Die Welt der Information heute und ein Aufsatz
Die Komplexität und Vielfalt der Welt der Information und Datenbankangebote wird für Forschende und Lehrende, also für die Kunden von Bibliotheken, immer größer. Unsicherheiten über die Qualität von Rechercheergebnissen, über die Qualität der Information an sich, den Besitz von Wissen, die Begrenzung des Zugriffs und die Delegation an technische oder humane „Informationsassistenten“[Fn1] werden nicht von jedem wahrgenommen, insbesondere im Umgang mit elektronischen Informationssystemen. Gerade zu Beginn des Studiums ist als primäre Informationsquelle für Studierende die Suchmaschine Google schon fast ein Synonym für das Internet. Google und zusammenfassende Portalangebote unterstützen die Orientierung, ohne aufgrund der vorhandenen Diversität jemals alle Angebote des so genannten „Deep Web“ erfassen zu können.
Die oben beschriebene Problematik wird auch in einem Beitrag von Amy S. Bruckman mit dem Titel "Student Research and the Internet" aufgezeigt.[Fn2] Aus Sicht einer Lehrenden des College of Computing an der Universität Georgia Tech ist das Thema Informationskompetenz und die Problematik „Bibliothek und Internet“ treffend charakterisiert. Nicht immer ist das Bewusstsein der Bedeutung von Informationskompetenz deutlich genug ausgeprägt, besonders wenn z.B. Informationskompetenz nur mit Recherchekompetenz oder „computer literacy“ gleichgesetzt wird. Bruckman ist allerdings diesbezüglich keine typische Vertreterin der „harten“ Computerwissenschaften: Ihre Dissertation hat sie in der „Epistemology and Learning Group“ am MIT Media Lab geschrieben.[Fn3] Die von ihr im Text erwähnte durchgeführte Lehrveranstaltung trägt den Titel „Computers, Society, and Professionalism“.
Zur Informationskompetenz aus Bibliothekssicht[Fn4]
Über effiziente Recherche- und Navigationsstrategien hinaus umfasst Informationskompetenz vor allem die Kreativität, den eigenen Informationsprozess bewusst und bedarfsgerecht zu gestalten. Pädagogisch-didaktische Aktivitäten zu ihrer Förderung ermöglichen den Lernenden, ihr Repertoire an Erfahrungen beim Suchen und Finden von Informationen auszuweiten und zu verändern. Jeder Einzelne nutzt ein Informationssystem auf seine spezielle, individuelle Art und Weise. Relevant sind Beratung (Consulting) zur selbstgesteuerten Optimierung der Informationskompetenz, verbunden mit der Anregung zur Reflexion über den eigenen Lern- und Informationsprozess und dessen Fortschritte. Informationskompetenz ist nur kontext- und fachspezifisch als Lernerfahrung vermittelbar. Für die letzte These ist gerade auch Bruckmans Aufsatz ein Indiz.
Eine große Bandbreite von Aktivitäten zur Informationskompetenz-Förderung und im Auskunfts-Service der Bibliothek ist nötig, um die Kunden in ihrem aufnahmefähigen (teachable) Moment zu erreichen bzw. diesen zu nutzen. Dazu gehören u.a. die Integration von Modulen und Tutorials zur Förderung der Informationskompetenz in fachspezifischen Lehrveranstaltungen, aber auch außerhalb von Lehrveranstaltungen stattfindende Präsentationen oder eigene Lehrveranstaltungen der Bibliothek, das Angebot eines Online-Tutorials, die „just-in-time“-Beratung am Auskunftsplatz oder im Chat sowie Newsletter per Email, Plakate, Lesezeichen, Broschüren, usw. Eine zusätzliche Möglichkeit, das Bewusstsein über das eigene Informationsverhalten zu schärfen, könnten auch Kapitel und Anhänge zum Thema fachspezifischer Informationskompetenz in gängigen Lehrbüchern für Studierende sein.[Fn5]
Informationskompetenz ist mehr als Recherchekompetenz
Letztendlich aber können nur die Lehrenden die Informationskompetenz ihrer Studierenden wirklich beeinflussen. Optimal ist es, wenn diese agieren wie Amy Bruckman. Entscheidend sind nicht Extra-Kurse zur Vermittlung von Informationskompetenz, sondern der „subtile“ Zwang, sich diese in projekt-ähnlichen Studienteilen erarbeiten zu müssen. Zeit und Ort der Vermittlung von Informationskompetenz müssen so in das Curriculum integriert werden, dass die Studierenden aus ihrer Eigenverantwortung und aus ihrer Studienaufgabe heraus die Kompetenz des Umganges mit elektronischer Fachinformation selbststeuernd erlernen.
Der Aufsatz von Bruckman trifft den Kern, worum es beim Thema Informationskompetenz – auch über die Aktivitäten von Bibliotheken hinaus – primär gehen muss: um das ernsthafte Reflektieren über Information und deren Zuverlässigkeit und Seriosität im Rahmen des Studiums. Ein Bewusstsein über die soziale Konstruktion von Wissen und Wissenschaft ist nach Bruckman notwendig.
Fragen des geistigen Eigentums wachsen in einer „Copy-and-paste“-Umgebung. Die Bedeutung und Form des Zitierens von Informationsquellen als Problem der Informationsethik (Plagiarismus) und auch ein Bewusstsein von Themen der Informationspolitik (Urheberrecht, Zugang, Datenschutz) werden immer wichtiger.
Ein Verständnis von Wissenschaft als Diskurs im Laufe der Zeit wird ausgehend vom eigenen Hintergrund und dessen Bedeutung für das eigene Lernen erreicht, wenn Studierende selbst zur Forschung beitragen, ihr Wissen mit ihrer Studiengemeinschaft teilen und über ihre Lern- und Informationsprozesse reflektieren.[Fn6]
Bruckman berichtet von Problemen von Studierenden, zuverlässige und glaubwürdige Informationsquellen für ihre Hausarbeiten zu finden bzw. gefundene Quellen diesbezüglich zu bewerten. Tatsächlich wurde sie sogar schon gefragt, „where would I find a book?“. Angesichts der vorhandenen Quantität und Komplexität an Informationsquellen müsse gelehrt werden, wie Informationsquellen zu bewerten und zu nutzen sind. Studierende, so die Feststellung der Autorin, nehmen sich bei der Bearbeitung ihrer Studien- oder Abschlussarbeit selten Zeit, sich gründlich mit allen Informationsmöglichkeiten vertraut zu machen.
Ein Exkurs zum Thema „Google und Bibliotheken"
Die Ankündigung von Google im November 2004, die Bücher von fünf großen anglo-amerikanischen Bibliotheken zu digitalisieren und ins Netz zu stellen, hat nicht nur im Bibliotheksbereich viele neue Diskussionen ausgelöst.[Fn7] Zu diesbezüglichen Google-Aktivitäten gehört auch das Projekt Google Scholar mit dem ein großer Teil des „Deep Web“ in Google integriert werden soll. Schon zuvor hat die einfache „Google-Zeile“ den Bibliotheken einerseits als Vorbild gedient, andererseits wurde aber die Tatsache, dass Google den Suchmaschinen-Markt dominiert, auch als potentielle Gefahr gesehen.[Fn8] Die Tendenz, das Internet nur durch Google als Informationsmonopol zu sehen, korreliert mit der Gefahr, das Internet als einziges Tor zur Informationswelt zu nutzen.
Die Google-Digitalisierungs-Initiative führte schon zu interessanten Forschungsergebnissen, die manch euphorische aber auch kritische Sicht auf das Projekt relativieren. So führten statistische Untersuchungen von OCLC, dem Betreiber des amerikanischen Verbundkataloges WorldCat, zu folgenden Aussagen[Fn9]: Nur 33% des gesamten Bestandes vom WorldCat ist in den fünf Google (G5)-Bibliotheken vorhanden. Genauere Untersuchungen ergaben, dass nur 3 % der Bücher der G5-Bibliotheken in allen diesen vorhanden sind, 61 % nur in jeweils einer der fünf. Global gesehen stellte man fest: Nur 33% aller Medien im WorldCat sind in mehr als fünf Bibliotheken des WorldCat, 37% gar nur in einer enthalten.[Fn10]
Das Fazit „Rareness is common“ wirft ein eindeutiges Licht auf die Bedeutung der Bibliotheken für die kulturelle Überlieferung: Diese dürfte eher größer werden als kleiner, wenn schon im weltweit größten Verbundsystem mit überwiegend amerikanischen Bibliotheken ein großer Teil der Medien nur mit sehr wenigen Exemplaren vertreten ist. Die „Gefahr“ einer verstärkten Dominanz des Englischen durch die Google-Aktivitäten andererseits sollte nicht überbewertet werden. Gerade die großen amerikanischen Universalbibliotheken besitzen oft große fremdsprachige Bestände, die z.B. im deutschsprachigen Bereich durchaus den Beständen einer kleinen Universitätsbibliothek entsprechen können.[Fn11]
Der Aufsatz von Bruckman weist auf die Notwendigkeit einer generellen Reflexion über den Wissenschaftsprozess hin. Die Autorin thematisiert in ihren Kursen die erkenntnistheoretische Frage der Wahrheit: Was ist wahres Wissen? Wie entsteht wahres Wissen? Bruckman erwähnt den frz. Wissenschaftssoziologen Latour[Fn12], für den jede Wahrheit sozial konstruiert ist: Je mehr Personen eine bestimmte Annahme akzeptieren, umso mehr kommt diese der Wahrheit nahe. Das Bewusstsein über die Existenz von konkurrierenden Theorien zur Wahrheit und generell zur Wahrheit von Erkenntnissen in jedem existierenden Wissensgebiet steht dabei im Vordergrund. Dazu gehören auch die Funktion des Peer-Review-Prozesses und damit die Bewertung von Informationen und Publikationen.
Bruckmans Auffassung trifft sich aus meiner Sicht mit dem „domain”-analytischen Ansatz des dänischen Informationswissenschaftlers Birger Hjoerland[Fn13], der die Nutzer als Teil einer fachlichen Diskussions- und Diskurs-Gemeinschaft mit eigenen kulturellen und sozialen Strukturen begreift, die ein gemeinsames Vokabular und eine typische Informationspraxis teilt. Diese „sozio-kognitive” Sicht betont die Bedeutung der historischen Entwicklung dieser Gemeinschaften und ihrer Kommunikationsprozesse sowie ihrer Strukturen, Dokumenttypen und Institutionen wissenschaftlicher Kommunikation und Information.
Gerade auch in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sollten Veranstaltungen zur Wissenschaftstheorie sowie Wissenschafts- und Technikgeschichte verpflichtender Teil eines jeden Studiums sein. Beispiele sind ein Einführungskurs „Wissenschaftliche Erfahrung, Experiment, Beobachtung“ an der Universität Bern oder Kurse mit dem Titel „Research Methodology and Theory of Science“ am Royal Institute of Technology in Stockholm.[Fn14]
Hier können u.a. Arbeits- und Studientechniken bzw. Techniken oder Methoden wissenschaftlichen Arbeitens (Informations- und Literatursuche, Lesemethoden, Exzerpieren, wissenschaftliches Schreiben und Zitieren sowie Präsentation) reflektiert und praktisch geübt werden. Aber auch ein Hauptseminar „Wandel der Wissenschaftskommunikation“, das mit den Themen Publikation, Wissenschaftssystem, Zitation und wissenschaftliche Reputation, Digitalisierung, Open Access und Urheberrecht an der Universität Göttingen stattfindet, gehört zu immer wichtiger werdenden Lehrangeboten.[Fn15]
Diese Veranstaltungen könnten dann von Bibliotheken zusammen mit den Lehrenden genutzt werden, um Elemente der Informationskompetenz und die kulturelle Bedeutung der Überlieferung von Wissen und damit die Funktion von Bibliotheken bewusst zu machen. Bibliotheken bieten ein Abbild der Vielfalt der Welt der Information.
Sie fördern Reflexion über und Bewusstheit beim Umgang mit dem „Informationsdschungel“, ohne die eine „informationelle Autonomie“ (Kuhlen) lebenslang Lernender und mündiger Bürger nicht möglich ist.
Fußnoten
[Fn 1]
Vgl. Kuhlen, Rainer: Informationsethik. Umgang mit Wissen und Information
in elektronischen Räumen. Konstanz 2004. S. 169ff. (zurück)
[Fn
2]
Vgl. Bruckman, Amy S.: Student
research and the internet. In: Communications of the ACM 48(2005)12,
S. 35-37. Online bei Subskription verfügbar: http://www.acm.org/pubs/cacm/
Aufmerksam wurde ich auf diesen Beitrag durch eine Mail vom 12.12.2005
in der Liste ILI-L (Information Literacy Instruction List) mit dem
Subject "A faculty advocate for information literacy"
von Susan K. Boyd, siehe
http://lists.ala.org/wws/arc/ili-l/2005-12/msg00039.html
(zurück)
[Fn
3]
Siehe www.cc.gatech.edu/~asb/
(zurück)
[Fn
4]
Zum folgenden siehe auch Bieler,
Detlev; Hapke, Thomas und Marahrens, Oliver: Lernen, Informationskompetenz
und Visualisierung - Das Online-Tutorial DISCUS (Developing Information
Skills & Competence for University Students) der Universitätsbibliothek
der TU Hamburg-Harburg. In: ABI -Technik 25 (2005) 3, S. 162-181.
(zurück)
[Fn
5]
Dem Autor gelang es einen solchen
Text, mit dem Titel "The world of biotechnology information
- 8 points for reflecting on your information behavior", für
ein Lehrbuch zur Biotechnologie anzuregen: Buchholz, Klaus; Kasche,
Volker und Bornscheuer, Uwe Th.: Biocatalysts and enzyme technology.
Weinheim 2005. Appendix I, S. 419- 426. Für eine ausführlichere
Online-Version siehe www.tub.tu-harburg.de/2552.html
(zurück)
[Fn
6]
So z.B. nachvollziehbar demonstriert im College-Buch von Margit
Misangyi Watts: College: We make the road by walking (Upper Saddle
River, N.J.: Prentice Hall, 2003), das aufgeteilt in fünf „Journeys”
Studierende durch das Studium begleitet. (zurück)
[Fn
7]
Google Book Search unter http://books.google.com/
(zurück)
[Fn
8]
vgl. die Aktivitäten von SUMA, Gemeinnütziger Verein zur
Förderung der Suchmaschinen-Technologie und des freien Wissenszugangs
e.V. http://suma-ev.de/
(zurück)
[Fn
9]
vgl. Brian Lavoie, Lynn Silipigni Connaway, Lorcan Dempsey: Anatomy
of Aggregate Collections. The Example of Google Print for Libraries.
D-Lib Magazine 11(2005)9. www.dlib.org/dlib/september05/lavoie/09lavoie.html
(zurück)
[Fn
10]
Vgl. Schonfeld, R. and Lavoie, B. (2005) "Characterizing the
System-Wide Collection" (noch nicht veröffentlicht). Vorläufige
Resultate wurden unter dem Titel „A System-Wide View of Library
Collections“ auf dem Spring 2005 CNI Task Force Meeting vorgestellt.
Präsentation unter www.oclc.org/research/presentations/lavoie/cni2005.ppt
(zurück)
[Fn
11]
So sind von den G5-Beständen nur 49% englischsprachig, 10%
deutsch (das entspricht ca. 1,8 Millionen Bänden!), 8% Französisch,
5% Spanisch, 4% Chinesisch bzw. Russisch, 3% Italienisch und 2%
Japanisch. (zurück)
[Fn12]
Siehe u.a.: Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen
zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002. (zurück)
[Fn
13]
vgl. Hjoerland, Birger: Domain analysis.
A socio-cognitive orientation for information science research.
In: Bulletin of the American Society for Information Science and
Technology 30 (2004), 3. S. 17-21. (zurück)
[Fn
14]
vgl. Grasshoff, Gerd: www.philoscience.unibe.ch/lehre/winter99/experimente/index.html
und www.kth.se/student/studiehandbok/Kurs.asp?Code=1N1304&Lang=1.
Prof. Volker Kasche danke ich für die Anregung und den Hinweis
auf diese Kurse. (zurück)
[Fn
15]
Vgl. Mittler, Elmar ; Wittke,
Volker u.a. www.mediaconomy.de/index.php?type=veranst_br
(zurück)
Thomas Hapke ist Fachreferent für Verfahrenstechnik und Chemie, betreut auch die Fächer: Biotechnologie und Biologie, Mathematik, Physik und Umweltschutz an der Universitätsbibliothek der TU Hamburg-Harburg (www.tu-harburg.de/b/hapke/t_hapke.html).