Das Thema
„Soziale Bibliotheksarbeit“ als Begriff sollte nicht mehr in der Diskussion stehen, weil er als solcher nicht mehr gebraucht wird: Die einzelnen Arbeitsbereiche, die unter dem Begriff „Soziale Bibliotheksarbeit“ zusammengefasst wurden, haben sich gegenwärtig als jeweils eigenständiges Arbeitsfeld verortet. Es gibt die Aktivitäten im Bereich der „multikulturellen Bibliotheksarbeit“ und der Arbeit mit Senioren. Auch die frühkindliche Leseförderung lassen den gegenwärtigen Trend einer zielgruppengerichteten Bibliotheksarbeit erkennen. Daneben existieren die „aufsuchende Bibliotheksarbeit“, zentrale Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen sowie die nach wie vor im deutschen Bibliothekswesen als Sonderformen bezeichneten Patientenbibliotheken und Gefangenenbüchereien, die in der Sektion 8 des Deutschen Bibliotheksverbandes[Fn1] vereinigt sind, und es könnten noch zahlreiche weitere Aktivitäten bzw. Angebote Öffentlicher Bibliotheken aufgezählt werden. Der übergeordnete Begriff „Soziale Bibliotheksarbeit“ galt eher als ein Schlagwort für vielfältige Arbeitsbereiche Öffentlicher Bibliotheken, spielt heute scheinbar keine, allenfalls eine sehr geringe Rolle in der Diskussion um Funktionen und Aufgaben Öffentlicher Bibliotheken bzw. bibliothekarischer Arbeit und hat demzufolge, so die weit „ausgedient“.
Eine umfassende Begriffsdiskussion oder gar Begriffsklärung soll und kann hier nicht geleistet werden und auch die Beiträge in dieser Ausgabe beschäftigen sich nicht tiefgreifend mit dieser Aufgabe. Nur soviel soll hier festgehalten werden: Die „Soziale Bibliotheksarbeit“ als Bezeichnung für bestimmte Arbeitsfelder in Öffentlichen Bibliotheken nahm von Beginn an eine umstrittene Position innerhalb der deutschen bibliothekarischen Diskussion ein, die vor allem Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre geführt wurde und vermittelte unglücklicherweise nebenbei den Eindruck, es gäbe ebenso „unsoziale Bibliotheksarbeit“. Manche Zungen behaupten etwas polemisch, diese käme heute z.B. in Form der vielerorts eingeführten Nutzungsgebühren tatsächlich verstärkt zum Ausdruck. In jedem Fall, so auch die Alltagserfahrung aus der Wissenschaft, sollte die Bedeutung von Begriffen klar sein, bevor man sich für einen Terminus, der in diesem Fall ein bestimmtes Konzept im bibliothekarischen Tätigkeitsumfeld beschreiben will, entscheidet. Ansonsten leidet die Eindeutigkeit und die Diskussion wird mitunter höchst unfruchtbar.
Bei Ausführungen zur Bedeutung von „sozial“ tritt stets ein gesellschaftlicher Aspekt in den Vordergrund. Vom lateinischen socialis abgeleitet, bedeutet sozial im Deutschen gesellschaftlich, von dem zwei Bedeutungsebenen abgeleitet werden: „1. Das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft betreffend, auf die menschliche Gemeinschaft, Gesellschaft bezogen, gesellschaftlich und 2. dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend.“[Fn2]
Bestimmte Sachverhalte im menschlichen Zusammenleben sind demnach gesellschaftlich bedingt oder doch zumindest mit bedingt. Dabei spielen die Beziehungen und Handlungen zwischen sowie das Verhalten der Individuen zueinander und miteinander die entscheidende Rolle. Dies bedeutet, dass alle von den Individuen ausgehenden Handlungen, die ein anderes Individuum direkt oder mittelbar betreffen, sozial, weil gesellschaftlich bedingt und Gesellschaft bedingend, sind.
Der andere Teil des Terminus „Soziale Bibliotheksarbeit“ sollte mit der Grundlage zur Bedeutung von „Arbeit“ an sich beleuchtet werden. Nach Marx ist „Arbeit (…) immer gesellschaftliche Arbeit; jeder Akt der Arbeit oder Produktion ist immer auch ein bestimmtes Verhalten zum Mitmenschen.“[Fn3] Die Relevanz der sozialen Dimension ist hier eindeutig belegbar und beim Versuch auf die Arbeit in der Bibliothek im Speziellen zurückzugreifen, lässt sich Folgendes festhalten: Als bewusste, gezielte, körperliche und/oder geistige Tätigkeit ist sie immer ein sozialer Akt, der ein bestimmtes Verhalten einschließt. Konkret heißt dies, dass die Tätigkeiten in der Bibliothek, sei es das Systematisieren der Medien, die Anordnung derselben oder das Bibliothekar-Benutzer-Gespräch, immer sozial, nämlich gesellschaftlich ausgerichtet, sind.
„Soziale Bibliotheksarbeit“ als Begriff ist demzufolge kaum brauchbar, da auf der Begriffsebene tautologisch. Die Bibliotheksarbeit ist per se sozial und der Zusatz bewirkt eine unnötige Verstärkung, die nur dann einen Sinn erhält, wenn der soziale Charakter der Bibliotheksarbeit aus irgendeinem Grund vergessen würde. Die Bibliothek nicht für den Menschen – undenkbar. Oder nicht…?
Wie dem auch sei: „Sozial“ scheint also ein etwas hilfloses Beiwort für ein bestimmtes Arbeitsfeld – wenn es denn das wirklich ist – in Bibliotheken zu sein. Wie also sieht eigentlich das dahinter stehende Konzept aus, das dieser Begriff auszudrücken versucht? Sollte man dann nicht versuchen in einer bibliothekswissenschaftlichen Diskussion einen neuen, besser passenden Terminus zu gewinnen? Oder sollte man eventuell auch das Konzept hinter der Benennung intensiviert reflektieren?
Diese Fragen müssen leider weiter einer Antwort harren, was auch irgendwie angesichts der im Call for Papers[Fn4] ausgebreiteten Vielzahl der relevanten Aspekt zu erwarten war, ist doch die Thematik ausgesprochen verzweigt und vielfältig und nicht gerade arm an Perspektiven auf die berührten Phänomene. So konnten die Absichten des Call for Papers nur gestreift, nicht jedoch erfüllt werden.
Zumal der Fokus auf die Situation der „Sozialen Bibliotheksarbeit“ hier in besonderer Weise erweitert erscheint: Nicht die Diskussion und der Zustand in Deutschland werden in dieser Ausgabe abgebildet[Fn5], sondern aus verschiedenen Ländern stammende Stellungnahmen, Berichte und Thesen.
Die Beiträge
Wendy Axford, Teilnehmerin des Workshops Nové Trendy nová témata in der Akademie der Wissenschaften in Prag im Juni 2006, stellt in ihrem Beitrag das Zustandekommen und die Bedeutung sowie die gegenwärtige Situation des schottischen Gesetzes zur Informationsfreiheit Freedom of Information (Scotland) Act, das im Jahre 2002 verabschiedet wurde, dar.
„In Dänemark ist alles besser“, eine Feststellung, die man von Studierenden nach einer Exkursion zu verschiedenen Bibliothekseinrichtungen in der Hauptstadt des nordischen Nachbarn im März 2005 häufiger hörte. Aber ist dem aus einer Innenperspektive gesehen tatsächlich so? Anhand einiger Projekte mit ethnischen Minderheiten stellt Hans Elbeshausen verschiedene Aspekte „Sozialer Bibliotheksarbeit“ und deren Bedeutung für die bibliothekarische Praxis dar. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht zum Einen das Selbstverständnis der Bibliothekare hinsichtlich der Dimension des Sozialen innerhalb ihres Tätigkeitsumfelds – dieser Aspekt hat bisher kaum eine Rolle eingenommen, da sich Bibliothekare, auch dänische, hauptsächlich als Kulturvermittler oder Informationsspezialisten verstehen und Aufgaben eines Sozialarbeiters weit von sich weisen würden. Zu fragen ist natürlich auch, inwieweit „Soziale Bibliotheksarbeit“ als Sozialarbeit verstanden wird. Zum anderen sind Empowermentstrategien ein wichtiger Gegenstand in seinen Betrachtungen der Fallbeispiele.
In der europäischen Bibliothekschampionsleague gilt das skandinavische Bibliothekswesen als FC Barca, das deutsche vielleicht als, nun ja, deutsches Team eben. Der Unterschied ist dabei, dass bei dem besseren Team immer der Richtige zur rechten Zeit am rechten Ort zu finden ist. Die Bibliotek z.B. auch im frühlingsfeuchten Mörbylånga auf Öland.
Der technische Zugang zu Informationen ist nicht gleichbedeutend mit einem für jeden nutzbaren Zugang zu allen Daten. Die Ermöglichung eines „allgemeinen“ Zugangs basiert auf dem „allgemeinen, durchschnittlichen“ Nutzer und damit auf einem Raster physiologisch bedingter Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten, die u.U. nicht jeder mitbringt. Sehr schnell entstehen so Barrieren – glücklicherweise gibt es ein Konzept unter dem Namen „Barrierefreiheit“, welches Anspruch und Wirklichkeit auszubalancieren versucht. Der Beitrag der Studentin Anna Jessat ist eine gekürzte Seminararbeit, die sich mit Online-Recherchemöglichkeiten in deutschen Bibliotheken für blinde und sehbehinderte Menschen beschäftigt. Untersuchungsgegenstand sind hierfür Die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig und die drei Berliner Universitätsbibliotheken mit ihren jeweiligen Angeboten.
Gegenwärtig gibt es in 83 deutschen Städten und Landkreisen Bücherbusse, die für verschiedene Nutzergruppen, vorwiegend Schüler, Medien zur Verfügung stellen. Berlin bietet diesen mobilen Service, der seinen Bestand für Grundschüler aufbaut, in drei Großbezirken. In einem Gespräch mit der Leiterin der „Fahrbibliothek Mitte“ hat die LIBREAS-Redaktion Einiges zur Situation im Berliner Bezirk Mitte erfahren und ist kurz darauf zu einer kleinen „Feldbeobachtung“ an den Einsatzort „Grundschule“ gefahren.
Die norwegische Bibliothekarin Tone Eli Moseid, die sich besonders mit der Thematik „Accessible Libraries“ beschäftigt, geht in ihrem Artikel von der Fragestellung aus, ob sich Öffentliche Bibliotheken mit Serviceangeboten für körperlich Behinderte einem neuen Paradigma zuwenden? Sie betrachtet hierfür aktuelle Projekte und Entwicklungen in Norwegen und stellt dabei fest, dass es in der Tat ein neues Selbstverständnis gegenüber Behinderten als Nutzer der Bibliotheken gibt. Anhand des Modells Accessible Triangle stellt sie dar, wie entsprechende Serviceangebote für diese Nutzergruppe entwickelt werden könnten.
Einen Überblick zur Bibliotheksarbeit in US-amerikanischen Gefängnissen liefert Glennor Shirley, wobei sie den Fokus auf die Bundesgefängnisse lenkt. Bevor die Autorin die gegenwärtige Situation beleuchtet, geht sie kurz auf die Entwicklung der Gefängnisbibliotheken ein, die seit jeher den Anspruch verfolgten, wie die „Public Library“ für die Inhaftierten als „community information center, formal education support center, independent learning center, popular materials library, and reference library“ zu fungieren. Weiterhin geht sie auf die (Informations-)Bedürfnisse der Häftlinge ein und gibt einen Einblick in die Arbeitswelt von Bibliothekaren in einer weitgehend von der Gesellschaft isolierten staatlichen Einrichtung.
„Zwiebelfische“ – schrifttypenspezifische Druckfehler aufgrund des versehentlichen Griffs zu einer anderen Schrifttype oder einem anderen Schriftgrad – schwimmen, von Bibliothekaren nicht ungekannt, schon mal in der einen oder anderen Publikation fleißig herum. Auch Fehler, Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Bibliothekar und Nutzer tummeln sich Hin und Wieder in Form seltsamer Gespräche an so manchen Tagen in einer Bibliothek und stören die friedliche Atmosphäre, wo Bibliothekar und Nutzer Haltung bewahren sollten, vor allem aber Geduld und Nachsicht ihrem Gegenüber beweisen müssen. Dem Alter die Ehre zu erweisen, die es gemeinhin tradiert verdient, fällt bei manchen Seniorenstudenten nicht ganz leicht, wird die Überlegenheit an Jahren doch ab und an allzu offensiv mit Überlegenheit an Weisheit verwechselt. Sind die älteren Semester nun ein Fall für die Sozialarbeiter? Da sich der Bibliothekar jedoch stets auf der Suche nach Selbstfindung und Neuorientierung begibt, greift auch er beherzt bei der Herausforderung zu und versucht, als eine Kreuzung aus verschiedenen Berufseigenschaften die Schlacht berufsstandesgemäß zu schlagen. Auch wenn im Grunde die stete Neuorientierung die Eigentlichkeit (Adorno) und den Inhalt verliert und sich im Genichteten Nichts (nach Heidegger) orientiert, der bibliothekarische Berufsstand also versucht, so der Autor dieses Beitrags, im „Mimikry“ anderer Berufe zu überleben. Rainer Strzolka begibt sich mit diesem fiktiven Bibliothekar-Nutzer-Gespräch auf die satirische Bühne.
Die Digitalisierung und das WWW führen am Ende alle Bücher zu einem zusammen. Diese These vertritt Kevin Kelly in seinem Artikel in der Weltwoche (bzw. New York Times). Zumindest ein Leser war nicht mit jedem Detail der Ideenskizze einverstanden, auch wenn die Idee an sich einen gewissen Reiz besitzt. Ben Kaden reflektiert über weltbibliothekarische Gedanken des „Wired“-Gründer und Cyberculture-Vordenker Kevin Kelly, der das gesamte Wissen in einer digitalen Weltbibliothek bündeln möchte und in diesem Supernetzwerk die Gelegenheit sieht, „eine neue Kultur der Interaktion und Partizipation“ zu schaffen.
Trends und Tendenzen in Bibliotheken wurden in der Akademie der Wissenschaften Prag im Juni 2006 mit deutschen, britischen und tschechischen Bibliothekaren in Form eines Workshops diskutiert. Elisabeth Simon berichtet von diesem, aus ihrer Sicht sehr gelungenem Treffen und macht deutlich, wie wichtig Erfahrungsaustausch und Diskussionen über Ländergrenzen hinweg sind.
In dieser Ausgabe konnten wieder Rezensionen zu einer recht bunten Mischung an Buchpublikationen versammelt werden: von bibliothekarischen Angeboten für eine spezielle Nutzergruppe über Eventmarketing in Bibliotheken bis hin zu Konflikt- und Gefahrensituationen in Bibliotheken.
Zudem wird ein neues Projekt aus dem LIBREAS-Umfeld eingeführt: das LIBREAS Referate Blog, welches in Tradition der Referatezeitschriften mit den Möglichkeiten des Web 2.0 ausgewählte Zeitschriftenliteratur erfassen wird.
Und schließlich, ist, da wir wie so viele Menschen in diesem heißen Juni den Schatten erst so richtig schätzen lernen, diesem diesmal die Rubrik BILD + TEXT gewidmet.
Wir bedanken uns bei den Autoren sehr herzlich und wünschen ihnen sowie den Lesern einen angenehmen und interessanten (Bibliotheks-) Sommer!
Ihre LIBREAS – Redaktion
Berlin, im Juli 2006
Fußnoten
[Fn 1]
siehe www.bibliotheksverband.de/sektion-8/start.html.
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[Fn
2]
Brockhaus. Die Enzyklopädie
in vierundzwanzig Bänden. Studienausgabe. 20., überarb.
u. akt. Ausg. Leipzig, 2001; Bd. 1 S. 458 (zurück)
[Fn
3]
Mikl-Horke, Gertraude: Soziologie. Historischer Kontext und soziologische
Theorie-Entwürfe. 5., vollst. überarb. und erw. Aufl.
München und Wien 2001. S. 49. (zurück)
[Fn
4]
siehe www.ib.hu-berlin.de/~libreas/libreas_neu/calls/index.html.
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[Fn
5]
Anfang des Jahres 2007 wird eine Publikation zur Situation der „Sozialen
Bibliotheksarbeit“ in Deutschland beim Verlag BibSpider erscheinen.
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