Reprint: Schmölders, Claudia:
Die Bibliothek. In: Gegenworte. Hefte über den Disput über
Wissen. Heft 16, Herbst 2005: ORTE - RÄUME - ÜBERGÄNGE
Wissenschaft zwischen Schreibtisch & Web, Cluster & Jet,
Insel & Lab
(www.gegenworte.org)
Am 14. September 2005 wurde an der Freien Universität Berlin eine neue, eine gewaltige philologische Bibliothek eingeweiht, entworfen und gebaut vom Architekten der Reichstagskuppel, Sir Norman Foster. In seiner Eröffnungsrede erläuterte er den zugrunde liegenden Plan des inzwischen so genannten „Berlin Brain“:
„Wir stellten uns Cimatroffice [so der technische Name des Projekts] als durchsichtige, leichte Kuppel mit eigenem Mikroklima vor. Das Konzept brachte viele der zentralen Themen unserer Arbeit auf den Punkt: flexible Nutzbarkeit durch multifunktionale Räume, Energieeffizienz, größtmöglicher Innenraum bei kleinstmöglicher Außenfläche, leichtgewichtige Hüllen und Wände, sowie die Nutzung natürlichen Lichts und natürlicher Belüftung.“[Fn1]
Die Präsentation war ein großer Erfolg. Alle Teilnehmer waren begeistert von der hirnschalenartigen Kuppelform, der ökologischen Technik und der ästhetischen Gestaltung, vor allem von ihren hirnwindungsförmig geränderten Leseflächen, der weiß-grauen Farbgebung mit den wenigen bunten Tupfern in Gestalt knallroter Sessel, goldgelber Gestänge und dem Eingangsmaul. Eine moderne Bibliothek – ein Ort des Lernens, Wissens und des Austauschs von Wissen in jeder Hinsicht. Mit den 640 Leseplätzen für einen Freihandbestand von rund 700 000 Bänden, ausgestattet mit 100 so genannten „Recherche- Stationen“ und einer Öffnungszeit von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends wird dieses Institut zu einem Zentrum der Berliner Philologie. Elf Institute haben ihre Bibliotheken hier zusammengelegt.
Die Dahlemer Bibliothek ist kein Einzelfall. Auch die Humboldt-Universität baut sich eine neue Stätte des Wissens, die alte Staatsbibliothek Unter den Linden wird renoviert.
Und überhaupt: Seit und mit dem Desaster der brennenden Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar sind die Bibliotheken als Zentren von Kultur und Wissen in den Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit gerückt.
Und seit die elektronische Wissenswelt immer weiter wächst, werden Bibliotheken weltweit erbaut wie nie zuvor; man denke nur an die Bibliothek von Alexandria. Seltsam genug ist diese Entwicklung, wenn man bedenkt, dass doch gerade der rasende Fortschritt der elektronischen Technologien das Buch selber entbehrlich macht. Schließlich soll sich doch jeder Teilnehmer des elektronischen Netzes an jedem beliebigen Ort in den Besitz des Weltwissens setzen können.
Wozu dann noch Bibliotheken? Oder sind die neuen Paläste nur verkleidete Kultur-Treiber, so wie jeder Drucker einen Treiber hat? Denn machen wir uns nichts vor. Kultur und Wissen, das schreibt sich leicht nebeneinander hin, doch im bibliothekarischen Raum stoßen sich die damit gemeinten Sachen hart. Eigentlich handelt es sich um geheime Konkurrenten.
Kultur repräsentiert eine Bibliothek nicht nur durch ihren Bau, sondern vor allem durch ihre bleibenden Bestände, ihre Funktion als Erinnerungs- und Gedächtnisort.
Wenn wir uns vorstellen, wer in der Anna Amalia Bibliothek ein und ausging, wessen Bücher, Musikalien und Handschriften dort aufbewahrt wurden und nun also wieder restauriert werden müssen, rufen wir ein Kapitel deutscher Kulturgeschichte auf, ein sozialkulturelles Panorama. Manche der Stücke rühren uns, weil sie in der Geistesgeschichte Furore gemacht haben, andere begeistern uns mit ihrer materiellen Schönheit und Pracht – wie der gesamte Bau. Wieder andere gehen in die Gedenkgeschichte allein deshalb ein, weil ein berühmter Geist sich von ihnen hat inspirieren lassen, weil es Randglossen gibt oder Widmungen.
Goethe kann als eine Zentralgestalt dieser bibliothekarischen „Eigenkultur“ gelten. Nicht nur war er seit 1796 leitender Bibliothekar, er verlangte auch als Erster einen überregionalen Zentralkatalog. Gedacht war dieser vor allem für die Weimarer und Jenaer Bibliothek, um die Übersicht zu erleichtern sowie Doppel- und Mehrfachbestellungen zu vermeiden. Liebe zur Bibliothek war für Goethe ein elterliches Erbstück; auch sein Vater sammelte Bücher.
Und wer außer Goethe hat jemals Bibliothekare vor und hinter seinem Sarg schreiten lassen, zusammen mit der Familie?
Die Idee der Eigenkultur – analog gebildet zum Begriff der Eigenzeit – gehört zur öffentlichen ebenso wie zur privaten Szene der bibliothekarischen Existenz. In beiden Fällen geht es um Identitätsbildung, sei es im Horizont eines Individuums[Fn2], sei es eines Gemeinwesens wie der Nation. Als nationale Erinnerungsorte stehen Bibliotheken dann nicht als Hirn, sondern als Herz für eine bestimmte Kultur und werden auch so verstanden. Man denke nicht nur an die Bibliothek von Alexandria, sondern zum Beispiel an die Schlüsselrolle der belgischen Bibliothek von Löwen, die von den Deutschen gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Brand geschossen wurde: ein Akt der Destruktion, den die gesamte Kulturwelt damals kritisierte und dem Hunnentum der Deutschen zuschrieb.[Fn3]
Bibliotheken als Repräsentanten einer privaten Eigenkultur und Sammelleidenschaft fungieren als Orte „gefühlten Wissens“. Von Cicero bis Petrarca und weiter zu Montaigne und Borges gilt das Lob der gesammelten Bücher den darin sprechenden Autoren als einer geisterhaft anwesenden, wunderbaren Menschengruppe. Man denke an das Philobiblon des britischen Bischofs Richard de Bury, dem wir die erste und schönste mittelalterliche Liebes- und Höflichkeitserklärung an das Medium verdanken:
„Die Bücher sind Lehrer, die ohne Rute und Stöckchen, ohne zornige Worte, ohne Lappen und Schulgeld unterrichten. Sie schlafen nicht, wenn du kommst; sie verbergen sich nicht; sie lachen nicht als Antwort, wenn du einmal abschweifst; sie nehmen nicht Notiz davon, wenn du etwas nicht weißt. Ihr gebundenen Bücher allein seid ungebunden und frei. Ihr gebt jedem, der euch bittet; ihr helft allen, die euch fleißig dienen. Wieviel Tausenden gelehrter Männer habt ihr euch anvertraut, wenn sie in göttlicher Eingebung schrieben!“[Fn4]
So wie de Bury konnte man freilich nur bis zur Buchproduktion durch Gutenberg schwärmen, nur eben so lange, bis der Alptraum eines Bücherbergs in den Horizont seiner Leser rückte, und das tat er sehr bald. Schon 1550 konnte sich ein Antonfrancesci Doni beschweren, dass man nicht einmal mehr Zeit habe, auch nur die Titel der Bücher zu lesen. Dennoch hat sich die eigenkulturliche Bibliotheks-Leidenschaft bis heute gehalten, teils als pathologische Bibliomanie, teils aber als fruchtbare Erweiterung der allgemeinen Wissenskultur, ganz besonders der Kulturwissenschaft.
Der deutsch-jüdische Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) gilt heute als einer der Begründer dieser umstrittenen Disziplin. Aufgewachsen in einer Bankiersfamilie, erbat er sich als Erbe nicht etwa einen Posten in der Bank oder eine Auszahlung, sondern die Genehmigung, sich jedes gewünschte Buch kaufen zu können. Sein kunsthistorisches Studium bescherte ihm teuerste Werke. 1909 eröffnete er seine Bibliothek in Hamburg mit etwa 9.000 Bänden, übrigens im selben Jahr wie sein Lehrer Karl Lamprecht, der damals mit großem Anklang eine „Kulturwissenschaftliche Bibliothek“ in Leipzig eröffnete, um seiner komparatistischen Wissenschaftsvorstellung nachgehen zu können.
Als Fritz Saxl, der spätere Direktor, Warburg 1911 besuchte, fand er bereits 15.000 Bände vor. Warburgs Projekt war einerseits erfolgreicher als Lamprechts, andererseits gefährdeter. 1926, als Warburg nach einer bedrohlichen psychischen Erkrankung wieder in das Hamburger Geistesleben zurückkehren konnte, wurde in Hamburg ein Neubau eingeweiht.
Die Bibliothek steuerte nun auf 90.000 Bände zu, die dann aber unmittelbar nach 1933 nach London verschifft werden mussten, um sie vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen.
Das Motiv der Eigenkultur hat wohl niemand so ausdrucksvoll in bibliothekarisches Handeln umgesetzt wie Warburg. So ließ er den Lesesaal seines Baus, auch „Denkraum“ genannt, von einem Architekten nach dem Vorbild von Wolfenbüttel in elliptischer Form anlegen, weil für ihn Wissensaneignung, ja das Wissen selbst in ein Spannungsfeld gehörte.
Jede Ellipse hat bekanntlich zwei Pole, und zweipolig, meinte Warburg, war das Leben der Kultur, die sich in die Opposition von männlich und weiblich, Tag und Nacht, Rausch und Nüchternheit gliedert. Eigenkulturlich – und nicht nur eigenwillig – war aber auch die Anordnung der Bücher in den vier Stockwerken. Durch vier Etagen sollte der Benutzer in die Welt der Bilder (Bücher über Kunstgeschichte), der übergreifenden Orientierung (Bücher über Religion), des Wortes (Literatur und Literaturgeschichte sowie Bildungs-, Buch- und Bibliothekswesen) und schließlich der Handlung (Geschichte, Magie und Naturwissenschaften) geführt werden. Die genaue Reihenfolge ist heute umstritten.
Doch die Idee, die Bücher nach dem Gang aufzustellen, den das Wissen nehmen müsse, um sich zu konstituieren, war singulär. Sie bezog das diachrone Motiv des Aufbaus von Wissen im Erwerb und in der Aufstellung der Bücher auch auf deren Nutzer. Zum Dienst am Nutzer passte ebenso das eigentümliche Farbensystem der Aufstellung. Alle Themenbereiche erhielten eine eigene Farbleiste auf dem Rücken des Buches, also Philosophie, Religion, Literatur etc., so dass man bereits beim Vorübergehen ahnen konnte, in welchem Wissens- und Gedankenraum man sich befand.
Leider ließ sich das System nicht erhalten, weil die Farben mit der Zeit verblassten. Berühmt wurde die Bibliothek aber nicht nur durch ihre Anordnung, sondern durch den darin mitgedachten Wechsel. Immer wieder stellte Warburg selbst die Bücher um und gruppierte sie neu, gemäß dem Satz von der „guten Nachbarschaft“, d. h., von der inspirierenden Nachbarschaft von Büchern, die man eigentlich gar nicht gesucht, aber gefunden hat.
Der Satz hat Geschichte gemacht. Noch jüngst hat Uwe Jochum, Fachreferent an der Konstanzer Universitätsbibliothek, dieses Prinzip einer altmodisch räumlich angeordneten, dreidimensionalen Bibliothek gegen die neueren Tendenzen der Digitalisierung verteidigt.[Fn5]
Eher ausgespart blieb in diesem Kulturkapitel der Bibliothek als „Herz“ das Bild der Bibliothek als „Hirn“, eben als Stätte rastloser Forschung. Auch wenn sich unser „Berlin Brain“ nach außen als eleganter Bau präsentiert, will er doch von der Form her den Akzent ganz entschieden auf dieses legen. Zwar scheint das gemütliche Zeitunglesen oder Plauschen in den großen roten Sesseln erlaubt, wichtiger aber sind die kleinen schwarzen Terminals, um die eigentlich neurologische Arbeit zu verrichten: Vernetzung, Bildung von Synapsen, Synchronisierung der Informationen und so fort.
Die Rolle der Bücher in ihren raumübergreifenden Regalen schwankt zwischen den beiden Bestimmungen. Einerseits sind sie noch handgreiflich da, geradezu übersichtlich, andererseits verschwimmen ihre materialen Konturen mit den Informationslieferanten der elektronischen Konkurrenz. Warburg hat in einem überwältigenden Sinne Recht behalten: Die Bibliothek ist inzwischen grundsätzlich und geradezu dramatisch zweipolig. Von der Anlage her elliptisch, dient sie gleichzeitig der dreidimensionalen Greifnähe und den unbegreiflichen Ausdehnungen des virtuellen Raumes. Bedenkt man, dass wir heute mit einer Webeinrichtung wie Google Earth imstande sind, mit diesem virtuellen Raumwerkzeug jeden Punkt auf der Weltkugel nach Belieben von außen zu betrachten, wie ein Adler im Sturzflug, könnte man meinen, das antike Ideal des Wissens, der archimedische Punkt, sei erreicht. Und nicht nur erreicht, sondern geradezu vergesellschaftet; nicht mehr bloß Sache der einzelnen Weisen, deren planetarisch Bewegung der berühmte Traum des Scipio schildert, sondern eines jeden, der mit dem Computer arbeiten kann.
In einem Punkt ändert sich damit natürlich auch die Bibliothekswissenschaft. Nikolaus Wegmann schreibt in seiner eingehenden Erörterung dieses Umbruchs:
„Das alte Fach weicht einem Verständnis, das in der Bibliothek primär eine datenverarbeitungstechnische Aufgabe sieht, auf Datenbanken und Expertensysteme setzt und die traditionelle Bibliothek für ein Auslaufmodell hält. Die Bibliothekswissenschaft wird neu formiert als Teil einer allgemeinen Informationswissenschaft oder Infoscience. Die Reflexion über die Bibliothek wird mehr und mehr von scientometrischen Analysen aus der Wissenssoziologie oder der Betriebs- und Managerinformatik bestimmt.“[Fn6]
Auch wer nicht Bibliothekswissenschaft studiert, ist von diesen Entwicklungen betroffen. Die elektronische Bibliothek, in der man weder herumlaufen noch schwatzen, noch sozial aktiv werden kann, diese bodenlose Schatzkammer hat auch völlig neue Fragestellungen eröffnet. Ganz unabhängig von einem statischen Bau für die Scientific Community kann nun jeder Forscher mit seinem Laptop an jedem Ort arbeiten – oder mit verschiedenen Forschern an verschiedenen Orten gemeinsam. Entsprechend geändert haben sich die Ressourcen oder wenigstens der Zugang zu ihnen. Inzwischen sind gigantische Textbestände für jedermann verfügbar – man denke nur an das Grimm’sche Wörterbuch, das die Berlin-Brandenburgische Akademie (BBAW) ins Netz gestellt hat, oder an die ungeheuren Bildbestände von Google.. Die Vogelperspektive, das blickhafte Pendant zur Landkarte oder auch zur Mind Map, gewinnt auf allen Ebenen.
Die Schlüsselwörter dieser Forschung lauten auf den ersten Blick übrigens nicht mehr Experiment, Konzentration oder Begriffsbildung, sondern, diktiert von den so genannten „Menüs“ der Websites etwa: „Durchsuchen, Downloaden, Speichern, Versenden“ oder „Verzeichnis, Portal, Server, Datensatz, Tool, Laufwerk, Benutzername, Passwort, Konto, URL, Oberfläche“ oder „E-Zeitschrift, Volltext“.
Wer dies alles beherrscht und seine Forschungsaufgabe nicht aus dem Blick verliert, kann Erstaunliches vollbringen. Der Historiker Robert Darnton hat es versucht: In seiner Dankesrede zum Empfang des Gutenbergpreises 2004 schildert er, wie sein neues Buch über den Buchhandel im vorrevolutionären Frankreich als E-Book angelegt ist und zu benutzen sei:
„Diese Art von Buch setzt natürlich auch ein neues Leseverständnis voraus, ein sowohl vertikales wie auch horizontales Lesen. Es ist auch ein diagonales Zappen möglich, da in jedem einzelnen Abschnitt auch Landkarten, zeitgenössische Kupferstiche von den Bergpässen, von den Straßen und Plätzen der Städte, Berichte über das Leben in den Landgaststätten und Hyperlinks zu verwandten Themen in andere Dossiers gestreut werden. Jeder Leser kann sich seinen eigenen Pfad durch das Material legen. Jeder kann sich die Teile, die er besonders interessant findet, ausdrucken lassen, und jeder Ausdruck kann dank des neuen Printing-on-Demand-Verfahrens in Minutenschnelle beschnitten und gebunden werden. Als Ergebnis liegt dann eine schier endlose Variation maßgefertigter Taschenbücher vor, die den jeweiligen Interessen der Leser entsprechen. E-Books dieser Art verändern natürlich das Verhältnis zwischen Autor und Leser. Leser können auf der einen Seite zu Mitarbeitern, auf der andern Seite aber auch zu Gegnern des Wissenschaftlers werden, der die Komponenten für jedes einzelne Buch liefert. Obwohl die Materialpräsentation strikten akademischen Standards entspricht, kann jeder damit machen, was er möchte. So gibt es keinen festgelegten Text, und der Eigenmächtigkeit des Lesers sind keine Grenzen gesetzt.“[Fn7]
Alles fließt, heißt also die Devise. Das Buch soll im Strudel seiner Benutzung vergehen. Statt Hort einer unnachsichtigen Autorität zu sein, soll es nun dienen. Man kann es auch anders sagen: Wie sich in der Geschichte des Bildes das stille Bild in ein bewegtes aufgelöst hat, so wollen sich nun die stillen Bestände der alten Buchwelt in die Ströme der Information auflösen. Wie verhalten sich Wissen und Information zueinander? Kann ein Fluss überhaupt Wissen erzeugen, das nicht nur stromlinienförmig wäre? Müssen Wissenschaftler schwimmen lernen? Einer wie Darnton steht noch mitten im Fluss. Denn in Wahrheit stammt er ja aus der alten Welt, und man muss nur einen Moment lang nachdenken, um zu erkennen, dass er hier eigentlich den Besuch einer Bibliothek schildert.
Wie schon immer in dieser, so kann der Leser nun im E-Book nach Gutdünken Literatur, Kartenwerk und Illustrationen aussuchen und verwenden. Der Vorteil von Darntons Buch wäre, dass die Quellen sämtlich vorab wissenschaftlich geprüft wurden.
Und wirklich revolutionär ist sein Vorschlag für den Buchhandel und damit für das Budget der Bibliothek und der Leserschaft. Von drei Seiten her wird also unsere eigenkulturliche Bücherwelt durch die weltkulturliche Elektronik unterspült: von Seiten des Studiums, von Seiten der Wissensvermittlung und von Seiten der Speicherung, in die hinein sich das ganze statische Wissensmodell geradezu bionisch verziehen soll.
Die Bibliotheksarchitektur des „Berlin Brain“ an der Freien Universität bildet, mit anderen Worten, diesen ältesten Ort des Wissens so genau ab wie ein Kalendereintrag zur Geschichte der Wissensentwicklung ebendiese. Noch hält die Hirnschale die Bestände aus den zwei disparaten Wissenswelten eng zusammen, und zwar ungemein ausdrucksvoll. Mit ihren zwei Raumhälften will sie die beiden Hälften des Gehirns abbilden; mit den gewellten Rändern der Lesetische gar die Windungen der Großhirnrinde.
Die Leser jedoch sitzen am Rande jenes Raumes, dessen Innenwelt aus Büchern besteht, sie wenden ihm sogar den Rücken zu. In einer hochsymbolischen Vermittlungsaktivität lässt Norman Foster sie zwischen diesem Großhirnrand und dem Stammhirn der wirklichen Welt der Bücher hin und her laufen. Jedenfalls physisch könnte ihnen dabei sogar warm werden. Irgendwann werden sie wohl am Rand hängen bleiben.
Fußnoten
[Fn 1]
Foster, Norman: The Berlin Brain. In: Freie Universität Berlin,
Neubau der Philologischen Bibliothek. Berlin 2005.
(zurück)
[Fn
2]
Aleida Assmann hat dazu einen instruktiven
Band vorgelegt: Assmann, Aleida u. a. (Hg.): Sammler – Bibliophile
– Exzentriker. Tübingen 1998 (zurück)
[Fn
3]
Vgl. dazu: W. Schivelbusch: Die Bibliothek von Löwen. Eine
Episode aus der
Zeit der Weltkriege. München 1988. (zurück)
[Fn
4]
Bury, Richard de: Philobiblon.
In: Presser, H.: Das Buch vom Buch. Bremen 1962.S. 287f. (zurück)
[Fn
5]
Jochum, Uwe: Elektronischer Selbstbetrug, in: Faz.net vom 15. März
2005. (zurück)
[Fn
6]
Wegmann, Nikaolaus: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im
alexandrinischen
Zeitalter. Köln 2000. S. 27. (zurück)
[Fn
7]
Darnton, Robert: Eine anstrengende
Tour. Beschreibung eines E-Books. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 2004. (zurück)
Claudia Schmölders ist seit 1998 Privatdozentin am kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt- Universität zu Berlin und freie Autorin (www.claudiaschmoelders.de).