Im Sommerhaus von Albert Einstein in Caputh[Fn1] gab es kein Telefon. Wenn ein wichtiger Anruf aus Berlin bei der Nachbarin einging, erschien diese mit einer Kindertrompete auf dem Balkon und rief den Wissenschaftler herbei. Dies lässt auf die gewollte Einsamkeit eines Genies schließen, gäbe es nicht das Gästebuch, das sich wie ein Kompendium zur Kultur- und Geistesgeschichte dieser Jahre vor der Emigration der Geisteselite aus Deutschland liest: Von Anna Seghers bis zu Max Planck, von Klaus Wachsmann bis zu den Gefährten des Geigenspielers Einstein haben die Geistesgrößen das – für heutige Begriffe – kleine und bescheidene Haus bevölkert. Nach der Einwanderung Einsteins in die Vereinigten Staaten und seiner Arbeit an der Princeton University erwarb er den Ruf eines Sonderlings, weil er in den Parks und unter den Alleen der als deutsch eingestuften Gewohnheit langer Spaziergänge nachging. Diese Parks und Alleen sind heute noch Treffpunkt von Gruppen und Diskussionsforen der Universität, aber auch für externe Personen. Sie sind Plätze der Kommunikation und des Austausches.
Bibliothekare sind heute oft ratlos: In den neuen Aufgaben, u.a. der Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz durch Bibliotheken aller Sparten[Fn2], der Digitalisierung in allen Schattierungen – von der Wahrung des kulturellen Erbes[Fn3] oder auch der Anwendung neuer Methoden, mit denen z.B. die kleine Firma Semantics im Projekt Scan to Web heute alte jüdische Zeitschriften direkt vom Scan im Web zugänglich macht[Fn4] , finden sich die Ansätze „moderner“ Bibliotheksarbeit. Auch hier gilt: Plätze für Kommunikation und Austausch werden in der Auseinandersetzung mit bibliothekarischen Themen gebraucht. Beliebt dafür sind Workshops, Tagungen und Kolloquien.
Kommen Bibliothekare zusammen, möglichst in nicht allzu großer Zahl, fällt auf, dass das Gespräch gesucht wird und sogar in einer international gemütlichen Runde überwiegen die professionellen Themen und Fragen, die man in kleinem Kreise schneller stellt als auf wissenschaftlichen Tagungen.[Fn5] Deshalb hatte Ivana Kadlecova[Fn6] am 23. Juni 2006 kurzfristig zu einem Workshop in die Hauptbibliothek der Akademie der Wissenschaften in Prag eingeladen. Weder eine geregelte Tagesordnung war vorgegeben noch waren Referate eingeplant. Es wurden lediglich einige Punkte für die Diskussionen festgelegt, die dann auch kurz moderiert wurden.
In den Vereinigten Staaten finden Tagungen statt, die ähnlich organisiert werden. Auf einer Leinwand werden Themen angezeigt, mit denen sich dann die Teilnehmer im Gespräch auseinandersetzen. Es gibt keine Vorträge, keine Vorsitzenden, die auf die Zeiten achten müssen und es gibt natürlich auch keine Proceedings. Es ist eine Veranstaltung, die nur den Teilnehmern gehört und daher von deren Disziplin oder Kreativität abhängt. Wenn Lawrence Lessig (USA), der berühmte Initiator und Verfechter der Open Access-Bewegung, in seinem Vortrag über Free Culture auf dem Kongress der ALA im Juli 2004 in Orlando, Florida, seine Folien (weiß auf schwarz) mit je nur einem (key)Wort bestückte, so ging sein Bestreben in die gleiche Richtung: Die Zuhörer (!) sollten seinen Worten genau folgen und sich damit die Leitlinie für eine lebendige Diskussion einprägen.[Fn7]
Der Workshop in Prag folgte einer ähnlichen Struktur, konnte aber nicht so radikal organisiert werden. Der Runde Tisch ist immer noch der politischen Diskussion vorbehalten und findet in der professionellen Diskussion noch nicht so recht Eingang. Auch eine Gruppendiskussion ohne feste Plätze für die Teilnehmer wie die oben beschriebene wäre noch nicht möglich gewesen. Dafür war die Besetzung der „Runde“ ideal. Den jungen, meist mit neuen Technologien befassten Bibliotheksmitarbeitern der ehrwürdigen und traditionsreichen Akademie stand auf deutscher Seite die Direktorin einer Universitätsbibliothek gegenüber, die nach harten Jahren der Umstrukturierung und Neuorganisation nebst mehreren Umzügen ihre Bibliothek heute im Bibliotheksindex der Bundesrepublik zu der drittbesten Bibliothek wörtlich hochgestemmt hat. Wendy Axford aus Großbritannien konnte dank finanzieller Hilfe von CILIP[Fn8] in dieser Runde die politische Rolle übernehmen.
Themen
Die Themen boten ein weites Spektrum: Freedom of Information (Axford), Digitalisierung (Martin Lhotak, Berankova), Informationsressourcen (Meixner, Buresova Tomanova, Ahnis), Open Acess (Burgetova, Dolezelova,), die Bibliothek als Raum (Burgetova, Simon).
Wendy Axford führte in das Gesetz Freedom of Information Act (FOIA) mit besonderer Berücksichtigung der Situation in Schottland ein.[Fn9] Sie berichtete besonders über die FOIA Records Management Audit Essentials und unterstrich die wichtige Rolle der Bibliotheken in allen Facetten und für alle Institutionen, die durch dieses Gesetz angesprochen sind. Dazu gehört in erster Linie auch die Fortbildung der Mitarbeiter und dies ist nur auf Grund einer Continuing Training Policy möglich. Durch erneute Vorlage in diesem Jahr soll das Gesetz auf seine Zuständigkeit und Umsetzung überprüft werden.[Fn10]
Das Digitalisierungszentrum der Hauptbibliothek der Akademie der Wissenschaften in Prag ist in erster Linie eingerichtet worden, um die durch die Jahrhundertflut zerstörten wertvollen Bücher digitalisieren zu können. Mittlerweile ist das Zentrum auch eine Dienstleistungseinrichtung für andere Bibliotheken in Prag und der Tschechischen Republik geworden. Martin Lhotak, Leiter des Digitalisierungszentrums, und seine Kollegen/innen demonstrierten die Kompetenzen, die in dieser Einrichtung entwickelt wurden.[Fn11] Die Digitalisierung mit dem System „Kramerius“ beruht auf einer engen Zusammenarbeit mit der tschechischen Nationalbibliothek. Als besonders ehrgeiziges Projekt innerhalb dieser Kooperation wurde die „Czech Digitalmathematics Library“[Fn12] vorgestellt.[Fn13]
„Tradition in Bewegung“ nannte Gabriele Ahnis (Universitätsbibliothek der Fachhochschule Lausitz) ihren Beitrag[Fn14] und eröffnete mit der Frage nach der realistischen Nutzung der Datenbanken eine stürmische Diskussion. Das Problem, dass der Zugang zu Datenbanken zwar von den Wissenschaftlern gefordert und auch zu einer modernen Bibliothek als Dienstleistung gehört, aber oft nicht entsprechend genutzt wird, ist recht alt und auch international bekannt. Man kann aber behaupten, dass dieses Problem auf Tagungen nicht oft thematisiert wird. Mit zunehmendem Kostendruck erhöht sich das Dilemma der Bibliotheken, die Datenbanken zwar zur Verfügung stellen wollen, aber dafür einen für die Nutzung unverhältnismäßig hohen Anteil ihres Etats ausgeben müssen. Selbst eine finanziell verhältnismäßig gut ausgestattete Bibliothek wie die des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin stand vor diesem Dilemma und damit vor der Forderung, einen Teil dieser kostspieligen Datenbanken, die besonders teuer und weniger genutzt waren, im Rahmen eines Konsortiums zu erwerben. Auch die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in Prag hat eine Reihe von Datenbanken im Konsortium erworben und diese den anderen Bibliotheken in der Tschechischen Republik ebenfalls zur Verfügung gestellt. Bei dieser Strategie half die direkte Teilnahme der Regierung durch die Übernahme eines Anteils der Kosten.[Fn15] Dies ist in einem föderalen System mit der Übernahme der Kosten durch die Landesregierungen, wie in Deutschland, wohl nicht möglich. Damit entfällt eine Strategie, die viel zum Aufbau des Bibliothekswesens in der Tschechischen Republik beigetragen hat. So erwarb auch die Akademie der Wissenschaften in Prag das Web of Science für die ganze Republik.
Die Bibliotheken nahmen die Anregung ihrer deutschen Kollegen, den virtuellen Besucher in ihre Benutzerstatistik aufzunehmen, dankbar auf. Es wurde aber ersichtlich, dass der Rechtfertigungsdruck der relativ kleinen deutschen Hochschulbibliothek, auch statistisch ihre Notwendigkeit zu beweisen, wesentlich größer zu sein scheint als in den Bibliotheken der Akademie der Wissenschaften in Prag.
Vergnüglich wurde die Diskussion um das Thema „Die Bibliothek als Ort“ an diesem Tagungsort, der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften mit ihrem wunderschönen Lesesaal, einer gelungenen Mischung von Kundenservice mit dem Einsatz aller verfügbaren Technik und traditionellem Aussehen.[Fn16] Hier stießen die verschiedensten Meinungen aufeinander, wobei man sich vor Augen halten muss, dass es noch gar nicht lange her ist, als generell der Bibliotheksbesuch sehr strengen Verhaltensregeln unterworfen war. Das ist vorbei, aber es geht immer noch um die Lautstärke der eventuell geführten Diskussion und um die Bibliothek zwischen den Polen: Die Bibliothek als Lernort und Ort der Wissenschaft oder als Treffpunkt und Ort lockerer Kommunikation. Wenn auch die Hauptbibliothek der Akademie der Wissenschaften allein durch ihr Aussehen verbietet, dass man die Füße auf den Tisch legt, so wurde uns doch von dem heißen Kampf erzählt, der bei der Einrichtung des Lesesaals vor einigen Jahren um die Aufstellung von Sofas entbrannte. Heute sind die Gegner dieser Sofa-Aufstellung von dieser Einrichtung völlig überzeugt und sehen selber, dass die Bibliothek dadurch besser angenommen wird und neue Besuchergruppen erschlossen hat – was auch für die Rechtfertigung der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften mit ihrer langen Tradition gegenwärtig notwendig ist. Abgesehen davon, dass auch Bibliothekare beginnen, die entspannte Atmosphäre einer solchen Bibliothek zu genießen.
Verständigung/Sprache/Terminologie
Die jungen Bibliotheksmitarbeiter bevorzugten die englische Sprache als Verständigungsmittel. Sie ist die akademische lingua franca. Als Vertreter einer kleinen Nation sind sie oft zwei- und dreisprachig und konnten Deutsch ebenfalls verstehen, so dass man sich in beiden Sprachen sehr gut verständigen konnte. Trotzdem bleibt es nicht aus, darüber nachzudenken, warum die deutsche Sprache auf dem Gebiet des Bibliothekswesens in den letzten Jahren so an Bedeutung verloren hat. Das ist nicht nur in der Tschechischen Republik der Fall, sondern auch in Polen und den baltischen Ländern, einige Nationen sind unmittelbare Nachbarn von Deutschland. Die Erklärung mag in dem großen Angebot von Großbritannien und verschiedener US-amerikanischer Stiftungen liegen, Möglichkeiten zum Studium und Weiterbildung anzubieten. Das wurde u.a. deutlich in der Begegnung mit Wendy Axford. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie in Prag war und so tauchten in den Pausen diverse Studenten auf, um sich nach Studien- und Fortbildungsmöglichkeiten in Großbritannien zu erkundigen.
Tschechische Teilnehmer dieses Workshops waren anfänglich nicht überaus begeistert. Man hatte der Versicherung, dass es sich hier um einen Austausch von Erfahrungen, an den alle Seiten gleich interessiert waren, nicht so recht geglaubt und wohl mehr offizielle Reden und Referate erwartet (und befürchtet). Sie waren überrascht und erfreut über die Form, in der dieses Treffen stattfand. Deshalb zum Schluss noch eine kleine Anmerkung. Wir waren übereingekommen, dass es keine Powerpoint-Präsentationen geben sollte. Einer der Teilnehmer hatte sich nicht daran gehalten, was verständlich war, denn seine Präsentation war umfassend und deshalb zumindest für die Gäste mitunter schwierig. Aber gerade diesen Teilnehmer hielt es auch bei der Diskussion nicht im Kreis, er verschwand hinter seinem PC. Das ist wahrscheinlich einfach eine Gewohnheit, der wir mehr oder weniger alle verfallen sind. Wir können uns denken, dass Einstein von dieser Art Kommunikation nicht begeistert gewesen wäre. Es kann aber sein, dass sich in Zukunft die Erkenntnis durchsetzen wird, dass leider auch Maschinen nicht beim oft so bedrückenden Zeitmanagement helfen. Gutes Zuhören kann aber der Speicherung im Gehirn behilflich sein.
Einen Workshop mit einer guten Kommunikation bescheinigte abschließend auch der stellvertretende Vorsitzende des Akademierats Dr. Steiner, der am gesamten Workshop teilnahm. Ein Austausch von Erfahrungen und Meinungen in beiden Ländern, der neugierig aufeinander und auf die kommende Entwicklung gemacht hat. Das beste Resultat liegt in dem kollegialen, angstfreien Austausch der Erfahrungen, der notwendig ist, wenn die Bibliothekare nicht den Kopf verlieren wollen, den sie für die Entwicklung zukünftiger Strategien frei haben sollten.
Fußnoten
[Fn 1]
Das Sommerhaus, in Caputh (bei Potsdam) ist wieder in der ursprünglichen
Form, ein Holzhaus im Bauhausstil, restauriert worden. (zurück)
[Fn
2]
dazu u.a. Prof. Dr. Claudia Lux
in ihrer Antrittsvorlesung am 4. Juli 2006 an der Humboldt-Universität
zu Berlin. (zurück)
[Fn
3]
U.a Globalization, Digitization, and Preservation of Cultural
Heritage, eine internationale Konferenz in Sofia vom 8.-10.
November 2006, veranstaltet von der ALA und der University of Sofia,
Bulgarien. (zurück)
[Fn
4]
Projekt (www.semantics.de)
wurde bei einem Workshop am 28. Juni 2006 in Hamburg vorgestellt.
(zurück)
[Fn
5]
Eine solche Runde bieten die jährlich stattfindenden ABDOS
Konferenzen, die in diesem Jahr in Bautzen stattfand. Sah man die
Teilnehmer aus vielen Ländern Mittel-, Süd- und Osteuropas,
die sich in den vergangenen Jahren während der Pausen auf die
ausgelegten Informationen stürzen, so konnten die Kaffeepausen
in diesem Jahr nicht lang genug sein. (zurück)
[Fn
6]
Ivana Kadlecova, Direktorin der Bibliotheken der Akademie der Wissenschaften
in Prag. Die Akademie hat über 100 Institute, die meisten mit
einer eigenen Bibliothek, siehe dazu www.lib.cas.cz
(zurück)
[Fn
7]
Lessig, Lawrence (2004) Free culture.
How big media uses technology and the law to lock down culture and
control creativity. New York. (zurück)
[Fn
8]
Institute of Library and Information Professionals, www.cilip.org.uk/default.cilip
(zurück)
[Fn
9]
siehe dazu den Beitrag “Freedom of Information in Scotland.
Expectations and the situation one year after the situation came
into force in January 2005” von Wendy Axford in dieser LIBREAS-Ausgabe.
(zurück)
[Fn
10]
siehe dazu: UK Information Commissioner www.ico.gov.uk, Scottisch
Information Commissioner www.itspublicknowledge.com,
CILIP www.cilip.org.uk/professionalguidance/foi,
CILIPS www.slainte.org.uk/CILIPS/cpdfoisay05.htm,
National Archive Service GB www.nationalarchives.uk,
Campaign for Freedom of Information www.cfoi.uk,
Irish Information Commissioner www.oic.gov.ie/default.htm
(zurück)
[Fn
11]
http://digit.lib.cas.cz
(zurück)
[Fn12]
http://dml.muni.cz/index.html
http://dml.muni.cz/index.html (zurück)
[Fn
13]
weitere Informationen siehe in „Libraries
and Librarianship in the Czech Republic”, erhältlich
bei der Nationalbibliothek tschechischen „Narodni knihovna
Ceske republiky – Knihovnicky institut Klementinum. (zurück)
[Fn
14]
Bibliothek als moderner Bewahrer,
Bibliothek im kooperativen Umfeld, Bibliothek als Dienstleister
(zurück)
[Fn
15]
siehe dazu Ivana Kadlecova,
Elisabeth Simon (2003) Elektronische Informationen. Möglichkeiten
und Formen der Wissensorganisation am Beispiel von Konsortien. Berlin:
BibSpider (zurück)
[Fn
16]
Ein Lieblingsort aller angelsächsischer
Besucher, die ja oft in ihrer Bibliotheksausstattung der gleichen
Strategie folgen. Das schönste Beispiel dafür ist wohl
die Folger Shakespeare Library in Washington, DC (www.folger.edu)(zurück)
Elisabeth Simon ist Vorsitzende des Förderkreises für West-Ost-Informationstransfer und Mitbegründerin des Verlags BibSpider sowie Lehrbeauftragte am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft.