Dem Gebrauch von Kulturbegriffen haftet in unserer „Kultur“ durchaus etwas Inflationäres an: „Ohne die Beschwörung von 'Streitkultur’ geht hierzulande kein Kreisparteitag zu Ende; das Spektrum reicht vom Mangel an 'Dienstleistungskultur’ über die ausbaufähige 'Kultur des Miteinander’ bis zum Aufstieg der 'Unternehmenskultur’. Aber auch die älteren Kampfsprachen der Ideologien, 'Rassen’ und Nationen kommen nun im Schafspelz der Kultursemantik daher: Vom 'Kampf der Kulturen’ spricht Samuel Huntington.“[Fn1]
Warum also nicht auch von einer „Bibliothekskultur“ sprechen?
Möchte man den Begriff Bibliothekskultur näher definieren bzw. überprüfen, ob diese Wortbildung als Terminus überhaupt in irgendeiner offiziellen Form existiert, sie brauchbar ist und wenn ja, wie – dann hilft vielleicht der Blick in verschiedene Lexika in Armlänge, um eine Arbeitsgrundlage zu bilden. Interessanterweise – aber nicht unerwartet – findet sich nirgends eine Definition, die sich explizit auf den Begriff Bibliothekskultur bezieht.
Dennoch wird er in verschiedenen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Assoziationen immer wieder in bibliotheksrelevanten Beziehungen verwendet, etwa im Zusammenhang mit der Bedeutung der Bibliothek in einem bestimmten kulturellen Umfeld, ebenso ist damit das kulturelle (öffentlichkeitswirksame) Angebot von Bibliotheken gemeint oder auch die Kultur innerhalb des Berufsstandes als Identitätsvehikel, das unter anderem in der Sammelleidenschaft von Librariana seinen Ausdruck findet – mehr dazu auch in der vorliegenden Ausgabe.
„Wandelmütige“ Kulturbegriffe, d.h. der nahezu in alle Ritzen menschlicher Aktivität „hineinwuchernde“ Gebrauch sprachlicher Variationen über dieses arme Wort ziehen sich obendrein quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen, also der Wissenschaftskultur und von da zurück durch alles, was irgendwie mit Gesellschaft zu tun hat.
Andere Perspektiven, andere Definitionen: So gibt es Ansätze der Definition über verschiedene Gruppen von Artefakten, über einen Gegenstandsbereich für ein Publikum oder Experten, schließlich auch als die Umschreibung all dessen, was einem in anderen Gesellschaften „fremd“ vorkommt.[Fn2]
Nicht selten meint Kultur im heutigen Sprachgebrauch auch eine Ganzheit, einen organischen Zusammenhang, der nicht über die Wahrnehmung der einzelnen Bruchstücke unserer postmodern zerlegten Realität eingefangen werden kann, sondern einer Zusammenführung, Addition der einzelnen Teile, die getreu einer alten Alltagsweisheit mehr als ihre reine Summe ergibt.
In einem besteht zunächst einmal Einigkeit: Kultur in der Sphäre, die uns hier interessiert, ist immer an den Menschen geknüpft. Selbstverständlich gibt es Bakterienkulturen, jedoch erstens vermutlich nur durch die menschliche Forschungsbrille – also culturocentric – gesehen und zweitens nach unserem Wissen ohne funktionierendes Bibliothekswesen.
Der Kulturbegriff, der unserem Anliegen recht nahe kommt, findet sich in Otfried Höffes „Lexikon der Ethik“ folgendermaßen ausgedrückt:
„(lat. Colere: bauen, gründen) umfaßt im Unterschied zur gewachsenen Natur den vom Menschen geschaffenen Lebensraum. In einem traditionellen Verständnis wird Kultur im Sinne der geschichtlichen Kulturwerke als Ergebnis eines Handelns, das seinen Zweck in sich selbst hat, von Zivilisation als instrumentaler, funktionaler, von sozialen Zwecken bestimmter Lebensform unterschieden.“ [Fn3]
Ursächlich ist also das Handeln mit seinem inneren Zweck, das dem Menschen die Gestaltung eines von der reinen Natur – also dem Vorgegebenen, das man genau genommen aber auch bis ins Metaphysische hinein zerdefinieren kann – verschiedenen Lebensraum ermöglicht.
Ganz ähnlich beginnt die Begriffsbestimmung im Brockhaus:
„In seiner weitesten Verwendung kann mit dem Begriff Kultur alles bezeichnet werden, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht naturgegeben ist. In einem engeren Sinne bezeichnet Kultur die Handlungsbereiche, in denen der Mensch auf Dauer angelegte und den kollektiven Sinnzusammenhang gestaltende Produkte, Produktionsformen, Verhaltensweisen und Leitvorstellungen hervorzubringen vermag. Deshalb betont der Kulturbegriff nicht nur das Hervorgebrachte und Künstliche, sondern auch die Wertschätzung, die ihnen zukommt.“ [Fn4]
Sinnvoll ist vielleicht, wenn wir uns den Aspekt „Handlungsbereich“ herausgreifen, also etwas das Handeln an sich begrenzendes und das Handeln konkret bestimmendes.
Das hilft uns nämlich, hier eine vereinfachende Abkürzung zu nehmen und zu behaupten, Bibliothekskultur ließe sich dadurch greifen, dass man betrachtet, welches Handeln hierfür relevant sein könnte und durch welche Rahmenbedingungen dieses bestimmt und begrenzt wird. Hier geht es uns nun so ähnlich wie bei dem Versuch der Definition der Bibliothekswissenschaft: die Bestimmung erfolgt über die „Bibliothek“.
Jetzt zu behaupten, Bibliothekskultur ließe sich an dem Handeln in einer Bibliothek festnageln, ist vielleicht nicht ganz verkehrt, aber in jedem Fall zu undifferenziert. Denn zunächst einmal gibt es hier grob zwei Hauptakteursgruppen mit unterschiedlicher Handlungsmotivation: Nutzer und Personal. Und zweitens ist das System nicht in sich abgeschlossen, sondern steht in enger Wechselwirkung mit seiner Umwelt und ist auf diese angewiesen, z.B. in Form von Unterhaltsträgern.
Hier trifft man demnach wohl oder übel auf eine dritte große Akteursgruppe, die in die Materie involviert ist: die Gruppe derer, die das Dasein der Bibliothek ermöglichen. Verallgemeinert man diese noch ein wenig aus den Rathäusern und Universitätsrektoraten etc. hinaus, erhält man die direkte Verbindungslinie zur Gesellschaft als soziale Organisationsform der Bevölkerung eines geographisch eingegrenzten Gebietes, zum Beispiel einer politischen Einheit „Staat“.
Nun hat man eine nicht ganz geringe, aber vielleicht noch überschaubare Menge derer, die sich den Planeten mehr oder weniger gütlich aufgeteilt haben und in jeder Einheit haben sich die Gesellschaft, und damit die Bibliotheken als „Bibliothekswesen“, ganz unterschiedlich entwickelt. Damit man sich aber trotzdem nicht ganz vereinzelt, kommuniziert man ab und an interkulturell, was im Bibliothekswesen im Gegensatz z.B. zur Atompolitik auch meistens recht harmonisch funktioniert.
Was man sich also als Erstes merken muss: das Phänomen „Bibliothekskultur“ ist äußerst vielschichtig und reich an möglichen Themen.
Wir versuchen einmal die Annäherung vom Allgemeinen zum Besonderen. So gibt es zunächst die Beziehung Gesellschaft und Bibliothek, wobei man wenigstens in der westlichen Kulturhemisphäre annehmen kann, dass sich beide irgendwie bedingen.
Da die Gesellschaft, die wir (er)leben von der Straßenbeleuchtung über das Multiplexkino bis zur Intensivstation überwiegend durch Ergebnisse systematischer Erkenntnissuche geprägt ist, an deren Wurzel eine gewisse Wissenschaftlichkeit zu vermuten ist, so ist natürlich die Frage nach dem Verhältnis von Bibliothek und Wissenschaftskultur besonders interessant.
Um in dieser Gesellschaft zu bestehen, muss man ein gewisses (Anwendungs)Wissen mitbringen, das man sich manchmal durch Trial-and-Error-Alltagsexperimente (Stichwort: heiße Herdplatte), häufig aber auch durch Bildungsinstitutionen, erwirbt. Lehnt man es ab, hier mitzuspielen, wird man, aufgrund eines gesellschaftlichen Konsens’ zum Selbstschutz und zum Wohle der Gesellschaft so gut es geht von dieser ferngehalten.
Die Bildungsinstitutionen zeichnen sich durch die Vermittlung von Wissen aus, welches zu einem großen Anteil in normierten Codes (Stichwort: Alphabet) repräsentiert werden kann (und zur Abfrage in Klausuren auch repräsentierbar sein muss). Was derart repräsentierbar ist, kann dank der verschiedenen Aufzeichnungsmethoden, welche die technische Seite der Kulturentwicklung hervorgebracht hat, auf Datenträgern (Stichworte: Buch, Tonband, Blue-Ray-Disk) fixiert werden, die die Gesellschaft nicht einfach so unter ihren Mitgliedern verteilt (Ausnahmen sind u.U. die „großen Bücher“ der Weltgeschichte wie das Kommunistische Manifest, Mao’s Zitatensammlung, das Grüne Buch Garddafis, das Buch Mormon etc.), sondern möglichst geordnet an zentralen Orten zusammenträgt. Diese sind Bibliotheken.
Bibliotheken erfüllen also eine immanent wichtige kulturelle Funktion: die Sammlung von Wissensrepräsentationen und – im Gegensatz beispielsweise zu Archiven – deren möglichst intensives „zur Verfügung stellen“ mit der Motivation, diejenigen, die diese Wissensrepräsentationen aufnehmen, verarbeiten, überprüfen und gegebenenfalls widerlegen, zu neuen Erkenntnissen anzuregen, die schließlich wiederum als Repräsentationen Eingang in die Bibliotheken finden.
Die Bibliothek ist hier also Bindeglied jeder Erkenntnisentwicklung innerhalb des kulturellen Systems „Gesellschaft“.
„Das Große spiegelt sich im Kleinen, das ist Dialektik“ – auch wenn hier die Stuttgarter Combo „Freundeskreis“ in ihrer Hip-Hop-Lyrik Ockhams Rasiermesser vielleicht doch ein wenig zu tief durch die Philosophie säbelt, als kleiner Übergang lässt sich das Zitat dann doch ganz gut verwenden und dies sogar in zweierlei Richtung.
Zunächst stellt auch die kommunikative Beziehung zwischen Bibliotheksnutzer und Bibliotheksmitarbeiter eine kulturelle Leistung dar, die sich im Alltag und je nach Bibliothek auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen offenbart.
Andererseits sind es natürlich die in der Bibliothek Arbeitenden, also diejenigen, die sich idealerweise mit Leib und Seele der Tätigkeit in dieser Institution verschrieben haben, die innerhalb ihres sozialen Systems ganz eigene kulturelle Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen entwickelt haben, die für Außenstehende nicht immer auf den ersten Blick durchschaubar sind.
Diese ganzen Dimensionen zu erkunden, ist ein recht ausuferndes Feld und da uns Lebens- und Arbeitszeit für eine systematische Beackerung einen Strich durch die Rechnung machen, beschränken wir uns in der vorliegenden Ausgabe von LIBREAS auf eine neugierig-explorative Annäherung an die vielfältigen Facetten, die sich mit dem Terminus „Bibliothekskultur“ assoziieren lassen.
Es sind die Geister am Katalogschrank, genauer gesagt eine entsprechende Szenerie aus der flotten Komödie Ghostbusters, die Uwe Jochum in seinem Beitrag in die New York Public Library und seine Reflexion über Kultur und Bibliothek führen. Wenn wir irgendetwas Sinnvolles bei dem Wort „Kultur“ denken wollten, so Jochum, kann es nur das sein, dass wir zu dem werden, was wir sind, dass wir uns unserer Vergangenheit annehmen und sie auch wirklich als unsere Vergangenheit pflegen und in Ehren halten.
Der Autor zeichnet den Bedeutungsgang der Bibliothek(skultur) von der altehrwürdigen Einrichtung zu den digitalen Datenströmen, die mit den Zauberworten Computer und Internet Hoffnungen des Bibliothekswesens schürt, dass dank des Einsatzes von Digitaltechnik Bibliotheken zur „gesellschaftlichen Avantgarde mutieren“ und den „Ruch des Verstaubten“ endlich loswerden.
Auch wenn Bibliotheken auf eine mehrere Jahrtausende umspannende Geschichte verweisen können, ist der selbstständige Bibliothekarsberuf bei weitem nicht so alt. So liegt die Frage nah, ob man eventuell gerade darin einen Grund dafür finden kann, dass sich Bibliothekare so intensiv mit ihrem Beruf, ihrem Image, ihrer Fremdwahrnehmung und belletristischen Darstellung beschäftigen? Lesen Mediziner so intensiv Arztromane, zeichnen sich Anwälte derart intensiv Gerichtsserien auf, wie Bibliothekare die entsprechenden berufsbezogenen Gegenstücke? Wir wissen es nicht, aber wir wissen, dass es da draußen Menschen aus der Bibliotheksbranche gibt, die jede medial-fiktionale Abbildung des Berufsstands jagen und dokumentieren. Einige dieser sympathischen Jäger(innen) im Rauschen von Blätterwald und Kabelfernsehen haben uns für diese Ausgabe mit wunderbaren Einblicken in ihre Leidenschaften versorgt. So begibt sich Monika Bargmann auf einen Streifzug durch ihre private Sammlung von Librariana, bevorzugt in literarischer und filmischer Art.
Susanne Brandt wirbt für eine kindgerechte Bibliothekskultur, indem sie anhand von fünf Thesen, die sie aus einer themenspezifischen Analyse von Kinderbüchern gewonnen hat, die wichtigsten kinderliterarischen Bibliotheks- und Berufsbeschreibungen nach den darin enthaltenen Botschaften zu systematisieren und sie so für ein Nachdenken und Diskutieren über Vision und Wirklichkeit von „Kinderbibliothekskultur“ zu erschließen. Die Beschäftigung mit literarischen (Kinder)Bibliotheksorten hilft auch bei der Annäherung an die Besonderheit der beruflichen Identität von Bibliothekaren, der zum Teil das Schöpferische, das kulturelle Handeln und auch eine eigene Wandlungs- und Innovationsbereitschaft innewohnt.
Der vierte Schwerpunktbeitrag beschäftigt sich mit dem Bild und der Darstellung von Bibliotheken und Bibliothekare/innen in Film und Fernsehen. Ute Engelkenmeier beleuchtet sehr schön eine Wahrnehmungsart der Berufsgruppe der Bibliothekare, die, nicht selten, um eine Story passend zu machen, eine Vereinfachung ist und so zu einem klischeehaften Bild führt bzw. bestehende Klischees – die man durchaus als allgemeinkulturellen Konsens zu einem Phänomen interpretieren kann – bestätigt. Dass man, obschon die Realität häufig eine ganz andere Sprache spricht, gegen die von der Autorin herausgestellten Stereotypen von Bibliothekaren kaum ankommt, wenn die massenmediale Aufbereitung immer wieder auf (falsch) tradierte Idealtypen rekurriert, versteht sich vermutlich von selbst. Die einzige Option, die bleibt, sofern man hier etwas ändern möchte, ist die der aktiven Widerlegung der Stereotype, natürlich möglichst in einer positiven Form.
Mit dem Beitrag Matti Stöhrs, Student am Institut, kommen wir einmal dem nah, was von Anfang an in unserem Konzept für LIBREAS einen wichtigen Platz zugewiesen bekam: der Blick in die Werkstatt „Universität“. Der vorliegende Text ist als Konzept und Thesenpapier im Rahmen der Vorbereitung einer Seminararbeit für das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität entstanden und setzt sich mit den kulturpolitisch-ideologischen Vorstellungen der SED und deren realen Umsetzung in den Öffentlichen Bibliotheken der Deutschen Demokratischen Republik in den 50er und 60er Jahren auseinander. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Frage, welche Rolle den Bibliotheken von politischer Seite zugedacht wurde und inwiefern selbige den an sie gestellten Ansprüchen gerecht wurden. Wenn alles gut geht, werden wir hierzu sozusagen erkenntnisbegleitend in einer der nächsten Ausgaben einen Anschlusstext finden.
In ihrer Darstellung der Bibliothekskultur bezieht sich Elisabeth Simon auf die ungünstigen rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen Bibliothekswesens und beginnt mit Aussagen einer öffentlichen Anhörung durch die Enquète-Kommission Kultur im März 2005. Der Autorin ist bewusst, dass der erforderliche Kulturwandel der Bibliotheken angesichts rechtlicher und administrativer Hindernisse auf große Schwierigkeiten stößt.
In diesem Zusammenhang nennt sie die heikle Lage der Ein-Eurojobs und des Ehrenamts in und für Bibliotheken. Freundeskreise und Fördervereine für Bibliotheken als Vermittler der Kulturförderung und die in den Vereinigten Staaten längst zelebrierte Advocacy sieht die Autorin als Chance für den notwendigen Wandel der Bibliothekskultur und der öffentlichen Wahrnehmung von Bibliotheken an.
Bibliothekare sammeln allein schon aufgrund der Erfordernisse ihres Berufsalltags (sofern der Etat so etwas zu lässt) und so erscheint es wenig überraschend, dass sie, was sie alltäglich als Pflichtdarbietung auflegen, auch gern in anderen Bereichen zur Kür bringen. Und wenn man die Selbstbezüglichkeit noch ein wenig überhöht, sammelt man – wenn man so will als „Spiegel im Spiegel“ – zum Beispiel Briefmarken mit Bibliotheksmotiven. Dieses nennt man dann Bibliophilatelie und es war uns wirklich nicht möglich, dieses Thema außen vor zu lassen. Daher gibt es von Ben Kaden eine kleine persönliche Schilderung des Abenteuers Bibliophilatelie, die den Leser von den Grundzügen des Sammelns über die Begriffsgeschichte der Bibliophilatelie und der Marke als semiologisches Ereignis bis hin zum Nachdenken als möglichen Forschungsgegenstand führt.
Bibliotheken als Zentren von Kultur und Wissen, als Orte des Lernens, Wissens und des Austauschs von Wissen in jeder Hinsicht und auch als kulturelles Gedächtnis, werden auch hierzulande angesichts der Tatsache, dass sich der Entwurf der Wissensgesellschaft allgemein zu etablieren beginnt, mit wahrnehmbar steigender Intensität in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Anlässe sind häufig Eröffnungen neuer Bibliotheksbauten, die als, so möchte man meinen, ganz gern nebenbei noch als architektonisches Spektakel in Presse, Funk und Fernsehen gefeiert werden. Hier funktioniert die Öffentlichkeitsarbeit in Hinblick Imagewandel schon so gut, dass sich die Nutzer und Mitarbeiter der betroffenen Häuser den primär an der Architektur interessierten Besuchern des Öfteren deutlich überdrüssig zeigen.
Ob der Siedepunkt in diesem Dreiecksverhältnis „Architekturtourist mit Kamera“ – „Nutzer mit Konzentrationsbedürfnis“ – „Bibliothekar mit Arbeitsauftrag“ im „Berlin Brain“ bereits erreicht ist, haben wir zu ermitteln versäumt, auch weil die Einrichtung nicht auf unserem täglichen Benutzungsplan steht. Claudia Schmölders hat sich dagegen intensiv mit dem Foster-Bau auseinandergesetzt und entdeckt, dass sich Kultur und Wissen, welche sich so leichthändig nebeneinander schreiben lassen, tatsächlich besonders in Hinblick auf die Digitalisierung der Wissenswelten im bibliothekarischen Raum anecken. Im Kern handele es sich nämlich vielmehr um Konkurrenten.
Wir haben zwar eingesehen, dass man sich, auch wenn man gern möchte, nicht mit jeder Wissenschaft gleich intensiv beschäftigen kann. Dennoch – oder besser: gerade deshalb – erhält die selektive Beschäftigung mit Wirklichkeitsentwürfen jenseits der disziplinären Grenzen der Bibliothekswissenschaft ein ganz besonderes Gewicht, zumal die Zahl der potentiellen Schnittstellen und damit potentiellen thematischen Überlappungen enorm ist. Umso mehr freuen wir uns, mit André Störr einen aktiven Rechtsanwalt zu einer Darstellung seiner Sicht auf den fachspezifischen Zugang zu Information, in diesem Fall zum allgemeinen Zugang zu Rechtsinformationen, gewonnen haben.
Dieser hat sich in den letzten 15 Jahren mit den Möglichkeiten elektronischer Datenangebote stark in das Internet in Form von kommerziellen Datenbankanbietern, aber auch frei zugänglichen Portalen, verlagert. Die regelrechte „Vergesellschaftung“ des Rechts in der omnipräsenten virtuellen Kommunikationswelt schafft ein neues Informationsverhalten unter den Rechtsexperten, eröffnet aber auch neue Wege des Bürgers, sich Zugang zu Recht und rechtlicher Expertise zu verschaffen.
Dass Informationskompetenz ein ebenso beliebtes wie weites Feld verschiedener Überlegungen ist, hat in der jüngsten Zeit die Vielzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema bewiesen. So auch der Artikel von Amy Bruckman zur Fähigkeit von Studenten, sich auf verlässliche Informationen beim Studium stützen zu können, der von Thomas Hapke näher betrachtet wird. In Übereinstimmung mit der Autorin stellt Hapke heraus, dass die Informationskompetenz mehr als nur die bloße Recherchekompetenz umfasst – nämlich die Reflektion der Bewertung und Gültigkeit von Wissen und Information. Die Bibliotheken sollten als proaktive Akteure, indem sie angepasste Kurse u.ä. anbieten, in der Informationskompetenz-Förderung auftreten.
Dazu gibt es noch eine Wahrnehmung unserer temporären Außenkorrespondentin in Schweden: Durch Beobachtung und ersten Nutzungserfahrung im jüngst eröffneten Neubau der Universitätsbibliothek Växjö wird der Versuch unternommen, eine (selbst erdachte) Definition der (schwedischen) „Bibliothekskultur“ zu finden – mittels dem Vergleich zur vermeintlich deutschen.
Tagungen, Konferenzen, Bibliothekartage und Symposien, die glücklicherweise in aller Welt verstreut stattfinden und gerade für die Young Guns den Charakter von Pilgerfahrten annehmen können, sind beliebte Möglichkeiten innerhalb des bibliothekarischen Berufsstandes, in Kontakt zu kommen bzw. zu bleiben. So nutzten auch vier Studierende der Bibliotheks- und Informationswissenschaft aus Berlin das Netzwerkpotential des BOBCATSSS-Symposium 2006 in Tallinn in voller Breite und lassen uns freundlicherweise an ihren Eindrucken in ihrem Bericht teilhaben. Gleiches gilt für Philipp Mayr, der über die 10. ISSI- Konferenz 2005 in Stockholm rapportiert.
Als Beigabe findet sich in dieser Ausgabe ein großes Bündel Rezensionen.
Am Institut weiß vermutlich jeder ein wenig um die vielen Hochzeiten des künstlerischen Ausdrucks, auf denen unser Emeritus Frank Heidtmann tanzt. Aber die Hintergründe kennt kaum einer. Grund genug für uns noch einmal nachzuhaken und eine Auswahl seiner Bilder in einer winzigen virtuellen Galerie zugänglich zu machen.
Und da wir die Stereotype in zwei Beiträgen erläutert bekommen haben, darf der visuelle Eindruck natürlich in Nichts nachstehen: die „librarian action figure“ Nancy Pearl im frühlingssäuselnden schwedischen Umfeld auf der LIBREAS-Mission in Aktion.
Wir als LIBREAS-Redaktion freuen uns, in dieser (Geburtstags-)Ausgabe
zahlreiche anregende und z.T. mit einem Augenzwinkern zu lesende
Beiträge zur Bibliothekskultur und dem, was sie für die
Autoren bedeutet, in der unterschiedlichsten Ausprägung zu
versammeln. Und da wir der Weisheit letzten Schluss zum Thema diesmal
nicht ziehen konnten, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass uns
das Thema in nicht allzu langer Zeit wieder begegnet.
Abschließend bleibt der Dank an die Autoren für die gute
Zusammenarbeit und selbstverständlich an die Leser sowie der
Hinweis, dass wir offen für Anregungen, Kritik, Ideen waren,
sind und bleiben.
i.A. Ben Kaden und Manuela Schulz
Berlin, im April 2006
Fußnoten
[Fn 1]
Vgl. Conrad, Christoph und Kessel, Martina: Blickwechsel: Moderne,
Kultur, Geschichte. In: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke
in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998. S. 9. Tagesaktuell lässt
sich Karl Otto Hondrich zu den Kulturen als „wertgeladene
Lebensformen“ in der FAZ aus. Siehe Hondrich, Karl Otto: Kampf
der Kulturen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 88, 13.04.2006.
S.6. (zurück)
[Fn
2]
Vgl. Gombrich, Ernst H.: Die Krise
der Kulturgeschichte. München 1991. S. 38 (zurück)
[Fn
3]
Vgl. Höffe, Otfried (Hrsg.): Lexikon der Ethik. 6., neubearb.
Aufl. München 2002. S. 145 f.. (zurück)
[Fn
4]
Vgl. Brockhaus. Die Enzyklopädie
in vierundzwanzig Bänden. Studienausgabe. 20., überarb.
u. akt. Ausg., 12. Bd.: KIR-LAGH. Leipzig 2001. S. 612. (zurück)