"Wir haben uns eine Bibi gemacht,
die ist für jedes Dorf gedacht.
In Fort de Hel kannst du sie sehen,
phantastisch ist's, dort hinzugehen.
Zum Lesen haben wir Maschinen dort,
die bringen uns Bücher immerfort.
Es ist nicht bequem, doch uns acht Kindern
kann das den Spaß am Lesen nicht mindern." [Fn1]
Die junge Dichterin Caroline weiß, wovon sie spricht. Zusammen mit sieben anderen Kindern aus der niederländischen Gemeinde Moerdijk hatte sie bei strömendem Regen ihr Zelt nahe einer verlassenen Festung aufgebaut, um mit einem Stapel Lieblingsbücher im Gepäck dem „Abenteuer Lesen“ ganz praktisch und erlebnisorientiert auf die Spur zu kommen. Am Ende dieser aufregenden und spannenden Erfahrung von Wechselbeziehungen zwischen persönlichem und gemeinschaftlichem „Leseleben“, Landschaft und Raum stand die Aufgabe, aus den dabei entwickelten Phantasien und Ideen eine Traumbibliothek zu planen und zu realisieren.
Das Ergebnis: „Die Bibliothek wird 2 m breit und 3 m lang, aufgeteilt in eine Hügellandschaft und eine Niederung. Der Fluss wird als Bücherstrom dargestellt, der See als Büchersee. Eine Scheune wird zum Bücherdepot. Die Widerstandsbücher liegen im Morast der Niederung versteckt. Mit Stoß- , Schiebe- und Blasmaschinen und mit vielerlei Auffangbehältern, Kränen und Seilbahnen werden die spannendsten Bücher zum Leser transportiert, die man dann wunderbar entspannt auf einem schaukelnden Wasserkissen lesen kann.“[Fn2]
Was für deutsche Bibliotheksplanerinnen und -verwalter gewiss reichlich utopisch und verrückt klingen mag, wurde in den Niederlanden tatsächlich Realität. Die durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „Zo & Zo – Museum von und für Kinder“ sowie von der Öffentlichen Bibliothek Klundert begleitete Aktion war Teil des Projektes „Bibliotheken 2040“, das anlässlich des 40jährigen Bestehens der Bibliothekszentrale der Provinz Nordbraband im Jahre 2000 durchgeführt wurde und im freien Spiel von Gedanken und Visionen sieben Zukunftsbibliotheken entstehen ließ. Dazu gehörte auch diese von und mit Kindern entwickelte und geführte so genannte „Partisanen-Bibliothek“, für die nicht zuletzt die Lieblingsbücher selbst zur Inspirationsquelle wurden.
Nun lesen sich Positionspapiere und Bestandsaufnahmen zur Gegenwart und Zukunft von Öffentlichen Bibliotheken in Deutschland[Fn3], speziell auch zu Kinderbibliotheken[Fn4] , im Vergleich dazu meistens anders. Ihre Bedeutung als Lernort wird betont, die Förderung von Lese- und Medienkompetenz „seit PISA“ mit diversen Maßnahmen bedacht, die veränderten Anforderungen durch ständig wachsende Informations- und Medienangebote beschrieben und der Inszenierung von Kinderkultur durch Theater, Feste und Lesungen eine große Bedeutung beigemessen.
Eher selten werden die Kinderbücher und die Kinder mit ihrem „Leseleben“ selbst befragt, wenn es darum geht, Visionen und Bilder für eine kindgerechte Bibliothekskultur entstehen zu lassen – zunächst in der Phantasie und dann auch in der Realität. Die Entdeckerinnen und Entdecker der literarischen Kinderexpedition beim Projekt „Bibliotheken 2040“ sind da einen ungewöhnlichen und bisher vermutlich einzigartigen Weg gegangen: Sie haben sich bewusst von ihren Lieblingsbüchern und den damit verbundenen Leseerlebnissen inspirieren lassen: neugierig, bewegt, forschend, solidarisch und individuell, abenteuerlustig, kreativ und offen für überraschende Entdeckungen. Und sie haben diese Erfahrungen in ihre Traumbibliothek einfließen lassen und sich damit zu Mitgestalterinnen und Mitgestaltern einer eigenen Kinderbibliothekskultur gemacht, mit der sie in gleicher Weise umzugehen verstehen: eben neugierig, bewegt, forschend, solidarisch und individuell, abenteuerlustig, kreativ und offen für überraschende Entdeckungen.
Interessanterweise deckt sich diese Beobachtung in vielerlei Hinsicht mit jenem Bild, das durch Bilderbücher und erzählende Kinderbücher von Bibliotheken literarisch vermittelt wird. Denn in nicht wenigen Büchern für junge Leserinnen und Leser werden Bibliotheken zum Ausgangsort von Spannung und Abenteuer, laden ein zu seltsamen Begegnungen oder erweisen sich als Rettung und Zuflucht bei Gefahr. Die Kinderbücher selbst taugen also, so möchte man meinen, durchaus als Impulsgeber und Planungshelfer für eine Kinderbibliothekskultur, wie sie den wirklichen Wünschen und Phantasien der Kinder offenbar sehr nahe kommt.
Die fünf nachfolgend formulierten und mit entsprechenden Kinderbuchtiteln belegten Thesen sind als ein Versuch anzusehen, die wichtigsten kinderliterarischen Bibliotheksbeschreibungen nach den darin enthaltenen Botschaften zu systematisieren, um sie so für ein Nachdenken und Diskutieren über Vision und Wirklichkeit von Kinderbibliothekskultur zu erschließen.
Nicht zuletzt trägt ein solcher Streifzug durch literarische Kinderbibliotheksorte auch der Leidenschaft vieler Bibliothekarinnen und Bibliothekare Rechnung, sich der Bedeutung und esonderheit der eigenen beruflichen Identität zu vergewissern – um diese im nächsten Moment vielleicht selbstkritisch zu hinterfragen. Schließlich fordert das Schöpferische, das jedem kulturellen Handeln innewohnt, immer auch die eigene Wandlungs- und Innovationsbereitschaft heraus. Und wer könnte das den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren besser beibringen, als die Bücher selbst?
These 1: Die Bibliothek ist ein magischer Ort - und die Bibliothekarin ist eine Zauberin
„Eines Tages tauchte ein geheimnisvolles Baumhaus im Wald von Pepper Hill in Pennsylvania auf“ wird rückblickend am Anfang eines jeden Bandes der populären Serie „Das magische Baumhaus"[Fn5] der amerikanischen Autorin Mary Pope Osborne berichtet. „Das Baumhaus gehörte Morgan, einer Zauberin und Bibliothekarin, die durch Zeit und Raum reiste, um Bücher für die Bibliothek am Hof des Königs Artus zu sammeln“, heißt es dann weiter. Bald werden die Geschwister Phillipp und Anne von Morgan selbst zu Meister-Bibliothekaren ernannt. Denn angeregt durch die Bücher, die sie im Baumhaus finden, lösen sie viele Rätsel und begeben sich auf abenteuerliche Reisen in die Vergangenheit. So simpel und bei aller Spannung durchaus belehrend das Handlungsmuster dieser populären Buchreihe gestrickt ist, so erstaunlich ist der Erfolg, den die Bände bei Kindern genießen: Ein Baumhaus voller Bücher, das in magischer Weise durch Zeit und Raum saust und eine verzauberte Bibliothekarin, in deren Gegenwart das Unmögliche möglich scheint, ergeben in einer Zeit der weltweiten Vernetzung durch das Internet ein eher antiquiert anmutendes Bild – und verfehlen doch ihre magische Wirkung nicht. So sind es neben den virtuellen Wissensräumen, die am PC täglich in vielfältiger Weise besucht werden können, doch offenbar auch und gerade sinnlich erfahrbare Räume wie eben dieses Baumhaus, von denen eine große Faszination ausgeht.
Das gilt auch für „Bibbi Bokkens magische Bibliothek"[Fn6], die von dem norwegischen Autor Jostein Gaarder mit geradezu sinnlicher Liebe zur Ästhetik des „schönen Buches“ beschrieben wird: „Alle vier Wände waren mit Büchern bedeckt und es gab nicht nur Bücherregale. Ich sah auch Bücherkisten in unterschiedlichen Farben. Zwischen den Regalen standen außerdem prachtvolle Bücherschränke mit Glastüren. Ich sah nicht ein einziges Paperback oder Taschenbuch. Viele Bücher waren sehr alt, aber es gab auch allerlei neue.
Und alle Bücher waren unglaublich schön. Ich musste an die Glasmalereien großer Kathedralen denken – an Mosaiken, die nichts besonderes darstellen sollen, die aber ein schönes Bild ergeben, weil die Farben so gut zusammenpassen. Ungefähr so kam es mir vor, als ich in Bibbi Bokkens Bibliothek stand.“[Fn7] Ohne Magie kommt natürlich auch diese Reise in eine unterirdische Bibliothek nicht aus. Bücher brauchen also geheime Orte, die gern auch etwas unheimlich sein dürfen. Dabei scheinen Bücher wie ein Zaubermittel gegen Angst zu wirken. Was mit der folgenden These noch in ganz anderer Weise Bestätigung findet:
These 2: Die Bibliothek bietet den Kleinen und Schwachen Zuflucht und Schutz – und aus ihren Büchern und Geschichten erwächst Mut und Rettung
„Lesen ist wie fliegen“, meint die kleine Lillimaus in Willi Fährmanns Tierfabel „Der überaus starke Willibald"[Fn8]. Dabei ist das aufmüpfige Mäuschen gewiss nicht in die Bibliothek verbannt worden, um dort ein so großes Gefühl von Freiheit zu erleben. Für Lillimaus aber ist die Verbannung alles andere als eine Strafe: „In der Bibliothek ist es wie in einer verwunschenen Schatzhöhle. Tausend verschlossene Schatzkisten und ich habe den Zauberschlüssel dazu (...)Tausend Bücher und in jedem Geschichten, Geschichten, Geschichten"[Fn9], versucht Lillimaus die anderen Mäuse von der Kraft des Lesens zu überzeugen. Bald merkt sie: Wer liest, der weiß mehr.
Und wer mehr weiß, hat weniger Angst und lässt sich nicht mehr so leicht einschüchtern. Schlechte Zeiten für den tyrannischen Willibald!
Schlechte Zeiten ebenso für Kater Kasimir in dem Bilderbuch „Bertram und Kasimir"[Fn10] . Der hätte den Mausejungen Bertram längst gefressen, wären da nicht die vielen Geschichten, die dieser zu erzählen weiß. Scheherasade lässt grüßen, wenn Bertram am Ende sich und anderen mit seiner Erzähllust das Leben rettet. Woher er all die Geschichten kennt? Aus der Bibliothek natürlich!
Die bleibt auch dann ein heimeliger Ort, wenn sich die Kinder unfreiwillig in der bibliothekseigenen Toilette einsperren. Glaubt man dem Bilderbuch „Abgeschlossen"[Fn11] von Marjan De Smet und Marja Meijer, so verliert selbst eine solche Gefängniszelle ihren Schrecken, wenn nur genug Lesestoff bereit liegt. Auch für den ängstlichen kleinen Richie aus dem Buch „Der Herr der Worte"[Fn12], frei nach dem Steven Spielberg Film „Pagemaster“, wird die Bibliothek mit all ihren Geschichten zur Retterin in der Not. Mit den Helden der Jugendbuchklassiker lernt er hier eine Menge Abenteuer zu meistern und merkt am Ende: Erst eine kräftige Portion Entdeckergeist und Mut zum Risiko nimmt der Angst die Macht und lässt den eigenen verborgenen Fähigkeiten Flügel wachsen. Da fliegt die Phantasie gern mit!
These 3: Die Bibliothek ist das Tor zu mehr Phantasie – und in der Phantasie ist alles möglich
In der „Geisterbibliothek"[Fn13] von David Melling fehlt es nicht an Platz für Bücher in den Regalen, wohl aber an eben dieser so nötigen Phantasie, um die Bibliotheksregale mit Leben und Geschichten zu füllen. Bis das Mädchen Bo samt Lieblingsbuch von den Geistern etwas unsanft aus dem heimischen Bett gezerrt wird, um kurze Zeit später zwischen den tristen Regalen mit der ersten Lektion der „Geschichtenerfindekunst“ zu beginnen. Und die Geister erweisen sich durchaus als lernfähig. Bald wandelt sich die große Leere in eine reiche Fülle von Büchern und Ideen.
Wohin es führen kann, wenn sich in der Bibliothek alle Türen ins Reich der Phantasie öffnen, erleben auch Ulla und Bruno in dem von Nikolaus Heidelbach erdachten und illustrierten Bilderbuch „Ein Buch für Bruno"[Fn14] auf recht dramatische Weise: Sie schlagen in der Bibliothek die Seiten eines geheimnisvollen Bildbandes auf – und schon geraten sie mitten hinein in nie gesehene Landschaften mit sonderbaren Fabelwesen.
Doch in so entlegene Welten muss die Phantasiereise gar nicht immer führen. Bei dem großen Altmeister der Phantasie, Hans Christian Andersen, erinnern bereits die vertrauten Straßen eines kleinen Städtchens an den unerschöpflichen Geschichtenschatz von Bibliotheken: „Wenn ich durch die Straßen der Stadt gehe, kommt es mir vor, als ginge ich durch eine große Bibliothek; die Häuser sind die Bücherregale, jede Etage ein Brett mit Büchern. Hier steht eine Alltagsgeschichte, dort eine gute alte Komödie, wissenschaftliche Werke aus allen Gebieten, hier Schundliteratur und gute Lektüre. Ich kann über all diese Bücher philosophieren und phantasieren“, lässt er einen Dichter in seinem Märchen "Tante Zahnweh" erzählen[Fn15]. Gern malt man sich beim Lesen aus, welche Menschen die Wohnungen und Zimmer bevölkern und welche Begegnungen sich dort ereignen. Sie sind es, die Leben und Farbe in die Geschichten bringen – und in die Bibliotheken natürlich auch!
These 4: Die Bibliothek ist einladend und offen für (sonderbare) Begegnungen - und bei aller Ordnung immer auch ein bisschen ver-rückt
Unter den Begegnungen in Bibliotheken ist vor allem die mit der Bibliothekarin oder dem Bibliothekar von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Das wissen auch die Brüder Tim und Marty in dem Buch „Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy"[Fn16] des irischen Autors Eoin Colfer. Die haben vor eben dieser Begegnung schreckliche Angst und würden um die Bibliothek am liebsten einen großen Bogen machen. Denn Knolle Murphy, die Herrscherin im Reich der Bücher, regiert mit unbarmherziger Härte und schießt schon gern mal mit Kartoffeln, wenn die Kinder sich nicht an die strengen Vorschriften in der Bibliothek halten. Weil Tim und Marty sich aber nicht vor einem Bibliotheksbesuch drücken können, nehmen sie die unheimliche Begegnung der bibliothekarischen Art wie ein Abenteuer auf sich – und lernen den rauen, unverwechselbaren Charme ihrer Kontrahentin am Ende von einer durchaus sympathischen Seite kennen.
Auch in dem Buch „Winn-Dixie"[Fn17] der amerikanischen Autorin Kate DiCamillo geben Bibliothek und Bibliothekarin keineswegs ein perfektes Bild ab: Die Herman-W.-Block-Gedenkbibliothek wirkt eher klein und unscheinbar und über die dort tätige Miss Franny lässt sich kaum etwas anderes sagen. Umso stärker ist ihre Gabe, Geschichten zu erzählen und die Kinder mit einer faszinierenden Mischung aus Spannung, Warmherzigkeit und Phantasie daran teilhaben zu lassen. Da fällt es schon beim Lesen nicht schwer, sich vorzustellen, wie sich einst ein Bär in dieser Bibliothek verirrte und mit einem Buch unterm Arm wieder abzog.
In der Geschichte „Mama Muh in der Bücherei"[Fn18] der Autoren Jujja und Thomas Wieslander, illustriert vom „Pettersson-und-Findus-Schöpfer“ Sven Nordqvist, geht es kaum weniger verrückt zu. Anstelle eines Bären macht es sich dort eine Kuh zwischen den Regalen gemütlich. Und wieder gibt sich die Bibliothekarin tolerant, lässt sich davon kaum aus der Fassung bringen und drückt sogar bei der fehlenden Unterschrift des Erziehungsberechtigten für die Kuh ein Auge zu. Ganz nach der Devise: Ein bisschen ver-rückt ist erlaubt, auch und gerade in der sonst so peniblen Ordnung einer Bibliothek.
Dumm nur, wenn durch kleinere oder größere Verrücktheiten dann wirklich mal ein begehrtes Buch auf unerklärliche Weise verschwindet. So geschehen in dem Bilderbuch „Tom Tapir Bücherdetektiv“[Fn19]. In diesem Fall führt die Spur zur Elster, die beim Anblick des goldenen Buchrückens im Regal einfach nicht widerstehen konnte. Am Ende gilt auch hier: Das Schönste und Wichtigste in der Bibliothek bleiben die Geschichten, die mit Phantasie und Leidenschaft gelesen, vor allem aber lebendig erzählt sein wollen!
Dass sich vor allem vergessliche Leserinnen und Leser die Kunst des Geschichtenerzählens zu Nutze machen können, verrät das Buch „Tut mir leid!“[Fn20] . Da muss sich der kleine Kunde einer Kinderbücherei ein ganzes Jahr lang etliche Geschichten einfallen lassen, um zu erklären, warum er das entliehene Buch nicht pünktlich zurückgeben kann. Das „Fräulein“ in der Bibliothek trägt die Sache mit einer Mischung aus Groll, Humor und Staunen – so bunt wie ihr wechselndes Outfit und findet das vermisste Stück am Ende mit lieben Grüßen unterm heimischen Tannenbaum wieder.
These 5: Die Bibliothek ist niemals statisch – und steckt immer voller Überraschungen und Möglichkeiten der Verwandlung und Mitgestaltung
Langweilig und gleichförmig wirken Bibliotheken in Kinderbüchern nie. Vor allem dann nicht, wenn anstelle von „Fräuleins“ oder auch betagteren Wächterinnen und Wächtern im Zauberreich der Worte die Kinder selbst die Planung, Verwaltung und Leitung in die Hand nehmen.
Der polnische Kinderarzt, Waisenheimleiter und Buchautor Janusz Korczak (1878-1942) beschreibt eine solche Klassenbibliothek unter der Regie eines Schülers in seinem Kinderroman „Der Bankrott des kleinen Jack“ so: „Die ganze Klasse fing an zu lesen, dass es nur so surrte. Früher hatten nur James und Harry ab und zu über Bücher gesprochen, jetzt sprachen fast alle davon. Jack kaufte noch ein sehr nützliches Buch, nach dessen Anleitung man mit den Händen Schattenspiele an die Wand zaubern kann (...) Die Lehrerin versuchte sogar zu erklären, wieso sich der Schatten bildet, aber das konnten nicht alle verstehen (...) Dann wieder dachten sich die Jungen Zahlenrätsel aus und machten Scharaden. Morris zeichnete ein von ihm selbst erfundenes Bilderrätsel. Phil schrieb zusammen mit Sill ein Gedicht und Barnum komponierte eine Melodie dazu, so daß man es singen konnte. Sie redeten oft darüber, welches Buch schön und welches langweilig war, wer lieber historische und wer lieber phantastische Romane las. Gade war begeistert, weil er nach den Anleitungen aus dem Buch ’Blumen- und Tierzucht’ seinen Hund beigebracht hatte zu bitten, zu wachen, zu apportieren und sogar den Buchstaben A zu erkennen. ’Wenn ich dem Hund lesen beigebracht habe, bringe ich ihn mit in die Schule.’ Mit einem Wort, in der dritten Klasse entwickelte sich eine rege geistige Bewegung.“[Fn21]
Ganz auf sich allein gestellt scheint dagegen der kleine Kunz, der in Albert Wendts Buch „Das Hexenhaus“[Fn22] vom Bürgermeister höchstpersönlich beauftragt wird, in eben jenem kleinen gruseligen Gemäuer eine Bibliothek einzurichten. Zwar kommt etwas Hilfe von der einen oder anderen Seite, so dass die Ausleihe bald beginnen kann – doch dann bleiben die Leser aus. Da werden die Büchergeister in den Regalen selbst aktiv und sorgen für ziemlich viel literarischen Wirbel in der Stadt.
Literarische Bibliothekswelten versus reale Bibliothekswirklichkeit
Vielleicht kommt irgendwann ein Autor oder eine Autorin auf die Idee, den Traum der niederländischen Kinder von einer „Partisanen-Bibliothek“ in einem Kinderbuch zu verarbeiten.
Genug Spannung, Phantasie und Abenteuerlust steckt in dem außergewöhnlichen Projekt allemal.
Was aber ließe sich aus den „ganz normalen“ Kinderbibliotheken in Städten und Gemeinden berichten? Ist in ihnen etwas von jener Phantasie und Magie, Skurrilität und Verrücktheit lebendig und spürbar oder sind all diese Eigenschaften den Bibliotheken in der Literatur eher „angedichtet“ und fern der realen bibliothekarischen Wirklichkeit? Hat ein modernes Bibliotheksmanagement alle Unberechenbarkeiten und Kuriositäten aus dem Alltag einer Kinderbibliothek verbannt oder haben sich die kleinen Überraschungen und Wunder doch noch das eine oder andere Schlupfloch bewahrt, um immer mal wieder zur Freude der Kinder die allzu glatten Abläufe zu durchkreuzen?
Warum dreht sich selbst in den neueren literarischen Schilderungen von Bibliotheken alles nur um Geschichten und Bücher, während andere Bibliotheksmedien wie Computer, Tonträger oder Filme dort praktisch keine Rolle spielen? Hält sich das alte Bild von der traditionellen Bibliothek, die ausschließlich Bücher im Angebot hat, so hartnäckig in den Köpfen der Autoren oder eignen sich Internet und Datenträger einfach nicht in gleicher Weise zum Erfinden und Erzählen von so phantastischen Bibliotheksabenteuern? Haben dort, wo das weltweite Netz scheinbar unbegrenzt zu virtuellen Reisen auf der Datenautobahn einlädt, die Phantasiereisen aus der Bücherwelt ihren Zauber verloren oder ist diese Facette möglicher medialer Bibliotheksabenteuer einfach noch nicht für die Literatur entdeckt worden?
Und wie kommt es, dass die Bibliothekshelden der Kinderliteratur mehrheitlich männlich sind, während die Jungen in realen Bibliotheken bekanntlich eine Minderheit ausmachen? Belegt diese Beobachtung einmal mehr, dass Jungen sich eher durch spannende Erlebniswelten locken lassen, die in den Bibliotheken der Literatur ja durchaus gegeben sind, während es realen Bibliotheken oft gerade an diesen Erlebnis- und Spannungsmomenten fehlt?
Viele Fragen tun sich bei einer Betrachtung von literarischen Kinderbibliothekswelten versus realer Kinderbibliothekswirklichkeit auf. Vielleicht sind die Antworten auf einem Weg der Integration zu suchen, der Vision und Wirklichkeit nicht auf getrennte Bahnen führt, sondern die Spannungen und Widersprüche zwischen beiden als positive Energie zu nutzen weiß. Etwa so, wie es Rafael Capurro in seinem Aufsatz über Medienwirklichkeit versus Bibliothekskultur[Fn23] am Ende auf den Punkt bringt: Wie er das Miteinander von neuen Technologien und einem ausgereiften Hightech-Niveau in weltweit vernetzten Bibliotheken einerseits und der wachsenden Bedeutung ihres musischen und lokalen Charakters andererseits als Herausforderung für eine integrierende Bibliothekskultur beschreibt, in der beides miteinander verzahnt ist, so mag sich am Schluss dieses Aufsatzes auch über eine zeitgemäße Kinderbibliothekskultur sagen lassen:
Traumbibliotheken wie die der Kinder von Moerdijk oder die phantasievollen und abenteuerlichen Bibliotheken der Kinderliteratur taugen gewiss nicht als alleinige Antwort auf die Frage, welche Bibliothekskultur Kinder wollen und brauchen. Doch sollten sie einem als Denkanstoß, Spielart oder Korrektiv nicht aus dem Sinn gehen. Eine davon inspirierte Kinderbibliothekskultur kann sich in kreativer, lebendiger und kommunikativer Weise den phantastischen Möglichkeiten der neuen Medien öffnen und im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Verantwortung ein eigenes Leitbild entwickeln.
Dass Kinder in Bibliotheken immer auch einen sinnlich und sozial erfahrbaren Erlebnisraum suchen, dass von diesem Raum schöpferische Impulse ausgehen, dass sie sich dort als Persönlichkeiten geschützt, geachtet und unterstützt fühlen dürfen, dass Begegnungen mit Menschen dabei eine wichtige Rolle spielen und dass mit zauberhaften und überraschenden Momenten stets zu rechnen ist, solange die Phantasie und die Freude an Geschichten nicht aus den Bibliotheksräumen verschwindet – daran mögen die Kinderbücher immer wieder erinnern.
Fußnoten
[Fn 1]
Rob Bruijnzeels, Nicoline van Tiggelen: Bibliotheken 2040. Die Zukunft
neu entwerfen. Aus dem Niederländischen von Ute Klaasen. Bad
Honnef 2001. S.47. (zurück)
[Fn
3]
Umlauf, Konrad: Die Öffentliche Bibliothek als Lernort. Bestandsaufnahme
und Perspektiven. Berliner Handreichung zur Bibliothekswissenschaft
76. Berlin 2001. (zurück)
[Fn
4]
Bibliotheksarbeit für Kinder.
Ein Positionspapier. Hrsg. von der Kommission des DBI für Kinder-
und Jugendbibliotheken. Berlin 1997. (zurück)
[Fn
5]
Mary Pope Osborne: Das magische Baumhaus. Bindlach 2004. (zurück)
[Fn
6]
Jostein Gaarder, Klaus Hagerup: Bibbi Bokkens magische Bibliothek.
München 2001. (zurück)
[Fn
8]
Willi Fährmann: Der überaus
starke Willibald. Würzburg 1983. (zurück)
[Fn
9]
Ebd. 16. Aufl. 2004, S.70. (zurück)
[Fn
10]
Anne Jonas, Francois Crozat: Bertram
und Kasimir. Vom Abenteuer Lesen. Esslingen 1999. (zurück)
[Fn
11]
Marjan de Smet, Marja Meijer: Abgeschlossen.
Oldenburg 2001. (zurück)
[Fn12]
David Kirschner, Ernie Contreras: Der Herr der Worte. Richies fantastische
Reise durch das Land des Lesens. München 1993. (zurück)
[Fn
13]
David Melling: Die Geisterbibliothek.
Hamburg 2005. (zurück)
[Fn
14]
Nikolaus Heidelbach: Ein
Buch für Bruno. Weinheim 1997. (zurück)
[Fn
15]
Hans Christian Andersen:
Tante Zahnweh. In: Sämtliche Märchen und Geschichten Bd.
2. Leipzig 1990. S.525. (zurück)
[Fn
16]
Eoin Colfer: Tim und das
Geheimnis von Knolle Murphy. Weinheim 2005. (zurück)
[Fn
17]
Kate DiCamillo: Winn-Dixie.
München 2000. (zurück)
[Fn
18]
Jujja und Thomas Wieslander,
Sven Nordqvist: Mama Muh in der Bücherei. In: Mama Muh und
die Krähe. Hamburg 1995. (zurück)
[Fn
19]
Laurence L., Jean-Baptiste
Baronian: Tom Tapir Bücherdetektiv. München 1996.
(zurück)
[Fn
20]
Jo Furtado, Frédéric
Joos: Tut mir leid! 12 fabelhafte Ausreden für vergeßliche
Kinder. Hamburg 1988. (zurück)
[Fn
21]
Janusz Korczak: Der Bankrott
des kleinen Jack. In: Sämtliche Werke, Bd.12. Gütersloh
1998 ff. S. 62-63. (zurück)
[Fn
22]
Albert Wendt: Das Hexenhaus. Berlin 1999 .(zurück)
[Fn
23]
Rafael Capurro: Medienwirklichkeit
versus Bibliothekskultur. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 20
(1996) 2. S. 245-252. (zurück)
Susanne Brandt studierte Bibliothekswesen und Kulturwissenschaften und ist als Referentin in der Leseförderung sowie als Leiterin eines ländlichen Büchereisystems in Ostfriesland, Mitglied der Expertengruppe „Kinder- und Jugendbibliotheken“ des Deutschen Bibliotheksverbandes tätig.