Beiträge von Eva Bunge (eb), Ben Kaden (bk), Karsten Schuldt (ks), Michaela Voigt (mv), Najko Jahn (nj), Viola Voß (vv)
1. Zur Kolumne
Ziel dieser Kolumne ist es, eine Übersicht über die in der letzten Zeit erschienene bibliothekarische, informations- und bibliothekswissenschaftliche sowie für diesen Bereich interessante Literatur zu geben. Enthalten sind Beiträge, die der LIBREAS-Redaktion oder anderen Beitragenden als relevant erschienen.
Themenvielfalt sowie ein Nebeneinander von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Ansätzen wird angestrebt und auch in der Form sollen traditionelle Publikationen ebenso erwähnt werden wie Blogbeiträge oder Videos beziehungsweise TV-Beiträge.
Gerne gesehen sind Hinweise auf erschienene Literatur oder Beiträge in anderen Formaten. Diese bitte an die Redaktion richten. (Siehe Impressum, Mailkontakt für diese Kolumne ist zeitschriftenschau@libreas.eu.) Die Koordination der Kolumne liegt bei Karsten Schuldt, verantwortlich für die Inhalte sind die jeweiligen Beitragenden. Die Kolumne unterstützt den Vereinszweck des LIBREAS-Vereins zur Förderung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Kommunikation.
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Die bibliographischen Daten der besprochenen Beiträge aller Ausgaben dieser Kolumne finden sich in der öffentlich zugänglichen Zotero-Gruppe: https://www.zotero.org/groups/4620604/libreas_dldl/library.
2. Artikel und Zeitschriftenausgaben
2.1 Vermischte Themen
Csiszar, Alex (2023). Provincializing Impact: From Imperial Anxiety to Algorithmic Universalism. In: James Evans und Adrian Johns (Hrsg.). Beyond Craft and Code: Human and Algorithmic Cultures, Past and Present. Osiris, Vol. 38. University of Chicago Press. https://doi.org/10.1086/725131
Der Wissenschaftshistoriker Alex Csiszar (Harvard University) beschreibt vom International Catalogue of Scientific Literature (ICSL) der Royal Society of London im späten 19. Jahrhundert ausgehend die historischen Bedingungen, unter denen die Bibliometrie in der Zeit des Kalten Krieges eine besondere Rolle im Diskurs über die Entwicklung der Wissenschaft spielen konnte. Er argumentiert, dass selektive Zitationsindizes wie der Science Citation Index (SCI) nie ein neutrales Suchinstrument waren. Vielmehr seien Vorstellungen von Produktivität, Qualität und Wirkung in die Datenbank eingeflossen. Der Aufsatz zeichnet nach, wie es dazu kam, dass nordamerikanische, westeuropäische und englischsprachige Quellen in den Indizes auch heute noch bevorzugt werden. (nj)
Modero, Gina C. (2023). The Special Collections Reading Room: A Study of Culture and Its Impact on the Researcher Experience. In: RBM: A Journal of Rare Books, Manuscripts, and Cultural Heritage 24 (2023) 2, https://doi.org/10.5860/rbm.24.2.129
In dieser Studie wendet die Autorin anthropologische Fragestellungen und Methoden auf Sonderlesesäle in Bibliotheken in den USA an. Sie fragt, wie diese Lesesäle von einer jeweils eigenen Kultur geprägt sind und wie sich diese Kultur ausdrückt, beispielsweise im Aufbau der Säle, in der Infrastruktur und den Hinweisschildern, in offiziellen Regeln und im Verhalten von Bibliothekar*innen und Leser*innen. Allerdings scheint ihr das Ergebnis, nämlich dass alle diese Lesesäle eine jeweils eigene Kultur haben, schon relativ früh festgestanden zu haben. Es wird schnell zu Beginn des Artikels genannt und dann weiter an Beispielen exemplifiziert, aber nicht hergeleitet. Grundsätzlich sind im Text die Darstellung der Theorie und Methode ständig mit den eigentlichen Ergebnissen vermischt. Es fehlt ein roter Faden. Insoweit ist es vor allem ein Nachweis, dass man mit anthropologischen Methoden auch Bibliotheken untersuchen kann. Aber die Argumente, die für das Ergebnis angeführt werden, überzeugen durch ihre sporadische Darstellung im Text nicht wirklich. Sie scheinen hier vor allem subjektive Interpretationen der Autorin zu sein. (ks)
Larsen, Håkon (2024). Managing Norwegian public libraries as civil public spheres: recent controversies. In: Journal of Documentation 80 (2024) 1, 116–130, https://doi.org/10.1108/JD-02-2023-0036 [Paywall]
Mit der Revision des norwegischen Bibliotheksgesetzes wurde 2014
explizit festgeschrieben, dass Öffentliche Bibliotheken einen Ort für
gesellschaftliche Debatten bieten müssen. Dabei wird sich – auch in
diesem Text hier – kontinuierlich auf Jürgen Habermas berufen. Die
Vorstellung allerdings, welche im Gesetz festgeschrieben wurde, scheint
einer relativ naiven Auffassung davon zu folgen, was
gesellschaftliche Debatte
heisst und wie diese stattfindet –
nämlich praktisch als einfaches Gespräch. Dabei ist sie
selbstverständlich immer konfliktbehaftet, was man bei Habermas lernen
könnte, weil es ihm in seinen Arbeiten ja darum geht, zu verstehen, wie
sich die Gesellschaft durch Kommunikation entwickelt.
Die Umsetzung dieser Vorschrift obliegt den Bibliotheken selbst.
Larsen versammelt in seinem Text nun Vorfälle der letzten Jahre, in
welchen die Umsetzung zu Auseinandersetzungen führte. Oft sind es
explizite rassistische oder antimuslimische Gruppen, die Bibliotheken
für Veranstaltungen nutzen wollten, was zu der Frage führte, ob
Bibliotheken dies im Sinne einer Debatte zulassen sollen oder nicht –
und wenn nicht, warum nicht. Es gab aber auch Auseinandersetzungen
darum, ob weiter Harry Potter-bezogene Veranstaltungen angeboten werden
sollten, nachdem ihre Autorin zu einer der prominentesten
Anti-Trans-Aktivist*innen
wurde. Der Text beschreibt diese
Auseinandersetzungen und ihre jeweiligen Lösungen
(beispielsweise, dass Veranstaltungen von rassistischen Gruppen
stattfinden konnten, wenn sie neutral
moderiert wurden, allen
Personen offen standen und explizit auch anderen Positionen Raum gegeben
wurde). Er beschreibt dies als Lerneffekte, sowohl für Bibliotheken als
auch für die Politik und die Öffentlichkeit. So ist heute etabliert,
dass Veranstaltungen zwar untersagt werden können, wenn sie eine Gefahr
für Personal und Nutzer*innen darstellen, aber nicht aus rein
politischen Gründen. Damit wird auch gezeigt, dass die Idee,
Bibliotheken müssten Ort von Debatten und Öffentlichkeit sein,
notwendigerweise zu Konflikten führen wird.
Erstaunlich an dem Text oder der Situation in Norwegen im Allgemeinen ist, dass das nicht vorhergesehen wurde. Wie gesagt: Das solche Öffentlichkeit zu Konflikten führt, ist eine Grunderkenntnis bei Habermas, auf den sich ständig berufen wird. Es wäre aber auch zu lernen gewesen, wenn man woher in anderen Ländern, in denen Bibliotheken ähnlichen Prämissen folgen, geschaut hätte (beispielsweise Kanada). Es scheint, als hätte das norwegische Bibliothekswesen an dieser Stelle einerseits zu wenig weit über sich selber hinausgeschaut (eine Einschätzung, die vielleicht vom Eindruck des Rezensenten bei persönlichen Kontakten mit norwegischen Kolleg*innen geprägt ist, bei denen die Kolleg*innen eigentlich immer nur die Situation in den skandinavischen Ländern vor Augen hatten) und andererseits zu sehr einen gesellschaftlichen Konsenswillen angenommen, der in der Realität nicht gegeben ist. Für Bibliotheken im DACH-Raum ist der Text eine Lernmöglichkeit, da sich ähnliche Fragen auch ohne gesetzliche Bestimmung im Bibliotheksalltag stellen. (ks)
Roy, Mantra ; Chatterjee, Sutapa (2024). Barriers in LIS Scholarship in India: Some Observations. In: International Journal of Librarianship 8 (2024) 4: 114–127, https://doi.org/10.23974/ijol.2024.vol8.4.330
In Indien – wie auch in einigen anderen Staaten – ist es notwendig, dass Bibliothekar*innen, um auf bestimmten Stellen in Wissenschaftlichen Bibliotheken befördert zu werden, forschen und ihre Forschung publizieren. Zudem gibt es mehrere Stellen, an denen aktiv Bibliothekswissenschaft betrieben wird. Die Situation ist also noch anders als im DACH-Raum, wo bekanntlich eine Trennung von Wissenschaft und Karrieren in Wissenschaftlichen Bibliotheken existiert. Und dennoch ist die Sichtbarkeit dieser indischen Forschung in der internationalen – was heisst, vor allem der englischsprachigen – Bibliothekswissenschaft gering.
Die Studie versucht zu klären, warum dies so ist. Dazu wurden Literatur gesichtet sowie zwei Umfragen und Interviews durchgeführt. Das führt ein wenig zum Eindruck eines Stückwerks, in dem vieles irgendwie integriert wurde. Dennoch sind die Ergebnisse interessant. So werden zuerst externe Faktoren genannt: Das Wissenschaftssystem ist auf das Englische orientiert, was eine Hürde für viele Kolleg*innen (nicht nur) in Indien darstellt. Darüber hinaus ist es mehr und mehr auf finanzstarke Institutionen konzentriert, die zum Beispiel Article Processing Charges (APC) zahlen können oder institutionelle Repositorien betreiben. Weitere externe Faktoren finden sich auf der Ebene von Institutionen: In den meisten Hochschulen in Indien werden die Bibliothekar*innen nicht dabei unterstützt, zu forschen. Sie erhalten keine oder zu wenig Arbeitszeit dafür, keine Beratung oder andere Unterstützung. Es gibt aber auch Faktoren, die direkt bei den Bibliothekar*innen selber angesiedelt sind: Sie haben wenig Erfahrung darin, zu publizieren. Das müssten sie üben. Zudem sind sie wenig über die Möglichkeiten, beispielsweise des Publizierens in Open Access ohne Kosten, informiert. Alles in allem scheint die Situation also von verschiedenen Hürden geprägt, die auf unterschiedliche Weise angegangen werden können. (ks)
Case Studies in Library Publishing 1 (2023) 1, https://cslp.pubpub.org/issue-1
Die erste Ausgabe dieser neuen Zeitschrift erschien Ende 2023. Sie
versteht sich als Publikationsort für das Library Publishing
.
Damit wird im englischsprachigen Bibliothekswesen die Aufgabe von
Bibliotheken verstanden, Publikationen von Forschenden oder Studierenden
zu unterstützen. Das kann auf die technische Infrastruktur beschränken,
aber auch ausgeweitet werden bis hin zum Betrieb eines eigenen Verlags,
der zumeist als reiner Open Access Verlag konzipiert wird. Dazwischen
finden sich weitere Services, wie Beratung, die Übernahme des Copy
Editing
oder das Klären von Lizenzen. Selbstverständlich gibt es
einige dieser Angebote auch in einigen deutschsprachigen Bibliotheken.
Aber in den englischsprachigen scheinen sie sich in den letzten Jahren
mehr zu etablieren und gleichzeitig scheinen die damit beschäftigten
Kolleg*innen auch mehr und mehr zu kooperieren.
Die erste Ausgabe der Zeitschrift stellt nun in sieben Beiträgen
(sechs aus dem englischsprachigen Raum, einer aus der Ukraine) konkrete
Publikationsprojekte vor. Allen Artikeln sind Lessons Learned
vorangestellt. Zudem sind sie fast alle sehr kleinteilig und konkret.
Das wird dann von Interesse sein, wenn eine Bibliothek selber
vergleichbare Services aufbauen will. Interessanter ist aber, dass sich
das Feld
des Library Publishings mit dieser Zeitschrift weiter zu
festigen scheint. (ks)
Albergaria, Matheus (2024). The economics of libraries. In: Journal of Information Science [Online first], https://doi.org/10.1177/01655515241233741 [Paywall]
Der Artikel fasst in Auswahl zusammen, was in den letzten Jahren im
Feld der ökonomischen Forschung
– ergo der Betriebswirtschaft –
über Bibliotheken geforscht wurde. Laut dem Autor steigt die Zahl der
Studien in diesem Bereich an. Die Studien beschäftigen sich auf der
einen Seite mit Frage der Effekte der gemeinsamen Nutzung eines
geteilten Gutes – also der Medien in Bibliotheken, die in endlicher Zahl
vorhanden sind, durch Nutzer*innen, die jeweils nach eigenen Interessen
handeln würden – und auf der anderen Seite mit dem Versuch, die Nutzung
von Bibliotheken mit anderen, ökonomisch relevanten Kennzahlen –
beispielsweise der Zahl der Patente, die in verschiedenen Städten
angemeldet werden – zu kombinieren. Der Autor betont auch, dass es eine
Tradition der Kritik solcher Studien und vor allem des Weltbildes
der Ökonomie gibt, schliesst aber, dass es ein wachsendes und deshalb
für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft relevantes Feld
darstellt. (ks)
Centerwall, Ulrika (2024). In plain sight: School librarian practices within infrastructures for learning. In: Journal of Librarianship and Information Science 56 (2024) 1: 211–222, https://doi.org/10.1177/09610006221140881 [Paywall]
Für die hier vorgestellten Studie wurden zwölf
Schulbibliothekar*innen aus Schweden über ihre Arbeit interviewt. Die
jeweiligen Bibliotheken gelten als Best Practice
, dass heisst sie
wurden in einem jährlich von der betreffenden Gewerkschaft
durchgeführten Wettbewerb als solche ausgezeichnet. Die Autor*in betont,
dass sie deshalb herausragend sind. In Schweden gibt es zwar die
gesetzliche Bestimmung, dass alle Schüler*innen Zugang zu einer solchen
Bibliothek haben sollen. Dies würde jedoch nicht überall durchgesetzt.
Gut ausgestattet, inklusive ausgebildeter Bibliothekar*innen, seien nur
einige Bibliotheken.
Für die befragten Bibliothekar*innen stellt die Studie nun heraus,
dass die Bibliotheken Teil der schulischen Infrastruktur sein können, es
dazu aber aktiver Arbeit der Bibliothekar*innen selbst bedarf. Sie
müssen die Zusammenarbeit mit Lehrpersonen initiieren und
aufrechterhalten und Lehrpersonen kontinuierlich darüber informieren,
was ihre Aufgaben und Möglichkeiten sind. Sie müssen auch dafür sorgen,
dass sie als professionelles Personal wahrgenommen mit eigener
Ausbildung und Kompetenz werden, nicht als Hilfspersonal
. Dabei
betont die Autorin, dass sich Lehrpersonen als Profession in der Schule
besser positionieren können, da sie zum Beispiel auf zahlreiche
etablierte Standards und Richtlinien zurückgreifen können – implizit
deutet sie damit an, dass solche gemeinsam in der
schulbibliothekarischen Profession erarbeitete Standards hilfreich
wären. (ks)
Guss, Samantha ; Cunningham, Sojourna ; Stout, Jennifer (2024). Not all staying is the same: Unpacking retention and turnover in academic libraries. In: In The Library With The Lead Pipe, 10.04.2024, https://www.inthelibrarywiththeleadpipe.org/2024/not-all-staying/
Warum bleiben Bibliothekar*innen auf ihren konkreten Arbeitsstellen,
obwohl sie eigentlich wechseln wollen, also in anderen Bibliotheken
arbeiten möchten? Die Frage ist, so die Autor*innen dieser Studie,
relevant, da es in Bibliotheken grundsätzlich ein Problem gäbe, Personal
zu halten
, aber gleichzeitig oft übersehen wird, dass nicht alle
Bibliothekar*innen gleich die Stellen wechseln würden, wenn sie sich
nicht (mehr) mit ihrer aktuellen Arbeitsstelle identifizieren.
Stattdessen würden sie oft verbleiben, was schlecht für sie selbst – ihr
Wohlbefinden, teilweise ihre Gesundheit und ihre professionelle
Entwicklung – und für die jeweilige Bibliothek – mit Auswirkungen auf
die Arbeitskultur, die Leistungsfähigkeit des Personals und auch die
Weiterentwicklung der Bibliothek – wäre. Nicht nur könnte sich das
Personal besser entwickeln, wenn es offener mit seinem Missbehagen
umgehen würde. Auch Bibliotheken als Arbeitsplatz würden sich besser
entwickeln können, wenn sie nicht nur danach fragten, warum jemand
gegangen
sei, sondern auch das Unbehagen des Personals, dass sich
nicht zu diesem Schritt entschloss, auswerten.
Die Studie geht erst theoretisch und dann mittels zehn Interviews
vor. Es zeigt sich, dass es offenbar eine ganze Reihe von
Bibliothekar*innen gibt, die lange mit ihrem Arbeitsplatz und ihrer
Situation unzufrieden sind, aber teilweise Jahre brauchen, ihre
Positionen zu verlassen. Ein Grund dafür sei, dass es zwar oft besondere
Situationen, Ereignisse oder Umstrukturierungen sind, die sich dann
letztlich dazu bringen, doch die Stelle zu wechseln (im Text werden sie
als Trigger bezeichnet), aber das Unwohlsein sich über einen längeren
Zeitraum aufbaut. Oft arrangieren sich Bibliothekar*innen mit der
Situation, bis sie irgendwann nicht mehr können
. Zwei Gründe,
warum sie länger bleiben, sind die Arbeitsmarktsituation – ergo die
Schwierigkeit, eine andere Stellen zu finden – und die grundsätzlich
Zufriedenheit mit der Arbeit selber, also zum Beispiel der Umgang mit
Nutzer*innen. Während die Ergebnisse dieser Studie spezifisch
US-amerikanisch sind, da sie dort durchgeführt wurde, lässt sich
vermuten, dass es auch im DACH-Raum eine Reihe Bibliothekar*innen in
unbefriedigenden Situationen gibt, die – wenn man die Parallele zieht –
vor allem ihre Arbeit machen, aber ansonsten weder sich noch die
Einrichtung weiterentwickeln. (ks)
Engström, Lisa ; Eckerdal, Johanna Rivano (2024). Bringing on the Social: Infrastructuring Libraries Through Zine-making Workshops. In: The Journal of Creative Library Practice, https://creativelibrarypractice.org/2024/03/14/bringing-on-the-social-infrastructuring-libraries-through-zine-making-workshops/
Interessant an dieser Studie ist die Methodik. Herausgefunden werden
sollte, wie (schwedische) Bibliothekar*innen eine Öffentliche Bibliothek
wahrnehmen, also konkret, wie sie in der Praxis den Anspruch, dass diese
ein Ort
beziehungsweise ein Treffpunkt
sein soll,
verstehen. Dazu wurde von den Autor*innen ein Fanzine Workshop
mit acht Bibliothekar*innen veranstaltet. Die Teilnehmenden versammelten
sich in einer konkreten Bibliothek und erhielten dann Aufgaben, die in
Fanzines – also selbst produzierten, kleinen Heften – über die
Bibliothek endeten. Es ging darum, durch den Raum zu gehen, ihn
wahrzunehmen, Notizen, Photos oder Skizzen zu machen und diese
Materialien in Zweierteams zu ordnen, auszuwählen sowie schliesslich zu
den genannten Fanzines zusammenzukleben. Die Autor*innen nutzten die
Fanzines anschliessend als Datenmaterial. Sie werteten sie daraufhin
aus, wie die Bibliothekar*innen den Raum und seine Nutzung sahen, was
sie als wichtig und was als weniger wichtig ansehen. Die Ergebnisse
waren wenig überraschend, sondern spiegelten den Diskurs über die
Bibliothek als offenen, demokratischen Ort
, der sich auch in der
Literatur zu Öffentlichen Bibliotheken im DACH-Raum findet. (ks)
Adolpho, Keahi ; Krueger, Stephen G. (2024). Decistifying trans and gender diverse inclusion in library work: A literature review. In: In The Library With The Lead Pipe, 24.04.2024, https://www.inthelibrarywiththeleadpipe.org/2024/decistifying/
Ausgangspunkt für diese Literaturübersicht ist das Unbehagen der
Autor*innen über den Stand
der Literatur zu Trans- und
Genderthemen in der (englischsprachigen) bibliothekarischen Literatur.
Es gibt zu diesem Thema zwar eine wachsende Anzahl von Texten, aber
diese – so die Kritik – würde praktisch immer wieder nur die Grundlagen
erklären. (Sie nennen dies das Trans 101
, also praktisch den
Einführungskurs.) Hingegen fehlten konkrete Arbeiten dazu, wie
Bibliotheken (ganz umgreifend gemeint – als Sammlungen, als Kataloge,
als Orte, als Arbeitsplatz) zu Orten werden könnten, in denen Trans- und
Genderthemen normaler Alltag und damit normalisiert
sind.
Stattdessen würde immer wieder neu erklärt, welche unterschiedlichen
sexuellen Identitäten es gäbe, dass es einen Unterschied zwischen
Identität und sexuellen Präferenzen gäbe oder wie Sprache und Geschlecht
funktionieren
. Es scheint den Autor*innen, als bliebe man bisher
bei den ersten Schritten stehen.
Um diese Aussage zu untermauern, führen sie in diesem Artikel eine
weitgehend systematische Literatursichtung durch. Sie versammeln
Literatur der letzten Jahre und besprechen sie einzeln. Auch wenn das
nicht ihr Ziel war, liefern sie damit eine Handreichung für
Bibliothekar*innen, die sich für das Thema interessieren. Ungewollt ist
dies also ein weiteres Trans 101
, aber vielleicht eines, das ein
Weitergehen
motiviert, da so sichtbar wird, dass die Grundlagen
eigentlich alle schon mehrfach erklärt wurden. (ks)
2.2 Forschungsdatenmanagement und Forschungsförderung
Schmidt, Birgit ; Chiarelli, Andrea ; Loffreda, Lucia ; Sondervan, Jeroen (2023). Emerging Roles and Responsibilities of Libraries in Support of Reproducible Research. In: LiberQuarter 33 (2023), https://doi.org/10.53377/lq.14947
Der Titel des Textes impliziert eine Studie, aber er ist eigentlich ein Policy-Dokument, das die Arbeit einer Arbeitsgruppe von Bibliothekar*innen und anderen Personen aus dem Bereich Forschungsinfrastruktur in Europa zusammenfasst. Es scheint sich auf einer breiten Literaturbasis abzustützen, die immer wieder argumentativ herangezogen und auch im Literaturverzeichnis dargestellt wird. Die Darstellung selbst ist jedoch erstaunlich wenig mit dieser Literatur verbunden. Eher werden hier grundsätzliche Ergebnisse der Arbeitsgruppe dargestellt, der darin aber vertraut werden muss. Zumindest die dargestellten Ergebnisse – dass es verschiedene Entwicklungen im Bereich Forschungsdatenmanagement gibt und dass sich diese in den verschiedenen europäischen Ländern und Institutionen unterscheiden – scheinen recht gering für den Aufwand zu sein, eine länderübergreifende Arbeitsgruppe einzurichten. (Zu vermuten ist, dass die Zusammenarbeit einen Beitrag zur Vernetzung geleistet hat, die im Text nicht sichtbar wird.) Der Text wird als Beispiel dieser Art von Literatur zu gelten, die in den letzten Jahren immer häufiger im Bibliotheksbereich zu erscheinen scheint – Dokumente, die eigentlich eine Positionsbestimmung darstellen (was seine Berechtigung hat), aber im Format einer wissenschaftlichen Arbeit daherkommen (was sie allerdings nicht sind). (ks)
Hackett, Cody ; Kim, Jeonghyun (2024). Planning, implementing and evaluating research data services in academic libraries: a model approach. In: Journal of Documentation 80 (2024) 1, 27–38, https://doi.org/10.1108/JD-01-2023-0007 [Paywall]
Der Titel des Textes ist irreführend. Es geht nicht um ein weiteres Modell für Services im Bereich Forschungsunterstützung an Wissenschaftlichen Bibliotheken, vielmehr ist es eine Übersicht zu schon vorhandenen Modellen dieser Art. Gezeigt wird, (a) dass es schon eine Reihe von Modellen gibt, die einzuordnen versuchen, was Bibliotheken in diesem Bereich anbieten oder anbieten sollten, (b) dass sich diese Modelle teilweise sehr voneinander unterscheiden und (c) dass sich der Bereich in Bewegung befindet. (ks)
2.3 Wissenschaftskommunikation und wissenschaftliche Zeitschriften
Koçak, Zafer (2023). Misleading Metrics: Predatory Trade Expands. In: Trakya University Journal of Natural Sciences 24 (2023) 2, 1–3, https://doi.org/10.23902/trkjnat.1368563
In diesem kurzen Editorial gibt der Autor einen Überblick über
Praktiken irreführender bibliometrischer Online-Angebote im Kontext von
Predatory Journals. Neben einer inhaltlichen Einführung werden einige
der häufigsten misleading metrics
aufgelistet, ihre
Charakteristiken aufgelistet und wichtige Publikationen zum Thema
erwähnt. Der Text eignet sich gut, um einen schnellen Überblick über das
Thema zu erhalten. (eb)
Dejan Pajić, Aleksandra Babić, Tanja Jevremov (2023): Open access practice in personality research: a bibliometric perspective. Primenjena Psihologija, 16(4). https://doi.org/10.19090/pp.v16i4.2511
Die Autor*innen legen eine bibliometrisch grundierte fachspezifische
Analyse des Open Access-Verhaltens der Community der
Persönlichkeitsforschung in der Psychologie vor. Sie ist Teil einer
Sonderausgabe zum Thema Promoting Open Science Principles
. Über
Scopus werteten die Autor*innen über 57.000 Publikationen aus dem Feld
hinsichtlich des Publikationsstatus aus und konnten eine generelle
Open-Access-Quote von 31% ermitteln. Während im Gesamtbestand Green-OA
dominiert, lassen sich im Zeitverlauf die größten Zuwächse im Bereich
Gold-OA ermitteln. Der grüne Weg verliert sogar an Relevanz. Allerdings
stellt die Studie fest, dass sich Gold-OA für die Domäne der
Persönlichkeitsforschung hinsichtlich des wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Impacts beziehungsweise Reichweite als gegenüber den
Erwartungen deutlich weniger wirksam als bei Green-OA erweist. Dies ist
insofern problematisch, weil es die Bewegung von Green-OA zu Gold-OA
gibt. Die Autor*innen vermuten, dass die steigende Akzeptanz von Gold-OA
zu einer Abnahme der Motivation für Green-OA, also die
Zweitveröffentlichung über Repositorien führt. (bk)
Eve, Martin Paul (2024). Digital Scholarly Journals Are Poorly Preserved: A Study of 7 Million Articles. In: Journal of Librarianship and Scholarly Communication 12 (2024) 1, https://doi.org/10.31274/jlsc.16288
Diese Studie stammt direkt aus der Forschung von crossref, also der zentralen Registrierungsagentur für DOIs. Insoweit sind die Fragestellung und auch die Handlungsempfehlungen, die am Ende gegeben werden, aus den Interessen der Organisation abgeleitet. Dennoch sind die Ergebnisse der Studie für Bibliotheken relevant. Sie untersucht mithilfe einer Datenanalyse, den Archivierungsstatus wissenschaftlicher Artikel, selbstverständlich immer behaftet mit dem Problem jeder Datenanalyse, dass sie von der Qualität der vorhandenen Daten abhängig ist.
Aber: Es gibt grundsätzlich die Erwartung, dass Wissenschaftsverlage sich um die Archivierung der von ihnen veröffentlichten Artikel kümmern. Sie sollen sicherstellen, dass einmal vergebene DOIs auch immer auf eine Version eines Artikels verweisen können. Dazu wird auch erwartet, dass er an verschiedenen Stellen beziehungsweise in verschiedenen Systemen archiviert ist.
Die Analyse zeigt nun – wie schon der Titel des Artikels andeutet –,
dass dies selten der Fall ist. Einige wenige Verlage erfüllen diese
Erwartung, eine etwas grössere Zahl erfüllt sie einigermassen – legt
also Kopien nur in einem System ab – und der grösste Teil erfüllt sich
nicht. Es gibt dabei einige Tendenzen: Grössere Verlage schneiden
grundsätzlich besser ab, aber auch nicht alle. Nur Elsevier erfüllt alle
Ansprüche. Je kleiner die Verlage sind, umso eher ist der
Archivierungsstatus ihrer
Artikel prekär. Dies stellt, wie der
Autor richtig bemerkt, ein Problem für die langfristige
Nachvollziehbarkeit von Wissenschaft dar. In seiner Auswertung geht er
hauptsächlich auf mögliche Konsequenzen für crossref ein, vor allem
strengere Durchsetzung von Anforderungen für die Vergabe von DOIs und
bessere Beratung ihrer Mitglieder. Bibliotheken müssen ihre eigenen
Schlüsse ziehen. (ks)
Haruto Hiraba, Yoshimasa Takeuchi, Kensuke Nishio, Hiroyasu Koizumi, Takayuki Yoneyama, Hideo Matsumura: Current status of dental journals published by Japanese organization. In: Japanese Dental Science Review. Vol. 60, 2024, S. 40–43, https://doi.org/10.1016/j.jdsr.2023.12.001
Die Autor*innen analysieren die internationale Sichtbarkeit von japanischen Fachzeitschriften aus dem Bereich der Zahnmedizin anhand der Kriterien Journal Impact Factor (JIF), Eigenfactor (EF), Article Influence Score (AIS) und Open-Access-Anteil. Im Journal Citation Reports (JCR) sind 18 Publikationen nachgewiesen, 16 weitere Titel werden nicht im JCR indexiert. Die Zeitschrift mit dem höchsten JIF (6,6) ist The Japanese Dental Science Review, die damit derzeit auf Platz fünf unter den zahnmedizinischen Journals weltweit steht. Die Autor*innen betonen die Relevanz für Forschende in diesen Toptiteln zu publizieren. Sie unterstreichen zugleich die Bedeutung der Publikation in Gold-Open-Access-Zeitschriften, die den Standards des DOAJ entsprechen. Die Studie geht davon aus, dass über Open Access die Sichtbarkeit der Aufsätze weiter zunimmt. Die Autor*innen sprechen sich daher für eine stärkere Umstellung der Zeitschriften auf Gold-Open-Access aus. Sie erwarten dadurch höhere JIF, EF und AIS-Werte und einen stärkeren Wettbewerb der Titel untereinander. Als die beiden zentralen Herausforderungen für Open Access sehen sie die Frage der Finanzierung und die der Qualitätssicherung. (bk)
Dueholm Müller, Sune ; Sæbø, Johan Ivar (2024). The
hijacking
of the Scandinavian Journal of Information Systems:
Implications for the information systems community. In: Information
Systems Journal 34 (2024) 2: 364–383, https://doi.org/10.1111/isj.12481
Eine (relativ) neue Art von Betrug im Bereich wissenschaftliche
Zeitschriften wird in diesem Artikel anhand eines konkreten Beispiels,
dem im Titel genannten Scandinavian Information Systems Journal
,
geschildert, nämlich das hijacking
von Zeitschriften. Dies
betrifft offenbar eine wachsende Zahl von Zeitschriften und hat auch
schon dazu geführt, dass das Projekt Retraction Watch
eine eigene
Liste solcher Zeitschriften führt https://retractionwatch.com/the-retraction-watch-hijacked-journal-checker/.
Bei diesem Betrug wird eine Zeitschrift aufgesetzt, die eine regulär
existierende Zeitschrift kopiert, inklusive Titel, Aussehen,
Einreichungssystem, ISSN und anderen Merkmalen. Im beschriebenen Fall
ging dies soweit, dass in der Scopus-Datenbank sogar die URL zur
falschen Zeitschrift als die der richtigen hinterlegt wurde.
Anschliessend werden Artikel, die eingereicht werden, für die
Publikation angenommen, aber direkt eine Article Processing Charge
verlangt. In anderen Fällen wurden offenbar eingereichte Artikel unter
dem Namen anderer Autor*innen veröffentlicht. Der Artikel erläutert
diesen Betrug; beschreibt, wie Redaktion der richtigen
Zeitschrift darauf aufmerksam wurde und wie sie versuchte, den Schaden
zu begrenzen (was schwierig war, weil offenbar die grossen Anbieter von
Datendiensten kaum auf Meldungen dieser Art reagieren). Zudem wird
beschreiben, welche Auswirkungen der Betrug zum Beispiel auf Autor*innen
hat, die hoch bewertete Publikationen benötigen, um Karrieren starten
oder fortsetzen zu können, aber auch für die Reputation von
Zeitschriften. Die Autor*innen setzen sie auch an, darüber nachzudenken,
wie auf diesen Betrug reagiert werden kann, kommen dabei allerdings
nicht sehr weit. (ks)
2.4 Open Access
Chan, Jennifer ; Zhangm Erica ; Vrmeij, Hermine ; Riemer, John (2024). Metadata Librarians for Open Access: A Path Towards Sustainable Discovery and Impact for Open Access Resources. In: International Journal of Librarianship 8 (2024) 4: 30–41, https://doi.org/10.23974/ijol.2024.vol8.4.351
Am Ende ist dieser Artikel ein Praxisbericht darüber, wie eine, allerdings sehr grosse Universitätsbibliothek (University of California Libraries) eine Position für eine*n Metadata Librarian im Open Access Team eingerichtet hat. Diese Person ist für die Pflege der Metadaten beziehungsweise Katalogisate für Open Access Publikationen im Katalog der Bibliothek zuständig. Diese Schwerpunktsetzung hätte deren Sichtbarkeit erhöht.
Interessant ist, dass die Autor*innen dies als ein Problem beschreiben: Bibliotheken hätten in den letzten Jahren immer mehr Zeit und Ressourcen im Bereich Open Access investiert, aber gerade nicht darin, deren Metadaten zu pflegen. Dies führte dazu, dass andere Publikationen, insbesondere solche, die physisch erscheinen, sichtbarer wären. Dabei lägen die Kompetenzen von Bibliotheken gerade im Bereich Metadaten. Der Artikel plädiert für die Aufnahme dieser Aufgabe in das Portfolio von Open Access Offices. Ob es stimmt, dass dies eine neue Aufgabe wäre, wie sie behaupten, untersuchen die Autor*innen nicht. Eventuell stimmt dies nur für die USA oder die betreffende Bibliothek. (ks)
3. Monographien und Buchkapitel
3.1 Vermischte Themen
Bonn, Maria ; Bolick, Josh ; Cross, Will (eds.) (2023). Scholarly Communication Librarianship and Open Knowledge. Chicago: Association of College and Research Libraries, 2023. Open-Access-eBook- erreichbar über https://alastore.ala.org/content/scholarly-communication-librarianship-and-open-knowledge [OA-Version: https://bit.ly/SCLAOK] (Eine DOI würde dem Werk gut tun.)
Ein neues Buzz-Word und neues Futter aus amerikanischer Produktion
für die Berufsbilddebatte im wissenschaftlichen Bibliothekswesen, also
auch für Fachreferent:innen und umzu
, denkt man. Und rollt dann
bei einigen der (sehr kurzen) Beiträge angesichts der recht
heroischen
Darstellungen ein wenig mit den Augen.
Die angesprochenen Themenbereiche und vor allem die zu jedem Beitrag
aufgeführten Discussion questions
können aber für das Nachdenken
über die Lage an deutschen Bibliotheken durchaus Knabberzeug
liefern. (vv)
Lo, Patrick ; Baker, David (2024). The Marketing of Academic, National and Public Libraries Worldwide: Marketing, Branding, Community Engagement. Cambridge, Kidlington: Chandos Publishing, 2024, https://doi.org/10.1016/C2022-0-01950-4 [Paywall]
Von einem Buch mit dem Titel The marketing of academic, national
and public libraries worldwide: marketing, branding, community
engagement
, das 753 Seiten umfasst, könnte man eine Fülle von
Fallbeispielen und Good Practices aus dem Marketing für
wissenschaftliche Bibliotheken erwarten. In diesem Fall aber bekommt man
eine Sammlung von Interviews mit Kolleg:innen, die mehr oder weniger für
das Marketing oder ähnliche Aktivitäten in ihren Bibliotheken zuständig
sind.
Die Antworten sind streckenweise durchaus interessant zu lesen. Aber
aufgrund einiger der (meines Erachtens viel zu groß formatierten)
Fragen, schwanken sie oft zwischen Marketing für Bibliotheken
und
für die jeweiligen Bibliothekar:innen
(bis hin zu What would
you like to be remembered for when you retire?
).
Die Auswahl der befragten Kolleg:innen hat einen USA-Schwerpunkt,
aber es gibt auch Beiträge aus anderen Ländern der Welt, darunter
Deutschland. Für die Reihenfolge im Band habe ich kein Muster erkennen
können. In einigen Fällen ist die Auswahl der Interviewten oder
zumindest die Aufnahme der Interviews in die Sammlung fragwürdig (zum
Beispiel as I am not the marketing expert, I can’t really answer the
question
, S. 243).
Hat man sich nach ein paar Seiten also von der Idee verabschiedet, Inspirationen für Marketingmaßnahmen im eigenen Haus finden zu können, kann man viel darüber erfahren, auf welchen Wegen die vorgestellten Kolleg:innen in ihre Bibliothek und auf ihre Position geraten sind und wie viele Bezeichnungen es für Aufgabenbereiche im weiten Umfeld von Marketing und Community Engagement gibt. Man lernt viele Bibliotheken in Kurzportraits kennen – und kann nach der Lektüre dann vielleicht auch darüber nachdenken, für was man denn selbst nach dem Abschied in den Ruhestand (oder in Richtung einer anderen Aufgabe oder Bibliothek) in Erinnerung bleiben möchte. (vv)
Jaminson, Andrea (2024). Decentering Whiteness in Libraries: A Framework for Inclusive Collection Management Practices. (Beta Phi Mu Scholars Series) Lanham, Boulder, New York, London: Rowman & Littlefield, 2024 [gedruckt und als E-Book, Paywall]
Das kurze Buch bietet für US-amerikanische Bibliotheken eine
Anleitung, Medienbestände gezielt diverser zu gestalten. Das
decentering whiteness
im Titel heisst hier vor allem, dass die
Erfahrungen, Perspektiven und Interessen anderer Personengruppen als der
weissen Majorität in den USA ebenso im Bestand vertreten sein sollten –
und zwar als Normalfall, nicht zum Beispiel als gesonderte Abteilung. In
den letzten Jahren wurden eine ganze Anzahl solcher Arbeiten sowohl als
Monographien als auch in anderen Medienformaten veröffentlicht. Man kann
also von einer eindeutigen Bewegung hin zu diesem Thema und damit wohl
auch dem Ziel, in Bibliotheken solche diversen Bestände zu etablieren,
sprechen. Gleichzeitig – ansonsten würden nicht immer neue Arbeiten dazu
publiziert werden – ist dieses Ziel offensichtlich bislang nicht
erreicht worden.
Was dieses Buch auszeichnet, ist, dass es einerseits sehr kurz und
andererseits sehr praxisorientiert ist. Die Autorin argumentiert sowohl
mit ihrer eigenen Geschichte als afro-amerikanische Schüler*in, die ihre
eigene Erfahrung nicht in der Schulbibliothek ihrer sonst
afro-amerikanisch geprägten Schule wiederfand, als auch mit
grundsätzlichen Überlegungen dazu, dass eine diverse Gesellschaft auch
diverse Medienbestände benötigt, für die notwendige Arbeit im
Bestandsmanagement. Sie geht dann kurz weitere grundsätzliche Themen
durch, zum Beispiel die Geschichte der Positionen der ALA zum Thema.
Anschliessend steigt sie aber direkt in das Bestandsmanagement ein und
zeigt, wie das benannte Ziel über Bestandsmanagementplänen, deren
Umsetzung und Evaluation in der Praxis angegangen werden kann. Wert legt
sie dabei auf die von ihr selbst entwickelte Measure of
Diversity
, einer Formel, mit der Bibliotheken den Stand der
Diversität ihrer Bestände messen
können. All das ist für die
direkte Praxis in Bibliotheken geschrieben, inklusive Hinweisen auf
weiterführende Materialien und Beispiele.
Was für Leser*innen aus dem DACH-Raum mit diesem Werk offensichtlich
wird, ist, wie anders und strukturierter in den USA Bestandsmanagement
betrieben wird, insbesondere wie genau dieses in den
Bestandsmanagementplänen vorstrukturiert und durch diese gesteuert wird.
Gleichzeitig – so zumindest der Eindruck – scheinen Bibliotheken aber
auch viel näher
am Inhalt der Medien zu sein, als dies im
DACH-Raum üblich ist, wo eine wachsende Anzahl von Medien durch Standing
Order oder vergleichbare Formen des Massenkaufs
in die
Bibliotheken gelangen. Die Autorin verweist immer wieder darauf, dass
klar sein müsse, was in den Medien steht, dargestellt wird und so
weiter, und zum Beispiel auch auf Sammlungen von Rezensionen von
diversen
Medientiteln, die nur Sinn ergeben, wenn Bibliotheken
tatsächlich einzelne Medien für ihren Bestand wählen und sie inhaltlich
bewerten. Das ist eine andere Kultur des Bestandsmanagement, was auch
heisst, dass Bibliotheken im DACH-Raum die Werkzeuge, Strukturen,
Formeln und so weiter nicht einfach aus den USA übernehmen können, wenn
sie selber das Ziel haben, ihre Bestände diverser zu machen. (ks)
Medaille, Ann (2024). The Librarian’s Guide to Learning Theory: Practical Applications in Library Settings. Chicago: ALA editions, 2024 [gedruckt]
Diese kurze Publikation ist als Praxisbuch für Bibliothekar*innen gedacht, die direkt – also zum Beispiel in Kursen oder im Klassenraum – oder indirekt mit Bildung zu tun haben. Einleitend betont die Autorin, dass Lerntheorien beschreiben, wie Lernen funktioniert und dass sie deshalb grundlegend dafür sein sollten, wie Bildungsaktivitäten von Lehrenden aufgebaut, geplant und durchgeführt werden. Sie bezieht dies explizit auf Bibliothekar*innen. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, da die explizite Beachtung theoretischer Vorannahmen tatsächlich zu einer besseren Lehre führt – weshalb diese Theorien einen hohen Stellenwert in der Ausbildung von Lehrpersonen haben –, diese Theorien für Bibliothekar*innen aber kaum aufbereitet sind.
Ein Problem, das sich aber auch in der Ausbildung von Lehrpersonen
stellt, ist, dass es eine ganze Reihe von Lerntheorien gibt, die immer
nur zum Teil empirisch bestätigt werden können. Insoweit gibt es
eigentlich keine Meistertheorie
, sondern eine Vielzahl von
Ansätzen. Die Autorin betont am Anfang, dass sie verschiedene Theorien
vorstellen wird, aber am Ende ist es nur eine – wenn auch die aktuell
die pädagogische Diskussion prägende – Theorietradition, nämlich der
Konstruktivismus, den sie in verschiedenen Aspekten durchgeht. Anstatt
vieler Theorien sind die Kapitel eher Unterpunkten gewidmet,
beispielsweise der self-regulation
von Lernenden oder der
Bedeutung von dialogue
im Bildungsprozess. Dabei ist jedes
Kapitel gleich aufgebaut: Nach einer inhaltlichen Einführung, die
teilweise auch auf die historische Entwicklung des Themas eingeht, folgt
ein Abschnitt über die Bedeutung des Themas für Bibliotheken, dann einer
direkt für Lehrveranstaltungen von Bibliothekar*innen, um mit
Reflexionsfragen (sowie Fussnoten und Literatur) abzuschliessen. Das
Ganze ist also sehr praxisorientiert und sinnvoll für
Bibliothekar*innen, die sich damit beschäftigen wollen, wie sie ihre
Bildungsaktivitäten planen und durchführen wollen – aber nur für eine
Lerntheorie und nicht, wie man durch den Titel vermuten könnte, für eine
Anzahl von ihnen. (ks)
3.2 Bibliotheks- und Buchgeschichte
Widdersheim, Michael M. (2023). Circulation of Power: The Development of Public Library Infrastructure in Greater Pittsburgh, 1924–2016. (Current Topics in Library and Information Practice) Berlin ; Boston: Walter de Gruyter, 2023. https://doi.org/10.1515/9783111013404. [gedruckt und als E-Book, Paywall]
Auf der einen Seite ist dem Autor dieses Buches vieles zugute zu halten. Er unternimmt den Versuch, eine Theorie der Bibliotheksentwicklung zu erarbeiten und das auf der Basis eines konkreten, historischen Beispiels. (Genauer: Er hat diese Theorie schon in einigen Artikeln entwickelt, in diesem Buch exemplifiziert er sie noch einmal.) Mit der Theorie will er beschreiben, warum sich Bibliothekssysteme entwickeln. Gleichzeitig stellt er klar, dass er diese Theorie zur Diskussion stellt. Er hätte sie an einem Beispiel entwickelt, sie müsse an weiteren Beispielen geprüft werden. Und zuletzt stellt er die Geschichte des Beispiels selbst, nämlich das heutige System Öffentlicher Bibliotheken im Raum Pittsburgh und die die Bibliotheken unterstützende Infrastruktur, in detaillierter Weise dar.
Allerdings: Die Theorie, die er entwickelt und explizit in einem eigenen Kapitel darstellt, ist wenig überzeugend. Er postuliert, dass die Entwicklung vor allem als eine Art Spiel von Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren beschrieben werden könne. Die Akteure – Vereine, staatliche Akteure und Strukturen, Bibliotheken, Einzelpersonen, gesellschaftliche Initiativen und andere – würden wechseln. Aber was sich wiederholte, wäre eine Thematisierung von Problemen durch einige Akteure, auf die dann von anderen ab einer bestimmten Dringlichkeit reagiert würde – zustimmend, ablehnend oder konstruktiv. In einigen Fällen würden die aufgeworfenen Probleme gelöst, beispielsweise durch neue Infrastrukturen, in anderen würden sie ungelöst bleiben. Dies würde sich zyklisch wiederholen. Der Autor weigert sich, andere mögliche Gründe für diese Veränderungen zu prüfen. Solche – zum Beispiel die Bevölkerungsentwicklung, gesellschaftlicher und technologischer Wandel, Veränderungen der Medienpraxis – versteht er immer nur als Auslöser von Kommunikation, nicht als Grund für Veränderungen in Bibliotheken selbst. Zudem scheint seine Darstellung der entworfenen Theorie unnötig komplex und gleichzeitig erstaunt, dass sie offenbar ohne Rückgriff auf andere Theorien erstellt wurde, die sich mit Diskursen und Veränderungen befassen (es sei nur an die Systemtheorie (Luhman) oder die Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas) erinnert).
Seine Darstellung der konkreten Geschichte der Bibliothekssysteme im Grossraum Pittsburgh, die er im Buch ebenfalls liefert, fokussiert dann auf kommunikative Akte. Im Ganzen ist das interessant, aber teilweise ist es eine Darstellung davon, welcher Verein oder welche Bürgermeisterin wann eine Brief geschrieben oder eine Rede gehalten hat. An solchen Stellen ist den Darstellungen schwer zu folgen, weil sich die Situationen über die Jahrzehnte sehr ähneln. (ks)
Senarclens, Vanessa de (Hrsg.) (2024). Bücher und ihre Wege: Bibliomigration zwischen Deutschland und Polen seit 1939. (Fokus: Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas, 12). Paderborn: Brill Schöningh, 2024. https://doi.org/10.30965/9783657791750. [gedruckt und als E-Book, Paywall]
Auch wenn er in diesem Buch nicht benutzt wird, wäre wohl der Begriff
Entanglement
von Bibliotheken und Geschichte geeignet, um den
Inhalt dieses Werkes zu beschreiben. Ausgehend von einer Konferenz
versammelt der Band Beiträge zu der Frage, wie Bibliotheken und Bestände
im Laufe der polnischen und deutschen Geschichte wanderten
, aber
auch – sehr oft und insbesondere während des Nationalsozialismus –
zerstört wurden. Sichtbar wird dabei auch, dass es unterschiedliche
Geschichten gibt. Während in Polen die Erfahrung einer breit angelegten,
systematischen Zerstörung polnischer Bibliotheken – und, wie in den
Beiträgen auch sichtbar wird, explizit jüdischer – während des
Nationalsozialismus vorherrscht, wird auf deutscher Seite bislang vor
allem auf Lücken
in Bibliotheksbeständen in Deutschland selbst
verwiesen, die durch den Verlauf des Krieges entstanden. Damit sind
unter anderem Bestände gemeint, die von deutschen Bibliotheken während
des Zweiten Weltkrieges ausgelagert wurden, sich nach 1945 auf
polnischem Boden befanden und dann zur Basis heutiger Bibliotheken
wurden. Aus polnischer Sicht galten sie als zumindest teilweiser Ersatz
für die vernichteten Bestände.
Die Beiträge liefern weder eine vollständige Geschichte noch geben
sie eine klare Aussage dazu, wie zum Beispiel mit diesen alten
Beständen
heute umgegangen werden soll. In ihrer Grundhaltung
plädieren sie für eine Wahrnehmung gerade der polnischen Erfahrung durch
die deutsche Seite und heute für eine Zusammenarbeit der Bibliotheken
beider Länder. In vielen Beiträgen geht es darum, wie Bibliotheken
zerstört wurden oder welche Wege Bestände nahmen. Teilweise wird dies
als grossangelegte Geschichte erzählt, teilweise anhand von einzelnen
Büchern. (ks)
zur Lage, Julian (2022). Geschichtsschreibung aus der Bibliothek: Sesshafte Gelehrte und globale Wissenszirkulation (ca. 1750–1815). (Wolfenbütteler Forschungen, 169). Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 2022 [gedruckt]
Die im Titel dieses Buches erwähnte Bibliothek
wird erst sehr
spät zum Thema dieser kulturwissenschaftlichen Dissertation. Das
eigentliche Thema steht im Untertitel. Es geht um sesshafte
Gelehrte
– also solche, die vor allem von einem Ort aus arbeiteten
und keine grossen Reiseerfahrungen sammelten –, die Überblickswerke zu
globalen Themen vorlegten. Bei den vier hier tiefergehend besprochenen
Forschenden ging es immer darum, die Geschichte anderer Kontinente oder
gleich der ganzen Welt zu schreiben. Dabei stellte sich die Frage,
welche Quellen sie nutzen konnten, vor allem – das eigentliche Thema –
ob sie Reisebeschreibungen nutzten und wie sie diese bewerteten. Ihre
Thesen über die Entwicklung der Welt mussten sie auf Quellen stützen,
die sie nicht direkt überprüfen konnten. Und gleichzeitig mussten sie
begründen, warum ihre Arbeitsweise vom Schreibtisch aus
dafür
passend war.
Im Buch ist zu lernen, dass die Bewertung von Reiseberichten und der
Kritik dieser Berichte eine eigene Geschichte hat. Gleichzeitig erfährt
man, wie sich mit steigendem Anspruch an die Quellenkritik auch die
Verweisapparate – Fuss- und Endnoten, Bibliographien, Anhänge –
entwickelten. Zudem gab es eine Geschichte der Begründung, warum eine
sesshafte Forschung
, die vor allem Daten zusammentrug, bewertete
und daraus Thesen über die Entwicklung von Gesellschaften, Menschen und
der gesamten Welt ableitete, Vorteile gegenüber der eigenen
Anschauung vor Ort
hätte. Im Buch wird die Arbeit vier Forschender
besprochen: Cornelius de Pauw, William Robertson, Johann Gottfried
Herder und Julius August Remer. Nur bei Remer geht der Autor auf die
konkrete Arbeitsweise des Forschers, inklusive dessen Nutzung von
Bibliotheken ein – hier verstanden als Buchsammlungen, sowohl des
Forschenden selber, die von anderen Forschenden, Adligen und
Buchhändlern als auch von Universitätsbibliotheken selber. In diesem
Abschnitt finden sich auch konkrete Daten zur Nutzung von Büchern und
dem thematischen Aufbau von Bibliotheken. Die rund 250 Seiten der
Arbeit, die diesem Abschnitt vorangehen, lesen sich ein wenig wie ein
Prélude zu dieser intensiven Untersuchung.
Anzumerken ist zudem, dass der Autor im Einleitungsteil als
theoretische Basis Bruno Latours Analyse der Wissensproduktion aus
immutable mobiles
– Objekte, die bei Forschung im Feld erstellt
werden, um transportiert und dann in Laboren ausgewertet zu werden –
einführt. Das scheint für Reiseberichte und deren Verwendung eigentlich
ein sinnvolles Modell zu sein. Jedoch kommt der Autor im Laufe der
Untersuchung erstaunlicherweise nicht mehr auf diese theoretische Basis
zurück. (ks)
Smirnova, Victoria (2023). Medieval Exempla in Transition: Caesarius of Heisterbachs Dialogus miraculourm and Its Readers. (Cistercian Studies Series ; 296) Collegeville, Minnesota: Liturgical Press, 2023 [gedruckt]
Die Studie von Victoria Smirnova liest sich wie die Fingerübung einer Mediävistin, die anhand eines spezifischen Buches und Autors zeigt, was diese Wissenschaft an Wissen zu produzieren in der Lage ist. Fingerübung deshalb, weil sie gar nicht einmal das gesamte Spektrum der Forschungsmöglichkeiten nutzt – beispielsweise werden Manuskripte nicht materiell untersucht –, aber trotzdem eine erstaunliche, konsistente Geschichte aufzeigen kann.
Bei dem konkreten Buch geht es um eine Sammlung von Exempla
,
Geschichten über moralisch richtiges Verhalten, über das Wirken Gottes
und des Teufels, die alle mit einer pädagogischen Absicht gesammelt
wurden. Sie sollten den Gläubigen, allen voran Mönchen und Nonnen des
Zististensier-Orden, ermöglichen, den moralisch richtigen Weg zu finden.
Genutzt wurden sie aber auch, wie Smirnova zeigt, als Hilfe für
Predigten. Die Sammlung, erstellt im frühen 13. Jahrhundert, fand erst
im Zististensier-Orden Verbreitung, dann auch bei einigen anderen Orden.
In der frühen Neuzeit wurde sie mehrfach gedruckt und machte damit den
Medienwandel des 16. Jahrhunderts mit. Gleichzeitig wurde sie zum Objekt
protestantischer Kritik, die sie als Beispiel für Aberglauben anführte,
und anschliessend auch der katholischen Seite, welche sie als vielleicht
naive, aber ehrliche Suche nach Gott interpretierte. Im Zeitalter der
Romantik wurde die Sammlung als vorgeblicher Ausdruck deutschen
mittelalterlichen Denkens entdeckt
– unter anderem von Hermann
Hesse. In den jüngerer Zeit wurde der Autor der Sammlung, Caesarius von
Heisterbach, zum Protagonisten verschiedener populärer Romane, vor allem
als Symbol für mittelalterliche Weisheit
und Mystik (bis hin zum
Experten für Zeitreisen). Insoweit eignet sich das Buch als Beispiel für
eine Untersuchung.
Die Autorin geht nun das Buch – beziehungsweise, vor dem Druck, die
Textzeugen
des Buches –, die heute noch zu findenden Annotationen
und nachweisbaren Nutzungsweisen durch. Dies wird jeweils anhand der
verschiedenen in Bibliotheken vorhandenen Exemplare durchgeführt sowie
gerade für die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit den
jeweiligen Entwicklungen der verschiedenen Ordensgemeinschaften
kontextualisiert. Dabei beweist die Autorin, dass sie den
mediävistischen Handwerkskoffer
gut beherrscht: Die Geschichte
mehrerer Jahrhunderte wird zusammengebracht, die Manuskripte und ihre
Provenienz werden untersucht, zwischen verschiedenen Sprachen wird
scheinbar aus dem Stegreif übersetzt (besonders beeindruckend bei
Texten, die ein spätmittelalterliches Latein und Deutsch miteinander
verbinden). Das alles macht, wie gesagt, den Eindruck eines
Fingerspiels, einer Vorstufe einer grossen, noch tiefergehenden Studie.
Was das Buch allerdings auch zeigt, ist, dass dieser Handwerkskoffer
immer weniger brauchbar wird, je weiter sich die Autorin vom Mittelalter
selber entfernt. Die Kontextualisierung der Frühdrucke ist noch
überzeugend, die Kontextualisierung in der Romantik dagegen scheint
schon nur noch in sehr groben Strichen vorgenommen worden zu sein. Die
Darstellung zeitgenössischer Romane des 20. und 21. Jahrhunderts – also
in einer gänzlichen anderen Medienwelt zum Mittelalter – beschränkt sich
auf eine Nacherzählung.
Gleichzeitig, dass sollte nicht überraschen, ist die Studie auch ein Hinweis darauf, was die nachhaltige Arbeit von Bibliotheken zum Erhalt von Manuskripten, Frühdrucken und älterer Literatur zu ermöglichen in der Lage ist. Alle diese Dokumente fand die Autorin in Bibliotheken vor. Gleichzeitig ist sie heute selber Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer der grössten Bibliotheken mit einer solchen Sammlung, nämlich der Bayerischen Staatsbibliothek in München. (ks)
Purdy, Jessica G. (2024). Reading Between the Lines: Parish Libraries and their Readers in Early Modern England, 1558–1709. (Library of the Written Word, 120 ; The Handpress World, 98). Leiden, Boston: Brill, 2024. https://doi.org/10.1163/9789004363717. [gedruckt und als E-Book, Paywall]
Dieses Buch ist praktisch ein Reader zum im Titel genannten Thema
Parish Libraries
in England in der Neuzeit, also praktisch der
Zeit der Reformation und Gegen-Reformation. Mit den Parish Libraries
sind Buchsammlungen gemeint, die in Kirchgemeinden in dieser Zeit
angelegt und für die Benutzung der Gemeindemitglieder freigegeben
wurden. Die aufeinander folgenden englischen König*innen legten Wert
darauf, ihre jeweilige religiöse Richtung in der Bevölkerung auch
mittels Büchern zu vermitteln. Sowohl die protestantischen als auch die
katholischen Regierungen machten den Kirchgemeinden Vorschriften dazu,
welche Bücher sie anzuschaffen hätten. Dies beförderte den Aufbau
solcher Bibliotheken.
Auch wenn die Autorin das Buch als Studie
beschreibt, liest es
sich eher so, als hätte sie in den ersten zwei Teilen, in denen es erst
darum geht, wann und von wem die Bibliotheken gegründet wurden und dann,
wie genau sie ausgestattet oder wo sie in den Kirchen untergebracht
waren, die vorhandene Literatur zusammengefasst und teilweise neu
bewertet. Im dritten Teil dann widmet sie sich vier dieser Bibliotheken,
deren Bestände heute noch zu grossen Teilen erhalten sind, und wertet
sie bis ins kleinste Detail inhaltlich aus. Dabei kann sie zum Beispiel
zeigen, dass diese Bestände religiös recht offen waren, zumindest im
Rahmen der damaligen theologischen Auseinandersetzungen und dass sie
intensiv genutzt wurden, was heute noch an Lesespuren in den vorhandenen
Büchern nachvollzogen werden kann.
In den letzten Jahrzehnten hat es eine Anzahl von Teilstudien zu
diesen Bibliotheken gegeben, dieses Buch scheint einen gewissen
Abschluss darzustellen. Allerdings gelingt dies nicht immer überzeugend.
An vielen Stellen ist nicht klar, woher die Autorin ihr Wissen bezieht.
Es scheint ein wenig so, als würde sie bestimmte Aussagen für so bekannt
halten, dass sie nicht mehr nachgewiesen werden müssen. Irritierend ist
das vor allem im ersten Teil, wenn sie Schlüsse aus den Gründungsdaten
der Bibliotheken zieht – beispielsweise dass sie erst in den Städten,
danach auf dem Land erfolgten, dann aber das ganze Land erfassten –, die
sie als letztgültigen Stand der Forschung darstellt. Dabei schreibt sie
selber, dass es fast nie genau bestimmt werden kann, durch wen und wann
eine dieser Bibliotheken tatsächlich gegründet wurde. Vieles dieser
Geschichte liegt im Dunkeln. Insoweit werden auch in Zukunft noch mehr
dieser Bibliotheken auftauchen
. Die Autorin präsentiert ihre
Daten aber so, als wären sie abgeschlossen und weist sie auch nicht
einzeln nach. (ks)
Strickland, Forrest C. (2023). The Devotion of Collecting: Dutch Ministers and the Culture of Print in the Seventeenth Century. (Library of the Written Word, 110 ; Handpress World, 89) Leiden, Boston: Brill, 2023. https://doi.org/10.1163/9789004538191. [gedruckt und als E-Book, Paywall]
Die Niederlande waren im 17. Jahrhundert wohl das Land mit dem grössten Buchmarkt. Gründe dafür waren die calvinistische Orientierung der damals neuen Republik, die eine Bevölkerung hervorbrachte, welche hoch alphabetisiert war, da sie die Bibel direkt lesen können sollte; eine grosse Zahl von gebildeten Geistlichen, die aus den staatlicherseits eingerichteten Universitäten stammten sowie das rasante Wirtschaftswachstum, das die Niederlande zu einem Mittelpunkt eines Netzes machten, an dem – nicht nur im Buchmarkt – viele wirtschaftliche Stränge zusammenflossen. Nicht zuletzt regten zahlreiche theologische Auseinandersetzungen, sowohl innerhalb des Calvinismus als auch mit anderen Denominationen, die ständige Produktion und Konsumtion von Literatur an.
In diesem Klima etablierte sich die Buchauktion als Teil des Buchmarktes. Starben Personen, die eine einigermassen ansehnliche Anzahl an Büchern besassen, wurden diese oft versteigert. Daneben wurden oft auch Buchbestände von Verlagen versteigert, um schnell frisches Kapital für andere Buchprojekte einzuwerben. Für viele dieser Auktionen wurden Auktionskataloge gedruckt, die teilweise über das ganze Land und darüber hinaus verbreitet wurden, damit auch Personen aus anderen Städten mitbieten konnten. Für diese Kataloge entwickelten sich inoffizielle Standards: Meist teilten sie die Bücher in Kategorien, erwähnten ihre Sprache und so weiter. Und: Eine ganze Anzahl dieser Kataloge wurde in Bibliotheken bis heute überliefert, obgleich sie eigentlich explizite Verbrauchsliteratur darstellten.
Basis der vorliegenden Studie waren nun 2092 dieser Kataloge aus dem 17. Jahrhundert, die heute noch vorhanden sind und die der Autor daraufhin auswertete, welche Bücher in ihnen zur Versteigerung angezeigt wurden. (Eventuell finden sich in Zukunft noch mehr. Es ist auch bekannt, dass es noch mehr Auktionen gab, die zum Beispiel in Zeitungen der Zeit erwähnt wurden.) Bei den Büchern handelte sich um solche, welche die Eigentümer am Ende ihres Lebens besassen – sicherlich nicht alle Bücher, die sie gelesen hatten, da Bücher auch verliehen oder verschenkt wurden oder weil Familien nicht alle Bücher versteigern wollten. Aber sie bieten doch einen Einblick in die privaten Buchbestände der damaligen Zeit. Der Autor hat die Einträge dieser Kataloge in einer Datenbank versammelt und stellt die Auswertung dieser Daten dar. Sie wird in den Kontext der damaligen Debatten und Kultur eingebunden. Es ist ein narrativer Text, in den zahlreiche Tabellen integriert sind, aber zum Beispiel auch auf Bilddokumente verwiesen wird. Das alles geschieht sehr ausführlich. Immer beginnt der Autor ein Kapitel mit einer Vignette, beispielsweise einer Auktion oder einem Theologen und seinen Büchern, um dann anhand seiner Daten allgemeiner zu werden. Da Priester und Theologen die meisten Bücher hatten, geht es dabei meist auch um theologische Debatten.
Grundsätzlich entsteht das Bild einer alphabetisieren Gesellschaft,
in denen Fragen des Glaubens noch den Mittelpunkt des Denken
darstellten, aber auch zum Beispiel die Wirtschaft oder die Philosophie,
die sich von der Theologie zu lösen begann, eine immer grössere Rolle
spielten. Sichtbar wird auch, wie Latein als Sprache weiter
vorherrschte, aber im 17. Jahrhundert dabei ist, langsam von
Alltagssprachen abgelöst zu werden. Und nicht zuletzt wird sichtbar, wie
Bücher immer mehr zum Allgemeingut wurden, also auch immer mehr
handliche
Ausgaben erschienen. Das ist alles interessant,
allerdings teilweise sehr ausführlich und deshalb langsam zu lesen.
(ks)
Bassermann-Jordan, Gabriele von ; Fromm, Waldemar ; Haug, Christine ; Raabe, Christiane (Hrsg.) (2024). Jella Lepman: Journalistin, Autorin, Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek, Eine Wiederentdeckung. (Bavarian, Münchner Schriften zur Buch- und Literaturgeschichte, Kleine Reihe ; 4). München: Allitera Verlag, 2024 [gedruckt]
Dieser Band versammelt die Vorträge einer Tagung, die 2020 stattfinden sollte, aber aufgrund der Covid-19 Pandemie ausfiel. Die Tagung hätte sich, wie im Titel angegeben, mit Jella Lepman beschäftigt, nicht nur mit ihrer Rolle als Gründerin der 1949 in München eröffneten Internationalen Jugendbibliothek, sondern auch mit anderen Aspekten ihrer Arbeit. Stattdessen erfolgt dies nun über die Beiträge in diesem Buch.
Lepman, in der Weimarer Republik Politikerin und Journalistin im liberalen Milieu, floh – verfolgt wegen dieser Tätigkeiten und ihrer jüdischen Herkunft – vor dem nationalsozialistischen Regime aus Deutschland. Nach 1945 kehrte sie zurück, um die US-amerikanische Besatzungsmacht bei deren Kulturarbeit zu unterstützen. Dabei hielt sie, wie in mehreren Beiträgen betont, explizit Abstand zur deutschen Bevölkerung und deutschen Behörden, beispielsweise indem sie generell englisch sprach und eine US-amerikanische Uniform trug. Aber, sehr dem Denken der Jahrhundertwende verhaftet, entwickelte sie die Hoffnung, dass ein geistiger Neuaufbau Deutschlands möglich wäre, wenn man bei den Kindern und Jugendlichen ansetzen und diese früh im Leben mit demokratischen, weltoffenen Vorstellung in Kontakt bringen würde. Dies ging sie unter anderem mit Ausstellungen von Kinderbüchern und Kinderzeichnungen an, anschliessend mit der Gründung der genannten Internationalen Jugendbibliothek, welche von Anfang an und bis heute einen grossen Kinder- und Jugendbuchbestand mit einer reichhaltigen Veranstaltungsarbeit verbindet.
Die Beiträge in diesem Band beleuchten die Person Lepman, ihre Arbeit erst in der US-amerikanischen Verwaltung und später in der Münchner Politik sowie auch ihre eigenen Kinderbücher und ihre Zusammenarbeit mit Ernst Kästner. Stil und Fokus der Beiträge sind sehr unterschiedlich. Zu bemerken ist aber auch, dass die Autor*innen sich nicht abgestimmt haben oder redaktionell viel in ihre Beiträge eingegriffen wurde: Mehrere Aussagen werden mehrfach gemacht, mehrere Vorgänge werden mehrfach berichtet und dann unterschiedlich bewertet. Insbesondere gibt es verschiedene Deutungen dazu, was über Lepmans Ideen zu sagen ist. Was allerdings praktisch nicht zu finden ist, ist eine Geschichte der Internationalen Jugendbibliothek selber: Zum Bestand, zur konkreten Arbeit der Bibliothek oder deren Entwicklung, nachdem sie dann einmal gegründet wurde, erfährt man praktisch nichts. (ks)
4. Weitere wissenschaftliche Medien (Konferenzberichte, Abschlussarbeiten)
Zumstein, Philipp (2023). Der Weg ist nicht das Ziel: Über Ideale und Irrwege bei der Open-Access-Transformation. Open-Access-Tage 2023 (OAT23), Berlin. Folien zum Vortrag: https://doi.org/10.5281/zenodo.8388502, Videoaufzeichnung: https://doi.org/10.5446/66708.
Philipp Zumstein hält mit dem Vortrag bei den Open-Access-Tagen 2023, was der streitbare Titel verspricht: Gegenübergestellt werden die programmatischen Ziele (Forschende und/oder Entscheidungsebene unterstützen, Verträge abschließen, OA-Anteil erhöhen, OA weltweit ermöglichen, nachhaltige und faire Publikationslandschaft ermöglichen) und anfallende Aufgaben im Bereich Publikationsservices (Publikationsdatenmanagement, Publikationsservices, Abschluss und Abwicklung von OA-Verträgen, Beratung von Wissenschaftler*innen, Auswertung und Reporting).
Der Referent stellt die wichtige Frage, welchen Zielen bestimmte
Aufgaben dienen – und hinterfragt, ob denn bestimmte Handlungs- oder
Aufgabenfelder (Bewirtschaftung Publikationsfonds, Einführung eines
Informationsbudgets) auch de facto der Umsetzung des übergeordneten
Ziels der Transformation dienen (können). Oder anders gesagt empfiehlt
er, vermeintlich offensichtliche Aufgabenstellungen kritisch zu
hinterfragen: Ob und welche Ziele mit bestimmten Aufgaben umgesetzt
werden können. Und ob nicht manche Tätigkeiten bewusst
unterlassen oder niedrig priorisiert werden sollten. Zumstein
argumentiert dies am Beispiel der Informationsbudgets und einer
granularen Erfassung verschiedener Publikationskostenarten – er plädiert
dafür, besser für Strukturen zu sorgen, damit antiquierte
Publikationsgebühren (etwa color oder page charges) nicht mehr gezahlt
werden – anstatt immer besser darin zu werden, die verschiedenen
Kostenarten granular zu erfassen und umfangreich mit
Publikationsmetadaten zu verknüpfen.
Zumstein schließt den Vortrag mit Appellen und Empfehlungen, um eine kritische Diskussion der Ziele der Open-Access-Transformation anzuregen. Genau für eine solche Diskussion – mit den Leitungen von Bibliotheken und Hochschulen, wie auch innerhalb der OA-Community – liefert er viele Anregungen. (mv)
Schön, Margit ; Barbers, Irene; Mittermaier, Bernhard (2024). Publikationskostenmonitoring: Aktueller Stand und Herausforderungen von Publikationskosten an deutschen wissenschaftlichen Einrichtungen. Report. https://doi.org/10.5281/zenodo.10810729
Der Report genannte Bericht ist eine Darstellung und Ergebniszusammenfassung eines Workshops mit über 200 Teilnehmenden sowie einer Umfrage mit acht Teilnehmenden, die im Feld aktiv sind. Zudem werden der Kontext geschildert und die Ergebnisse detailliert dargestellt, was den Text recht umfangreich macht.
Grundsätzlich zeigt sich, dass das Thema Publikationskosten
von Open-Access-Veröffentlichungen in Bibliotheken und Hochschulen zwar
als Thema bekannt ist und zumindest bei den Personen, die am Workshop
teilnahmen, auch im Arbeitsalltag eine Bedeutung hat. Aber gleichzeitig
hat sich keine einheitliche Praxis etabliert. Vielmehr werden lokal
immer wieder andere Wege gegangen, um einen Überblick zu den anfallenden
Kosten zu erhalten.
Es gibt in der Soziologie und der Geschichtswissenschaft das Konzept
der Pfadabhängigkeit
: Institutionen und Felder folgen tendenziell
einmal eingeschlagenen
Pfaden. Wahrgenommene Probleme werden eher
mit ähnlichen Konzepten angegangen, die schon einmal ausprobiert wurden;
Lösungen werden eher in schon vorhandenen Strukturen und Denkmustern
integriert, als jeweils ganz neu entworfen zu werden. Dieser Bericht
hinterlässt stark den Eindruck einer solchen Pfadabhängigkeit im
deutschen Bibliothekswesen: In den letzten zwei Jahrzehnten wurden im
Bereich Open Access bestimmte Lösungen und Strukturen etabliert, zum
Beispiel institutionsübergreifende Mandate für Forschende,
Open-Access-Büros, die in Bibliotheken angesiedelt sind, inklusive der
Delegation der Verantwortung für Open-Access-Projekte an die
Hochschulbibliotheken. Beim Bericht fällt nun auf, dass die
Problembeschreibungen – die Kosten fallen ohne Übersicht an
verschiedenen Stellen in Hochschulen an – und Lösungsansätze – die
Situation ist unübersichtlich und bedarf einer Vereinheitlichung, die
Verantwortung soll bei den Bibliotheken liegen – sich dem recht
erfolgreichen Modell im Bereich Open Access ähneln. Andere Möglichkeiten
– beispielsweise die Verlage zur Information zu verpflichten – werden
gar nicht erst thematisiert. (ks)
5. Populäre Medien (Social Media, Zeitungen, Zeitschriften, Radio, TV)
Kristof, Nicholas (2023). We know the cure for loneliness. So why do we suffer? In: The New York Times – International Edition. September 8, 2023. S. 9, https://www.nytimes.com/2023/09/06/opinion/loneliness-epidemic-solutions.html [Paywall]
In einem ausführlichen Beitrag über Einsamkeit als soziale und
gesundheitliche Herausforderung – Einsamkeit ist so gesundheitsschädlich
wie 15 Zigaretten am Tag, so eine Aussage – verweist der Autor unter
anderem auf Hilfs- und Public-Health-Programme. Ein wichtiges
Leitdokument für die USA ist der im Mai 2023 vorgelegte Bericht Our
Epidemic of Loneliness and Isolation
(Office of the Surgeon General,
2023, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK595227/), der an mehreren
Stellen Bibliotheken als Eckpfeiler einer der Einsamkeit vorbeugenden
sozialen Infrastruktur betont: [The report] offers a strategy to
address loneliness that begins with building up the infrastructure that
enables social connection. That includes physical infrastructure, such
as parks and libraries, and also social infrastructure to weave together
volunteers or enthusiasts with similar interests.
Zudem erwähnt
Nicholas Kristof eine Bibliothek der Dinge
in der britischen
Stadt Frome, die passenderweise SHARE FROME heißt, siehe https://sharefrome.org/. (bk)
Caspari, Heinrich: Lieferung an italienische staatliche Bibliotheken betreffend. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Nr. 179, 03. August 1907, S. 10
In einem Brief an das Börsenblatt für die Rubrik Sprechsaal
teilt Heinrich Caspari von der Stuhrschen Buchhandlung in Berlin mit,
dass eine von seiner Buchhandlung versorgte staatliche Bibliothek in
Italien den Bezug nach offizieller Anordnung einstellen muss, da
entsprechende Abrechnungen nur noch innerhalb Italiens möglich sind. Der
Buchhändler fragt nach den Erfahrungen anderer Buchhandlungen. (bk)
o.A.: From Kenosha to the Children of Italy. In: Wisconsin Library Bulletin. January 1947, S. 26
Als Teil einer Woche des Buches wurde an der Boys and Girls Library
in Kenosha, Wisconsin, der ersten Kinder- und Jugendbibliothek der
Stadt, eine völkerverständigende beziehungsweise Kultur exportierende
Schatztruhe für Kinder in Italien zusammengestellt. Delourise I. Layman,
Bibliothekarin und damit mutmaßlich verantwortlich für die Aktion,
berichtet, dass Schüler*innen der Stadt eingeladen wurden, an der
Gestaltung der Kiste mitzuwirken. Es entstand unter anderem ein
Scrapbook
, in dem die Kinder über ihr Leben in Kenosha berichten.
Für die Empfänger*innen in Italien wurden ein leeres Album sowie Stifte,
Farben und weitere Materialien beigelegt und zwar in der Hoffnung, dass
sie es ihren Altersgenoss*innen in Wisconsin gleichtun. Außerdem fanden
sich in der Schatztruhe dreißig Bücher zeittypischer Kinderliteratur wie
The Story of Little Black Sambo, Daniel Boone, Millions of Cats und Make
Way for Ducklings. (bk)
Schmitz, Jasmin: Beyond Predatory Publishing: Additional Questionable Offers in Scholarly Publishing. In: Scholarly Communications in Transition. A Blog about Predatory and Other Phenomena in Academia, 10.01.2024, https://in-transition.at/beyond-predatory-publishing-additional-questionable-offers-in-scholarly-publishing/
Im Beitrag von Jasmin Schmitz werden Vorgehensweisen und Praktiken von Paper Mills, die wissenschaftliche Artikel und deren Platzierung in Zeitschriften verkaufen, beschrieben. Sie geht dabei näher auf deren üblichen Geschäftspraktiken und Vorgehensweisen ein und spricht über die Auswirkungen dieses wissenschaftlichen Fehlverhaltens auf die Forschung insgesamt. Der Blogbeitrag bietet dabei einen übersichtlichen Einstieg in aktuelle Entwicklungen und verleitet mit ausführlichen Referenzen zur vertieften Recherche. (eb)
Oreskes, Naomi: Trouble in the Fast Lane. Scientific research needs to slow down, not speed up. In: Scientific American, Vol. 330, No. 4 (April 2024), S. 69
In einer Art Op-Ed problematisiert die Autorin Probleme und Folgen
hochfrequenter Publikationskulturen in einer stark kompetitiv
ausgerichteten Wissenschaftswelt anhand der Zunahme wissenschaftlichen
Fehlverhaltens vor allem durch Nachlässigkeit bei der Erstellung von
wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Eine Ursache ist nach der die
große Bedeutung der Publikationsquantität für die
Wissenschaftsevaluation, die zugleich mit einer generellen
Beschleunigungserzählung verknüpft wird, die auch von außerhalb der
Wissenschaft getrieben wird. Leitmantra: Move fast and break
things
. Die Autorin erinnert daran, dass Wissenschaft sowohl in der
Erkenntnisfindung als auch in der Kommunikation Zeit braucht und
verweist auf absurd erscheinende Zahlen wie die in einer Studie
nachgewiesenen Zahl von 265 Autor*innen, die im Schnitt alle fünf Tage
ein Paper veröffentlichten. Der Artikel beschreibt also ein
wohlbekanntes Phänomen, das für die Bewertung der Forschung bislang
nicht gelöst ist. (bk)
McKie, Robin: ’The situation has become appalling’: fake scientific papers push research credibility to crisis point. In: The Observer / guardian.com, 03.02.2024 https://www.theguardian.com/science/2024/feb/03/the-situation-has-become-appalling-fake-scientific-papers-push-research-credibility-to-crisis-point
Im Observer wird vor dem Hintergrund stark steigender
Retraction-Zahlen für wissenschaftliche Aufsätze das Problem gefälschter
beziehungsweise mit unwissenschaftlichen Mitteln geschönten
Wissenschaftspublikationen aufgegriffen. Die Rekordzahl von 10.000
zurückgezogenen Artikeln im Jahr 2023 ist laut Expert*innen nur die
Spitze des Eisbergs. Für den in Kairo ansässigen Wissenschaftsgroßverlag
Hindawi, der besonders an- und auffällig für die Publikation solcher
Artikel scheint, zieht Wiley als Eigentümer jetzt die Reißleine, gibt
die Marke auf und ändert die Strukturen. Die Ursache für den rasanten
Zuwachs auch vorsätzlich gefälschter Forschung wird in einem vor allem
in China stark ausgeprägten Publikationsdruck für Nachwuchsforschende
gesehen, bei dem entsprechende Publikationslisten die Grundlage für ein
berufliches Fortkommen darstellen. Dies führte zu einer Art
Sekundärmarkt mit sogenannten Paper mills
, die gezielt gefälschte
Studien produzieren, sowie Manipulationsstrukturen bis hin zur
Bestechung. Das Phänomen breitet sich zunehmend auf andere Länder wie
Indien, Russland oder Iran aus. Der hohe Anteil gefälschter Forschung
wirkt wiederum auf die wissenschaftliche Kommunikation und
Anschschlussforschungen sowie auch auf die Wahrnehmung von Forschung in
der Öffentlichkeit zurück, was sich während der Covid-Pandemie deutlich
zeigte. Die Langzeitfolgen könnten noch verheerender werden, wenn
Personen mithilfe gefälschter Forschung Karriere bis in
wissenschaftliche Steuerungspositionen machen. (bk)
Jochen Zenthöfer: Schwarzmarkt für den Zitatkauf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2024, S. N4
Der Artikel berichtet über den Trend der Manipulation von Zitationen
zur Erhöhung von Zitationshäufigkeiten und damit dem quantitativen
Standing von Wissenschaftler*innen. Neben den traditionellen
Zitierkartellen hat sich eine Art Manipulationsmarkt entwickelt. Ein
zitierter Experte berichtet zudem sogar über parallele
Publikationsstrukturen, bei denen in Fake-Publikationen andere
Fake-Publikationen zitiert werden, um Impact-Factor-Angaben zu
manipulieren. Er spricht auch von einer Verschmutzung des
wissenschaftlichen Publizierens
. Anlass des Artikels ist neben dem
Aufzeigen des Phänomens auch ein Beklagen, dass Google Scholar,
Clarivate und andere Anbieter offenbar unzureichend oder gar nicht auf
diese Verzerrungseffekte reagieren, die angesichts der Möglichkeiten von
Künstlicher Intelligenz an Intensität und Umfang zunehmen werden. Den
Silberstreif am Horizont
der Wissenschaftsmanipulation sieht der
Autor in einer Maßnahme der chinesischen Regierung, die alle Hochschulen
des Landes verpflichtete, sämtliche Fälle zurückgezogener Publikationen
zu melden und auf ein wissenschaftliches Fehlverhalten zu prüfen.
(bk)
Zoë Beery: Want a Synthesizer? Go Ahead, Take One. In: New York Times / nytimes.com 08.12.2023, https://www.nytimes.com/2023/12/08/nyregion/synth-library-brooklyn.html [Paywall] beziehungsweise https://web.archive.org/web/20240410171654/https://www.nytimes.com/2023/12/08/nyregion/synth-library-brooklyn.html
In New York gibt es eine von Freiwilligen betriebene Synth Library
NYC
, deren offensichtliches Anliegen der Verleih von Synthesizern
ist. Davon stehen 73 Geräte zur Verfügung, wie Zoë Beery berichtet. Das
damit verbundene zweite Anliegen ist nicht nur, Menschen den Zugang zu
den teuren und für viele unerschwinglichen Instrumenten zu erleichtern,
sondern auch der Aufbau einer Community um die Synth-Klangkultur. Dafür
gibt es bei Bedarf entsprechende Beratungen und Einführungen durch
Mitglieder dieser Community. Erwartungsgemäß gibt es auch Workshops und
öffentliche Veranstaltungen, die im Einklang mit dem Wunsch der
Betreibenden einen besonderen Zweck haben: spread the synth bug
.
In den zweieinhalb Jahren der Existenz der Synth-Bibliothek ging
übrigens noch keines der Instrumente verloren. (bk)
Rachel Felder: Colette’s Sarah Andelman Is Back With Another Idea. In: New York Times / nytimes.com, 28.02.2024. https://www.nytimes.com/2024/02/28/style/sarah-andelman-bon-marche.html?unlocked_article_code=1.aE0.DDNA.O0AvBI2ZQZLS&smid=url-share [Paywall]
In einem Beitrag über die Pariser Trendhändlerin Sarah Andelman
berichtet die Style-Abteilung der New York Times über deren aktuelles
Projekt einer auf Buch, Buchhandlungen und Bibliotheken bezogenen
Verkaufsausstellung im Kaufhaus Le Bon Marché Rive Gauche. Mit im
Angebot sind einige Produkte mit Bibliotheksdüften
: Duftkerzen
(Byredo, Diptyque, Zigzag Island) sowie Keramikbleistifte, die neben
ihrer Schreibfähigkeit auch eine olfaktorische Spur zur Bibliothek von
Alexandria transportieren sollen (Officine Universelle Buly). Wer auf
der Webseite des Kaufhauses herumstöbert, entdeckt noch weitere
bibliotheksmodische Accessoires, beispielsweise Library Card
Yellow
-Socken der amerikanischen Buchkulturvermarkter Out of
Print
. Buch- und Bibliothekskultur sind offenbar nach wie vor
lebendig, zugleich aber außergewöhnlich genug, um als Distinktionsthema
zu wirken. (bk)
Sam Lubell: An Architect Builds Toward the Future on Mexico’s Border. In: New York Times / nytimes.com. 01.03.2024. https://www.nytimes.com/2024/03/01/arts/design/mexico-border-architecture-canales.html?unlocked_article_code=1.aE0.Bi3H.o_5dfKmRwZF6&smid=url-share [Paywall] beziehungsweise https://web.archive.org/web/20240326144835/https://www.nytimes.com/2024/03/01/arts/design/mexico-border-architecture-canales.html
Die mexikanische Architektin Fernanda Canales entwarf für die
unmittelbar an der Grenze zwischen Mexiko und den USA gelegene und
entsprechend stark herausgeforderte Stadt Agua Prieta ein Kultur- und
Nachbarschaftszentrum inklusive Bibliothek. Der Artikel beschreibt kurz
architektonische Merkmale und die Einpassung in die örtliche Situation
(a woven, bar-shaped building, its arched edges sitting parallel to
the striated, mural-saturated steel border wall about 10 feet away and
just west of the town’s international border crossing
) mit einer
amphitheaterartigen Einlassung für Aufführungen und widmet sich dann der
symbolischen und sozialen Funktion. Die Platzierung der Bibliothek wurde
bewusst gewählt, um der einschüchternden und buchstäblich separierenden
Form einer stark befestigten Grenze einen verbindenden Kontrapunkt
entgegenzusetzen. Die Bibliothek ist nun beispielsweise Ort eines
lokalen Kulturfestivals und dient einem Buchclub als Ort seiner
samstäglichen Sitzungen. (bk)
k.A.: The Woman’s Library. In: New York Times. 25.08.1860. S. 4. https://nyti.ms/48BHaFH [Paywall]
Die New York Times vermeldete am 25. August 1860 die anstehende
Eröffnung der ersten Bibliothek für Frauen in New York in einem
Universitätsgebäude am Washington Square. Damit sollte einem wachsenden
Informations- und Lesebedürfnis vor allem durch Immigration und
Industrialisierung zunehmenden Zahl von arbeitenden Frauen in der Stadt
Rechnung getragen werden. Die wenigen auch für Frauen zugänglichen
Bibliotheken der Stadt waren für die Zielgruppe, also die
Arbeiterinnenklasse, meist nicht nutzbar, da sie Nutzungsgebühren
erhoben. Diese lagen, so der Artikel, höher als die für Männer, obwohl
das Durchschnittseinkommen von Männern zu dieser Zeit dreimal höher war
als das von Frauen. Andere Bibliotheken schlossen Frauen von vornherein
aus, da in ihnen eine potentielle Ablenkung für die männlichen Nutzer
gesehen wurde. Einige hegten auch Sittlichkeitsbedenken. Der Eröffnung
der Women’s library
ging ein zweijähriger Prozess der Abstimmung,
des Aufbaus und vor allem auch der Durchsetzung voraus. Ein
Gegenargument lautete, dass die arbeitenden Frauen gar keine Zeit zur
Bibliotheksnutzung hätten und das Angebot daher eine Verschwendung wäre.
Mit der Einrichtung sollte der damals spürbaren Exklusion von Frauen aus
dem öffentlichen und kulturellen Leben entgegen getreten werden.
Durchgesetzt wurde die Initiative der ersten von libraries for their
own
durch zwei Männer, Henry Ward Beecher und James T. Brady. Das
Anliegen war ausdrücklich auch, den Nutzerinnen einen Rückzugsort zu
geben. (bk)
Jane Margolies: Not Just for Scooby-Doo Anymore. In: New York Times, March 10, 2024, Section F, S. 9, https://www.nytimes.com/2024/03/07/realestate/design-trend-secret-doors.html
In einem Bericht über die Popularität von versteckten Räumen in
privaten Neubauten in den USA stellt die Autorin einen Bezug zur
Bibliotheksarchitektur her. Konkret erwähnt sie die Bibliothek, die sich
der Unternehmer und Bankier J. Pierpont Morgan, heute Morgan Library
& Museum, Anfang des 20. Jahrhunderts in New York vom Architekten
Charles McKim entwerfen ließ. In dieser wurden versteckte Türen in
Regalen untergebracht, hinter denen sich eine Art Betriebstreppenhaus
für die Bibliothekar*innen befanden. Weiterhin ließ sich Morgan in
seinem Arbeitszimmer ein verstecktes Regal in einem verschiebbaren
Bücherregal einbauen, in dem Titel untergebracht werden konnten, von
denen vielleicht nicht jeder Gentleman möchte, dass es jeder
sieht
. Auf einer Webseite der Bibliothek werden drei dieser Titel
erwähnt: Fanny Hill, La nouvelle Sapho und Le diable au corp. (bk)
Maya Pontone: Armed Groups in Haiti Ransack National Library. In: Hyperallergic. April 4, 2024, https://hyperallergic.com/892251/armed-groups-in-haiti-ransack-national-library/
Anfang April 2024 wurde die Nationalbibliothek Haitis in Port-au-Prince von bewaffneten Gruppen geplündert. Inwieweit die Sammlungen selbst betroffen waren, ist zum Zeitpunkt der Meldung nicht bekannt. Der Generaldirektor der Bibliothek, Dangelo Neard, berichtet zunächst vom Diebstahl von Möbeln sowie eines Generators, wies aber auch noch einmal nachdrücklich auf die Bedrohung für die Rara, die Manuskriptsammlung sowie das Zeitungsarchiv hin. (bk)
Zenthöfer, Jochen (2024). Für die Nutzung dauerhaft
gesperrt
: Umgang mit plagiierten Jura-Büchern. In: Legal
Tribune Online, 26.04.2024, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/plagiat-jura-dissertation-aberkennung-doktortitel-ausleihe-bibliothek-wissenschaft/
Der Artikel stellt überblickshaft dar, wie Bibliotheken – Wissenschaftliche und solche mit gesetzlichem Sammelauftrag – mit Büchern umgehen, in denen plagiiert wurde. Kurz: Wenn sie als Pflichtexemplare in die Bibliotheken kamen, bleiben sie dort. Wenn nicht, werden sie oft direkt ins Magazin gestellt oder ausgesondert. In einer steigenden Anzahl von Fällen wird explizit im Katalog vermerkt, dass es sich um Plagiatsfälle handelte. Ansonsten wird darauf bei der Ausleihe hingewiesen. Der Text beschränkt sich wegen der Zielgruppe der Publikation auf juristische Werke, aber selbstverständlich gilt die Darstellung des Bestandsmanagements, die er liefert, auch für andere Sachgruppen. (ks)
Tondo, Lorenzo: Plato’s final hours recounted in scroll found in Vesuvius ash. In: THE GUARDIAN / guardian.com, 29.04.2024 https://www.theguardian.com/books/2024/apr/29/herculaneum-scroll-plato-final-hours-burial-site
Eine neue Analyse einer im Jahr 1750 in Herculaneum entdeckten Schriftrolle enthält einen Bericht über den letzten Abend Platons. Laut Überlieferung verbrachte der sterbenskranke Philosoph seine letzten Stunden mit Musik. Ein versklavtes thrakisches Mädchen, so der Bericht, spielte für ihn auf der Flöte. Trotz seines Zustands ließ es sich Platon anscheinend nicht nehmen, die Flötenspielerin ob ihres aus seiner Sicht defizitären Rhythmusgefühls zu kritisieren. (bk)
Last Week Tonight With John Oliver: Public Libraries
, (Season
11, Episode 10, Erstausstrahlung 5.5.2024), Streaming via HBO https://www.hbo.com/last-week-tonight-with-john-oliver/season-11/10-may-5-2024-public-libraries;
frei zugänglich via https://www.youtube.com/watch?v=42xZB80sZaI (ca. 30
min)
In einer Folge vom Mai 2024 beschäftigt sich John Oliver in der
Late-Night-Talk- und News-Show Last Week Tonight
mit Öffentlichen
Bibliotheken in den USA und den Kontroversen um Book Bans
, die
seit einigen Jahren die US-amerikanische Öffentlichkeit beschäftigen und
inzwischen auch im deutschen Diskurs angekommen sind. Hintergrund ist,
dass in den Vereinigten Staaten zunehmend Bücher aufgrund ihres Inhalts
verboten beziehungsweise deren Zugang in (Öffentlichen oder Schul-)
Bibliotheken eingeschränkt, oder sie gar ganz aus dem Bestand entfernt
werden sollen – ginge es nach den Vorstellungen einiger Aktivist*innen.
Vielfach (nicht ausschließlich) stehen dabei Medien mit LGBTQIA+ Themen
im Mittelpunkt der Diskussion. John Oliver erläutert in der Folge
niedrigschwellig und für ein Nicht-Fachpublikum Aspekte wie
Bestandspflege (inklusive Gründe für Aussonderungen), Auf- und
Einteilung nach Zielgruppe (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) und den
(eigentlich intuitiv verständlichen) Einfluss von Budgetkürzungen auf
die Bibliotheksarbeit (inklusive in der Gemeinde ungewollte
Bibliotheksschließungen). Sehempfehlung! Nicht zuletzt ist es eine
satirische Unterhaltungssendung mit Bildungs- und Aufklärungsanpruch.
(mv)
Muldowney, Decca (2023). Meet the Woman Training Parents How to Get Books Banned. In: The Daily Beast, 01.12.2023, https://www.thedailybeast.com/karen-england-is-teaching-parents-how-to-get-books-banned-starting-with-chino-valley
Der Artikel stellt mit Karen England eine rechte, christliche
Aktivistin vor, welche die Verbote
von Büchern in Öffentlichen
und Schulbibliotheken in den USA vorantreibt. Eingebettet ist dies in
die Geschichte einer kalifornischen Gemeinde, die tatsächlich ein Verbot
von vulgären
Büchern in ihren Bibliotheken beschlossen hat, aber
auch der Gegenwehr gegen diesen Beschluss.
Es wird klar, dass es sich bei diesen Verboten um eine organisierte
politische Kampagne handelt, die sich gerade nicht durch einzelne
empörte
Eltern erklärt, sondern einer mehr oder minder straffen,
seit Jahrzehnten aktiven Organisation. Es sind einige Personen, welche
diese Kampagne landesweit vorantreiben und eine kleine Anzahl von
Personen, welche diese jeweils lokal tragen. Der Eindruck eines
kulturellen Shifts, der von dem Grossteil der Bevölkerung getragen wird,
ist falsch. Eindrücklich beschreibt der Artikel auch, inklusive einem
Interview mit der im Mittelpunkt des Textes stehenden Karen England,
dass hinter dieser Kampagne vor allem US-amerikanisch,
fundamentalistisch-christliche Ziele stehen, auch wenn England mit der
Zeit gelernt hat – und dies anderen beibringt – eine Rhetorik zu nutzen,
die anderes verkündet.
Für den DACH-Raum relevant ist dieser Text, weil er zumindest die Frage aufwirft, ob es solche Aktivist*innen wie England auch hier gibt, also ob sich die – so ja Wahrnehmung im Bibliothekswesen – steigende Anzahl von Versuchen, Bücher in Bibliotheksbeständen zu zensurieren, (auch) durch so eine Kampagne erklären lässt. (ks)
6. Weitere Medien
Esoterica / Justin Sledge (2023). The Library of Alexandria - Myth vs History. 01.12.2023, (Video, 39:10 Minuten), https://youtu.be/iFsM56nN84o?feature=shared
Esoterica ist ein Youtube-Kanal, auf dem der Religionswissenschaftler Justin Sledge (https://www.justinsledge.com) Videos zu religiösen und philosophischen Themen veröffentlicht. Sein Hauptfokus liegt dabei auf dem europäischen Mittelalter, Alchemie und jüdischer Mystizistik. Die Videos behandeln teilweise sehr spezielle Fragen, aber immer aus einer wissenschaftlichen Perspektive – wobei Slate erstaunlich oft seine Abneigung gegen bestimmte, insbesondere französische, philosophische Traditionen erwähnt und gleichzeitig betont, dass auch die mittelalterliche Mystik und Alchemie eine hohe Rationalität aufwiesen.
Das hier erwähnte Video weicht, wie im Titel sichtbar, thematisch davon ab. In ihm stellt Sledge vor, was über die (antike) Bibliothek von Alexandria bekannt ist. In einer Sektion, in der er diskutiert, wie viele Papyrusrollen überhaupt realistisch in der Bibliothek vorhanden hätten sein können, thematisiert er auch diese Rollen und holt eine solche aus dem Regal neben sich hervor. Diese hat er einst selber beschrieben, praktisch als forschende Übung. Im Video führt er ihre Materialität vor.
Zur Bibliothek selber fasst er grundsätzlich den aktuellen
Forschungsstand zusammen und kommentiert ihn aus seiner persönlichen
Perspektive. Man erfährt also eigentlich nichts Neues, wenn man sich mit
der Forschung einigermassen auskennt. Aber man erhält hier eine
sympathische, gleichzeitig recht nüchterne Darstellung. Es wird dabei
nicht nur thematisiert, dass die Bibliothek von vielen unrealistischen
Mythen umrankt ist, dass sie selbstverständlich nicht von Caesar
verbrannt wurde (und auch nicht von anderen Herrschenden), sondern dass
ihre Gründung, Finanzierung und ihr Niedergang abhängig war von den
unterschiedlichen politischen Interessen der wechselnden
Machthaber*innen in Ägypten. (ks)
Sophia Kimmig: Von Füchsen und Menschen. München: Piper Verlag, 2022 [gedruckt und als E-Book, Paywall]
In ihrem Buch über Füchse und die Stadtnatur erwähnt die Autorin den Bibliotheksfuchs der Staatsbibliothek zu Berlin, Haus Unter den Linden, der offenbar das einzigartige Klettertalent der Tiere dadurch zum Ausdruck brachte, dass er hin und wieder auf Fensterbrettern auftauchte. (vergleiche S. 29f.) (bk)
Robert Barry: compact disc. New York: Bloomsbury Academic, 2020 [gedruckt und als E-Book, Paywall]
In seiner Mediengeschichte der Compact Disc (CD) berichtet Robert Barry, warum als Leitverpackung das Jewelcase gewählt wurde. Das Marketing von Philips betonte, dass diese Lösung auf archivarische Ansprüche zugeschnitten wurde, da die Angaben zum Inhalt der CD mit dem so standardisierten und geschützten Labeling im Vergleich zu Schallplatten in der Aufreihung im Regal, also auch bei großen Sammlungen, deutlicher lesbar bleibt. (vergleiche S. 119) (bk)
Marc Masters: High Bias: The distorted history of the cassette tape. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2023 [gedruckt und als E-Book, Paywall]
In seiner Medien- und Kulturgeschichte der Kompaktkassette nicht
zuletzt als soziales Medium erwähnt Marc Masters auch einige Bezüge zur
Bibliothek. So schildert er als Inspiration des Multimedia-Künstlers
beziehungsweise Cassette composers
Jason Zeh, das Medium ins
Zentrum seiner Arbeit zu rücken, dass dessen Vater sich Schallplatten
aus der Bibliothek auslieh, um sie zuhause auf Kassette zu kopieren und
zudem mit einem Fotokopiergerät aus den Schallplattencovern auch ein
entsprechendes Artwork für die Tape-Kopien anzufertigen. (vergleiche S.
78) Der Künstler Don Campau wiederum verteilte die Tapes seines Labels
Lonely Whistle im Rahmen seiner Guerilla-Dissemination nicht nur an
nichtsahnende Kunden an der Kasse seines Brotberufs sondern auch an
lokale Bibliotheken. (S. 65) Andere Künstler wie Aaron Dilloway nutzten
dagegen explizit für Bibliotheken hergestellte Abspieltechnologien,
nämlich den Telex C-1 Library of Congress Tape Player for the Blind, als
künstlerisches Werkzeug. (S. 74) Bibliotheksbestände spielen eine Rolle
für das Sichtbarmachen von besonderer Musik, wie das Beispiel von Mark
Gergis zeigt. Nachdem er sich für die Verbreitung syrischer Musik in der
westlichen Welt engagiert hatte, erstellte er eine Compilation namens
Cambodian Cassette Archives: Khmer and Pop Music Vol. 1 auf
Grundlage einer Sammlung seltener Aufnahmen der Asian Branch Library im
öffentlichen Bibliothekssystem von Oakland. Gergis berichtet, dass diese
nur auf Kassetten konservierte Musik im Ursprungsland längst
verschwunden war. (S. 122 f.) Seine eigene über lange Jahre
zusammengetragene Sammlung syrischer Kassettenkultur digitalisiert und
präsentiert er über eine Seite namens Syrian Cassette Archives (https://syriancassettearchives.org/). (bk)
British Library: Learning Lessons from the Cyber Attack. British Library Cyber Incident Review. 8 March 2024. https://www.bl.uk/home/british-library-cyber-incident-review-8-march-2024.pdf.
In diesem Bericht über den Cyberangriff, der die britische Nationalbibliothek im Oktober letzten Jahres fast völlig handlungsunfähig machte, werden Hergang, Gründe und Auswirkungen des Angriffs dargestellt und Pläne für den Wiederaufbau sowie Lessons Learned aufgeführt. Beim Durchlesen fallen viele Punkte ins Auge, die so nicht nur die British Library, sondern praktisch alle Bibliotheken betreffen (viele veraltete Anwendungen und Systemstrukturen, wenig Multi-Faktor-Authentifizierung et cetera). Er zeigt klar, wie verletzlich nahezu alle unsere Systeme sind und ermutigt stark zur Erstellung eines Notfallplans für Cyberattacken. (eb)
Byredo: Bibliothèque (Duftkerze)
In der Produktbeschreibung stellt der schwedische Parfum- und
Lifestyle-Hersteller Byredo die These auf, dass Bibliotheken über
Moden und Trends erhaben
sind und uns in eine Welt, in der die
Zeit stillzustehen scheint
entführen. Dies versuchten Firmengründer
Ben Gorham und Parfümeur Jérôme Epinett 2017 in einem mittlerweile schon
fast Traditionsduft des Hauses in passende Duftnoten zu übersetzen.
Unlängst ergab sich die Gelegenheit, dies in einem Redaktionsraum per
Kerze auszuprobieren. Nach einem halben Arbeitstag Beduftung lässt sich
festhalten, dass es fantastisch wäre, wenn Bibliotheken solch ein Aroma
hätten, in der konkreten kerzenhaften Umsetzung aber natürlich nichts im
Duft an Bibliotheken erinnert. Dazu ist er zu fruchtig. Das Veilchen in
der Herznote sticht zumindest in der Raumvariante jeden möglichen
olfaktorischen Bezug zum (Einband)Leder. Und auch das versprochene
Birkenholz des Fonds drang kaum durch. Es ist ein sehr schöner, durchaus
prägnanter, fruchtig-komplexer Duft, der aber die von der Bezeichnung
intendierte Assoziation nicht findet. Mit Bestnoten wurde das Thema
verfehlt. (bk)
Publisher of Library Hi Tech News (2024). Retraction notice: Artificial intelligence as enabler of future library services: how prepared are librarians in African university libraries. In: Library Hi Tech News, 41 (2024) 3: 22. https://doi.org/10.1108/LHTN-01-2024-0007
Vielleicht ist das erste Fall dieser Art in der
Bibliothekswissenschaft: Ein Artikel über Artificial intelligence in
Bibliotheken – veröffentlicht im Oktober 2023 als ahead of print, also
noch nicht ganz offiziell
– wurde zurückgezogen, weil die
Autor*innen offenbar selber Artificial intelligence eingesetzt hatten,
um zumindest die Daten des Artikels zu generieren. (ks)