoch wie schon seit langem unwahrscheinlich, denn eine militärische Option gibt es in Korea nicht, nicht für die Vereinigten Staaten und auch für niemanden sonst. Was gäbe es denn auch zu gewinnen? Südkorea ist wirtschaftlich viel zu bedeutend, als dass ein Krieg die Weltwirtschaft ungeschoren davon kommen lassen würde. Nordkorea hingegen ist für China von großer strategischer Bedeutung, und selbst der nordkoreanischen Führung kann nicht entgangen sein, dass der Süden sehr genau über die deutsche Situation nach 1990 informiert ist und für eine Vereinigung keinesfalls einen Staatsbankrott riskieren würde.

Rückblicke

Die moderne Geschichte Koreas beginnt im frühen 20. Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der alten Choson-Dynastie (gesprochen „Dso-son“, das „O“ mit dem Breve so kurz wie das in „Ort“), einem Königreich, das sich während seiner letzten Jahre selbst zum Kaiserreich Groß-Han krönte, vorangetrieben durch die Japaner, in deren Einflußbereich die Halbinsel nun fällt und dessen Kolonie sie dann bis zum Kriegsende bleibt. In dieser Zeit haben sowohl die republikanische als auch die kommunistische Tradition ihre Wurzeln. Die pazifischen Siegermächte teilen das Land unter sich auf und der Norden nennt sich nun Choson und der Süden Groß-Han. Man spricht bis heute die Sprache von Choson und die von Han, und dahinter steckt wohl noch etwas mehr als die Suche nach einer modernen koreanischen Identität. Zunächst sieht es so aus, als ob hier die sowjetische Einflusszone die amerikanische überflügelt, denn der Norden hat Bodenschätze, verfügt über Industrieanlagen aus der Kolonialzeit, kann auf eine wesentlich größere Bevölkerung zurückgreifen und hat zunächst (auch nach dem Waffenstillstand) tatsächlich ein größeres Wirtschaftswachstum.

Der Zweite Weltkrieg walzt die Halbinsel zweimal kurz hintereinander platt, das erste Mal erledigen das die Nordkoreaner, das zweite Mal die UN-Truppen und dann schieben chinesische Freiwillige den ganzen übereifrigen Pulk noch einmal bis zur heutigen Grenze zurück. Seitdem wird lange der kalte Krieg gepflegt – man richtet sich sozusagen ein. Im Jahre 1961 putscht das Militär im Süden und verdonnert den ärmeren und rückständigeren agrarischen Teil der Halbinsel zur industriellen Entwicklung. Das ist der Anfang vom Ende des Spiegelbildes, das beide noch bis in die 1980er Jahre teilen: Diktaturen mit Übervätern und gnadenlosem Hass auf den anderen. Es war aber mitnichten etwas Ähnliches wie das heutige Südkorea, was den Putschisten damals vorschwebte, sondern ein antikommunistisches Bollwerk gegen den übermächtigen Norden, und zwar in Zusammenarbeit mit der Republik China auf Taiwan, die sich gegen die Volksrepublik behaupten mußte. Für die Industrialisierung bedurfte es aber nicht nur des Geldes, das auch schon vor 1961 reichlich in den Süden geflossen war, ohne etwas zu bewirken.

Lernen, Lernen und nochmals Lernen

Vermutlich war es der Einfluss der Bildung, den die Paten des heutigen Südkorea unterschätzt hatten, denn nun, da der Süden reich, mächtig und von doppelt so vielen Menschen bevölkert wird wie der Norden, schwindet auf einmal der Willen zur offenen Konfrontation. Es ist nicht so, dass es Gegner des Systems in Südkorea nicht mehr gäbe, aber im Gegensatz zum Norden sind Handlungsträger dieses Schlages wohl mittlerweile in der Minderheit, zwar in bedeutenden Positionen nicht nur des Militärs, des Geheimdienstes oder der Justiz, aber eben nicht mehr an der Spitze und nicht durch den Wählerwillen bestätigt.

Es ist durchaus die Bildung, denn die unterscheidet Korea von seinen asiatischen Nachbarn. Natürlich wird überall in Asien fleißig gelernt, so wie man überall dort ehrfürchtig und gehorsam ist und immer lächelt, aber es ist eben nicht einfach nur das Erbe des Konfuzianismus und die Wertschätzung der Bildung. In Südkorea ist Bildung eine „Terrorveranstaltung“ der ganzen Gesellschaft. Handwerk hat hier keinen goldenen Boden und es ist kein Wert, ein einfacher und ehrbarer Bürger und Christ zu sein. Bildung ist ein Wert, und wer in Korea etwas werden will, muss fleißig lernen und schließlich die Aufnahmeprüfung einer namhaften Universität bestehen und etwas Nützliches studieren.

Ein wenig klingt da wohl noch das Ansehen des Gelehrtenadels im alten Korea durch, wo Reichtum und Würden nur durch ein staatliches Amt zu erlangen waren, und dieses erst nach dem Bestehen verschiedener Prüfungen. Gelernt wurde schon damals den ganzen Tag, und so ist es vielleicht kein Zufall, dass die Schule heute weniger eine Bildungsanstalt ist, als vielmehr der Ort, an dem allen gezeigt wird, was noch zu lernen aussteht. Anschließend geht alles geschlossen in die Nachhilfeanstalten und vor die Hausaufgabenzeit wird jeden Tag noch ein Kurs zur Förderung der künstlerischen Begabung gequetscht. Und vor Erschöpfung klappt dann abends gegen zehn Uhr jeder Schüler zusammen. Doch das soll nicht als Beschreibung eines Exponates aus dem Kabinett ostasiatischer Skurrilitäten stehen, sondern verdeutlichen, dass die enormen Bildungsausgaben des Staates und aller Eltern, die seit vielen Jahren enorm hohen Zahlen an Hochschulabsolventen und nicht zuletzt das Glänzen Südkoreas bei den PISA-Studien vielleicht doch anzuerkennen sind. Auch wenn sie einst nur auf die Industrialisierung und die Verteidigung gegen die kommunistische Bedrohung zielten, so sind derartige Bildungsanstrengungen doch zu nichts weniger angetan, als eine ganze Gesellschaft „umzukrempeln“.

Familie

Der Konfuzianismus kommt zu Ehren, wo von der koreanischen Familie die Rede geht, sei sie nun buddhistisch, evangelisch, katholisch, ein wenig oder gar nichts von allem. Familien waren in Südkorea noch bis vor kurzem groß, so wie sie früher hier und auch in Deutschland waren. Da der Staat nur seine Beamten versorgt, lastet auf den Familien bis heute der Unterhalt all ihrer Angehörigen – vermutlich war und ist das auch ein nicht unwesentlicher Faktor des wirtschaftlichen Erfolges. Da die Familien noch bis vor kurzem vielköpfig waren, waren sie es, die das familiäre Hierarchieverständnis und die daran gekoppelte Zucht und Ordnung in die Moderne katapultierten. Mit einem Heer an älteren Verwandten im Rücken ist das exzessive Huldigen und Entfalten des Individualismus durch die Jugend einigermaßen erschwert und wird geschickt kanalisiert.

Gewiss wandelt sich die Gesellschaft nun, da Kinder hier vergleichsweise mehr kosten als in Deutschland, aber die familiären und die nach diesem Vorbild strukturierten beruflichen und freundschaftlichen Netze sind wesentlich dichter als in Westeuropa und werden es vermutlich auch bleiben. Da hier alle ständig unterwegs sind, ist ein Produkt wie das Mobiltelefon genau das richtige Instrument, um stets in Kontakt zu bleiben, und so ist Südkorea wohl nicht zufällig eines der Länder mit der weitesten Verbreitung dieser Geräte und den größten Netzdichten.

Blickfänge

Wen es heute nach Südkorea verschlägt, dem werden reihenweise Rätsel aufgegeben. Schäbige kleine Gassen nur ein paar Schritte entfernt von hochglanzpolierten Straßen und Gebäuden, Futuristische Einkaufspaläste und ein Markttreiben, das man auch im Orient nicht besser hinbekommt, riesige Limousinen aus eigener Produktion neben „Rumpelbussen“ wie aus vorindustriellen Zeiten (auch aus eigener Produktion) und absolut vorbildliche U-Bahnnetze, fast überall Internet, Mobiltelefone ja sowieso, aber neuerdings auch zum Fernsehen. An den stets zu knapp bemessenen Auf- und Abgängen steht übrigens nicht ohne Grund, dass diese Nadelöhre bitte geordnet durchquert werden sollen, denn wenn man sich nicht kennt, gibt es wie auch in anderen ostasiatischen Ländern nur gnadenlose Tuchfühlung und keinerlei Grund zu Verlegenheit. Nicht zu vergessen auch die Normalität, die hier trotz aller Eskapaden des nördlichen Verwandten herrscht, die präsente Polizei und die gegenwärtige, wenn auch nicht penetrante Überwachung. Nicht zuletzt auch das ungenießbare Trinkwasser in der näheren Umgebung der Hauptstadt. Wie fügt sich allein das zusammen?

Südkorea lässt sich längst nicht mehr auf die Formel eines Exporteurs von Krankenschwestern, Bergleuten und Billigelektronikartikeln bringen. Das heutige Südkorea ist ein modernes Land, aber das ist es erst seit kurzem. Es ist wohlhabend, nicht nach amerikanischen, japanischen oder deutschen Maßstäben, aber immerhin. Und wenn die Südkoreaner heute davon sprechen, dass ihr Land klein und unbedeutend sei, so ist das vielleicht immer noch ernst gemeint, aber doch von dem Stolz durchzogen, schon viel erreicht zu haben. In der näheren Umgebung von der Hauptstadt Seoul wohnt nicht zuletzt die Hälfte der südkoreanischen Bevölkerung. Bei Anballungen derartiger Massen auf kleinstem Raum gelten andere Spielregeln, das galt vor Jahren schon für die äußerst erfolgreiche Verbreitung des Internetzugangs – in der Hochgeschwindigkeitsausführung wohlgemerkt.

Kulturen

Unter Kultur läuft in Südkorea alles Mögliche. Nicht etwa nur Theater, Museum, Essen, Wein in Verbindung mit gehobenen Gesprächen, sondern auch der Saunabesuch, dessen denkwürdigster Bestandteil das Wundschrubben des Rückens mit einem Lappen aus Plastikfasern ist, das Singen in der Karaoke-Bar und das regelmäßige Schnapstrinken - sozusagen eine Kultur des aktiven Stressabbaus. Seit jüngster Zeit gehört hierzu wohl auch die sportliche Betätigung.

Eine Unterhaltungskultur, die besonders von Film und Fernsehen getragen wird, ist zunehmend präsent. Die seit einigen Jahren anspruchsvollen und mit einem gewissen koreanischen Charakter produzierten Filme können wohl dafür verantwortlich gemacht werden, dass es in ganz Ost- und Südostasien geradezu eine koreanische Welle gibt, die die koreanische Kultur dort sehr populär gemacht hat. Es dürfte Südkorea mit Stolz erfüllen, dass dies nicht nur auf die Volksrepublik zutrifft, sondern auch auf Japan, das eher eine Art Erzfeind der wirtschaftlichen Beziehungen darstellt. .

Weitaus bedeutender ist aber die politische Kultur, weniger der nennenswerte Umgang im Parlament, wo es immer mal wieder zu Handgreiflichkeiten kommt, als vielmehr die Überzeugung, dass wirtschaftlich und auch sonst nichts dem absoluten Selbstlauf überlassen werden darf. Wohl gibt es keine allzu enge Verknüpfung von Staat und Wirtschaft mehr, aber der Staat ist nicht nur in einer Fülle verschiedener Strukturmaßnahmen engagiert, sondern er ist nach wie vor die treibende Kraft bei der Modernisierung. Er hat nicht nur die Verbreitung des Internet vorangetrieben, sondern unterhält als eines der oder sogar das weltweit erste Land der Erde ein zertifiziertes E-Government. Die Geschwindigkeit mit der das alles umgesetzt wird, ist vergleichsweise atemberaubend: Während beispielsweise die Franzosen und der Börsenverein des deutschen Buchhandels in Reaktion auf die wirtschaftlichen Ambitionen einer großen Suchmaschine und eines großen Buchhändlers ein eigenes Online-Projekt gerade begonnen haben, werden die staatlichen Bibliotheken und Forschungseinrichtungen in Südkorea die Digitalisierung ihrer Bestände etwa im nächsten Jahr abschließen.

Es gibt also jede Menge Kultur hier, auch traditionelle, aber rasante Entwicklungen haben natürlich ihren Preis, der sich nicht unbedingt in Zahlen beziffern läßt. Und so sind eben große Teile der eigenen Tradition, für die man keine Zeit und kein Geld hatte und der man sich wohl durch das ständige Messen an anderen auch etwas schämte, längst verloren. Aber auch daran arbeitet man schon, wie könnte es auch anders sein?


Andreas Müller-Lee ist Koreanist und derzeit Fellow am Kyujanggak Institute for Korean Studies der Seoul National University.