Achtung! Extreme Teens! Wer sich nun einen missgelaunten, aus Langeweile pöbelnden, 17jährigen Burschen mit zotteligen Haaren und verklärtem Blick vorstellt, der die Leseplätze der Bibliothek mit kleinen Zeichen und Schriftzügen verziert oder in irgendeiner anderen Weise als extrem bzw. „aus der Reihe fallend“ in seinem Verhalten oder Aussehen zu bezeichnen sein könnte nicht nur gut vorstellen kann, sondern aus der eigenen Bibliothek kennt, der wird Sheila Andersons Buch „Extreme Teens“ sicher mit einer gewissen Vertrautheit entgegentreten können.
Extreme Teens am Strand: Ernster Blick vor fröhlicher Kulisse.
Aber was ist schon extreme, wenn man Teenager ist? Die Autorin jedenfalls fasst diese Zielgruppe der Bibliotheken recht weit: als Extreme Teen gilt ihr sowohl jemand, der zuhause unterrichtet wird, weil ihr oder ihm in den amerikanischen rural areas möglicherweise schlicht die Verkehrsmittel fehlen, die zum Erreichen der weit entfernten nächsten Schule fehlen, als auch junge Leser in den Justizvollzugsanstalten, homosexuell orientierte Jugendliche oder sehr junge Schwangere. So kann etwa die Wohnsituation das „Anderssein” der Extreme Teens ausmachen:
„Teens whose living situations differ from that of most other teens can be considered extreme, whether they are homeless, runaways, living in a shelter or a group home, or even emancipated, meaning that they are living on their own and legally separated from their parents or guardians.” (S. xix)
„Extrem” bedeutet demnach nicht an sich etwas Negatives, sondern bezieht sich auf Lebensumstände und Persönlichkeitseigenschaften, die man gemeinhin als von dem idealtypischen Spektrum des normalen Teenagerdaseins abweichend bezeichnen würde. Und entsprechend wird klar, dass man es bei Extreme Teens nicht unbedingt mit dem Rabauken von der Ecke zu tun hat, für den der Bibliotheksbesuch in der Hierarchie seiner Lieblingsaktivitäten eher gar nicht auftaucht, sondern mit einem Spektrum von Jugendlichen, für die die Bibliothek z.T. ein eminent wichtiger Anlaufpunkt beim Finden ihrer Position in der Gesellschaft darstellt.
Dies sollte die Zielgruppe des Buches, die aus „young adult librarians, reference librarians, library administrators, and college librarians who may be serving nontraditional teens in some way [bzw.] youth service workers outside of the library science field, such as staff in prisons or nurses who work with pregnant teens” (S. xxii) besteht, im Hinterkopf haben.
Sheila B. Anderson selbst hat viele Jahre in Public Libraries verschiedener amerikanischen Bundesstaaten gearbeitet und zuvor das Buch „Serving Older Teens“ herausgegeben. Zudem ist sie Mitglied diverser Committees, u.a. YALSA SUS – „Young Adult Library Series Association, Serving the Underserved“.
In der vorliegenden Darstellung wartet sie neben einleitenden Statistiken und Daten zu Extreme Teens in den USA mit Anekdoten und Erfolgsgeschichten von und mit Extreme Teens auf, die die verschiedenen Abschnitte des Buches jeweils einleiten. Und es sind Schilderungen, die ihr Ziel nicht verfehlen: In einer (Öffentlichen) Bibliothek tätig schaut man zukünftig wohl doch etwas genauer auf jeden jugendlichen Nutzer, der die Bibliothek bereits betreten hat oder auf einen potentiellen Nutzer im Teenageralter, dem man auf einem Parkplatz begegnet und den man (eigentlich) zum Besuch motivieren sollte. Und man mag sich vielleicht gern vorstellen, wie die „gestrandete Existenz“ oder auch einfach ein Jugendlicher, dem schlicht die Möglichkeiten, seien sie finanzieller, gesundheitlicher oder einer anderen Art, fehlen, ein Bibliotheksangebot wahrzunehmen, später sogar einmal eine der Zweigstellen einer Stadtbibliothek im hiesigen Ort leitet. Denn schließlich kann jede/r Extreme Teen theoretisch einmal selbst in einer Bibliothek tätig sein, gibt man ihm nur die Chance, dasselbe Angebot wie alle anderen Jugendlichen wahrzunehmen bzw. nimmt man seine Rolle, für jedes Mitglied der menschlichen Gemeinschaft ein offenes Ohr zu haben und Sorge zu tragen, ernst und bietet ihnen wenigstens im Ansatz ein entsprechendes Bestandsangebot.
Derlei Hinweise bietet „Extreme Teens“ in großer Zahl auf die Verhältnisse in den USA zugeschnitten. Für den deutschsprachigen Raum ist es eher als Inspiration für die Entwicklung eigener Konzepte geeignet. Besonders das dritte Kapitel „Extreme Resources: Building Collections“ scheint in dieser Funktion hilfreich zu sein – von Belletristik und Sachliteratur über Hinweise auf Organisationen, die sich Problemen Jugendlicher zuwenden wie auch in Bezug auf Online Ressourcen zu nahezu allen Eigenschaften und Problemfeldern der Extreme Teens wird hier recht viel Material in englischer Sprache sowohl für die Anschaffung in Bibliotheken als auch zur Bereithaltung an der Auskunftstheke kommentiert empfohlen.
Immer wieder betont die Autorin die Notwendigkeit des „Networking with communities“ und der Einbindung der Bibliothek in Aktivitäten, die neben den Kern- und Alltagsaufgaben liegen. Als Beispiele seien etwa genannt das „Promoting the Library and Resources“ sowie „Booktalks“ mit den Jugendlichen, für deren Durchführung sie erste Schritte im Buch vorstellt.
Es lässt sich also zusammenfassend feststellen, dass „Extreme Teens“ wegen der Konzentration auf entsprechende englischsprachige Literatur, Webquellen und Organisation aus dem amerikanischen Raum für den deutschsprachigen Bibliotheksraum mehr als Anregung denn als wirklicher Ratgeber fungieren kann. Die Nützlichkeit einer ‚best practice’-Orientierungsgrundlage und einen gewissen Unterhaltungswert möchte ich diesem Werk jedenfalls sehr gern zuschreiben.
Zudem stimmt mich das Buch froh: Es gibt nach wie vor Leute – ohne dass ich sagen möchte, ich zweifelte daran oder an entsprechender positiver Motivation der Bibliothekare hierzulande – die grundsätzlich an „das Gute im Menschen“ und daran glauben, dass jeder Hilfe und eine zweite Chance oder vielleicht erst einmal eine „erste“ auf eine Zukunft und deren eigenhändige und verantwortliche Gestaltung verdient. Der (Öffentlichen) Bibliothek kommt durch ihre Aufgabe der Zuwendung an alle Teile der Bevölkerung eine extrem wichtige Rolle zu: „This segment of the population especially needs to interact with adults, such as librarians, who care about them and their future. They rely on library collections that support their needs.“ (S. xxi)
Maxi Kindling studiert Bibliothekswissenschaft und Germanistische Linguistik (Magister) an der Humboldt-Universität zu Berlin.