Beiträge von Ben Kaden (bk), Karsten Schuldt (ks), Viola Voß (vv)
1. Zur Kolumne
Ziel dieser Kolumne ist es, eine Übersicht über die in der letzten Zeit erschienene bibliothekarische, informations- und bibliothekswissenschaftliche sowie für diesen Bereich interessante Literatur zu geben. Enthalten sind Beiträge, die der LIBREAS-Redaktion oder anderen Beitragenden als relevant erschienen.
Themenvielfalt sowie ein Nebeneinander von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Ansätzen wird angestrebt und auch in der Form sollen traditionelle Publikationen ebenso erwähnt werden wie Blogbeiträge oder Videos beziehungsweise TV-Beiträge.
Gerne gesehen sind Hinweise auf erschienene Literatur oder Beiträge in anderen Formaten. Diese bitte an die Redaktion richten. (Siehe Impressum, Mailkontakt für diese Kolumne ist zeitschriftenschau@libreas.eu.) Die Koordination der Kolumne liegt bei Karsten Schuldt, verantwortlich für die Inhalte sind die jeweiligen Beitragenden. Die Kolumne unterstützt den Vereinszweck des LIBREAS-Vereins zur Förderung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Kommunikation.
LIBREAS liest gern und viel Open-Access-Veröffentlichungen. Wenn sich Beiträge dennoch hinter einer Bezahlschranke verbergen, werden diese durch [Paywall]
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Die bibliographischen Daten der besprochenen Beiträge aller Ausgaben dieser Kolumne finden sich in der öffentlich zugänglichen Zotero-Gruppe: https://www.zotero.org/groups/4620604/libreas_dldl/library.
2. Artikel und Zeitschriftenausgaben
2.1 Vermischte Themen
Omar, Abbas Mohamed ; Mambo, Henry ; Samzugi, Athumani ; Ali, Zuhura Haroub (2023). Responding to the Lifelong Learning Targets: Collaborative Efforts of Public and School Libraries. In: International Information & Library Review [Latest Articles], https://doi.org/10.1080/10572317.2023.2215672 [Paywall]
Der Titel des Artikels hat mit dem eigentlich interessanten Inhalt nichts zu tun. Er wird zum Framing einer Studie zu den Öffentlichen und Schulbibliotheken in Sansibar (Tansania) benutzt, die für sich genommen einen interessanten Überblick zum Stand der beiden Bibliotheksformen auf dieser Insel beziehungsweise Provinz liefert. Das Framing zitiert das Sustainable Development Goal 4 (Ensure inclusive and equitable quality education and promote lifelong learning opportunities for all
) und übersetzt dies als (a) alle Bibliotheken sollten sich auf Angebote konzentrieren, welche Menschen nach dem Schulbesuch die ständige Weiterbildung ermöglichen und (b) Schul- und Öffentliche Bibliotheken sollten dabei ständig und geplant zusammenarbeiten. Um dies zu überprüfen, wurde eine Umfrage unter 100 Schulbibliothekar*innen und 40 Öffentlichen Bibliothekar*innen durchgeführt sowie Interviews und Fokusgruppen.
Angesichts des viel zu übertriebenen Anspruchs erscheint die Situation in Sansibar im Artikel nun negativ: Die Bibliotheken würden nur selten zusammenarbeiten, die Angebote hätten eher lokalen Charakter und würden auch nur manchmal erkennbare Effekte haben. Lässt man aber diesen überhöhten Anspruch beiseite, scheint durch die Ergebnisse ein anderes Bild durch: Offenbar hat Sansibar eine lebendige Bibliotheksszene, inklusive weithin verbreiteter Schulbibliotheken. Die Bibliotheken haben verschiedene Angebote, die lokal ausgerichtet sind. Die Bibliothekar*innen haben Vorstellungen davon, was sie mit ihrer Arbeit erreichen wollen und können, sie reflektieren dies und werden wohl dementsprechend planen. Ein wenig liest sich der Artikel so, als würde erst ein von aussen, im Sinne der Sustainable Development Goals, an das Bibliothekswesen herangetragener, unkonkreter Anspruch die tatsächliche Arbeit in den Bibliotheken Sansibars abwerten. (ks)
Grondin, Karen A. (2023). How does my library support accessibility?: Let me count the ways. In: Public Services Quarterly 19 (2023) 2: 139–146, https://doi.org/10.1080/15228959.2023.2189209 [Paywall]
Der Beitrag referiert sechs kürzlich erschienene Artikel zu Studien im Bereich Accessibility
(also Enthinderung) und Bibliotheken aus dem US-amerikanisch/kanadischen Raum. Es wird (vergleichbar mit dieser Kolumne hier) immer kurz dargestellt, was die Fragestellungen, Methoden, Ergebnisse und sich daraus ergebenden Praxishinweise waren. Sicherlich, alles mit einem Fokus auf die Länder, rechtlichen Regelungen und weiteren Kontexten in diesen beiden Ländern. Aber als eine schnelle Übersicht zum aktuellen Stand zu diesem relevanten Thema ist es dennoch sehr hilfreich. (ks)
Ma, Lai (2023). The Platformisation of Scholarly Information and how to Fight it. In: LiberQuarterly 33 (2023) 1, https://doi.org/10.53377/lq.13561
Ma fasst in diesem Artikel gut nachvollziehbar zusammen, dass sich die grossen Wissenschaftsverlage zu Datenfirmen entwickelt haben, welche vor allem daraufhin ausgerichtet sind, Daten über die Nutzung von Artikeln, Forschungsdaten und so weiter zu sammeln, auszuwerten und profitorientiert zu nutzen. Sie geht auf die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Wissenschaftskommunikation ein: Beispielsweise verweist sie darauf, dass die Firmen mit diesem Geschäftsmodell ein strukturelles Interesse daran haben, möglichst viele Artikel zu publizieren, was zumindest einen Druck auf die Qualitätssicherung dieser Artikel bedeutet. Grundsätzlich ist klar, dass sie all diese Entwicklungen ablehnt und argumentiert, dass Wissenschaftliche Bibliotheken dies in ihrer Gesamtheit tun sollten. Abschliessend diskutiert sie vier Ansätze, wie Bibliotheken gegen diese Entwicklung vorgehen könnten: (1) Forschende über diese Entwicklungen informieren. (2) Bibliotheksetats nutzen, um scholar-led publishing zu unterstützen. (3) Helfen, öffentliche Publikationsinfrastrukturen aufzubauen und das Copyright zu verändern. Und (4) sich dafür einsetzen, dass die Assessment-Strukturen der Wissenschaft dahingehend reformiert werden, dass sie nicht mehr auf den Daten der grossen Verlage aufbauen.
Der ganze Artikel ist ein zusammenfassender Einstieg in das Thema, aber gleichzeitig hat man auch schnell den Eindruck, das alles schon mehrfach gelesen (und die vier Ansätze auch schon in der Praxis gesehen) zu haben. Es ist wohl vor allem ein guter Text für Studierende und Auszubildende, um in den gesamten Themenkomplex einzuführen, aber keiner, der inhaltlich Neues präsentiert. (ks)
Edford, Rachel Lynn (2022). Figuring Embedded Librarianship: An Analysis of the Embedded Journalist Metaphor in the Professional Discourse. In: New Review of Academic Librarianship. https://doi.org/10.1080/13614533.2022.2122854 [OA-Version: https://stars.library.ucf.edu/ucfscholar/1141]
Was macht ein:e embedded librarian
genau, und wo kommt eigentlich diese Metapher her? Während die erste Frage nicht so leicht zu beantworten ist – The literature regarding embedded librarianship is both plentiful and diverse, with little agreement on how to define the concept
(S. 2) – kann man der zweiten nachgehen: Anhand von Veröffentlichungen zur Verwendung von Metaphern im Bibliothekswesen allgemein (library as museum
, library as school
, library as trench
, library as an ecosystem
) und zur Embedded-Metapher im Besonderen, die sich im Laufe der Zeit von der Embedded-Journalist-Herkunft der Metapher (aus dem sie eigentlich stammt) lösen und stattdessen den Ursprung zum Beispiel im Umfeld der Geologie verorten.
Es könnte interessant sein, deutsche, französische und weitere nicht-englische Veröffentlichungen zum Thema daraufhin durchzusehen, von welcher Basis sie für die Verwendung des Begriffes ausgehen.
Und für die Berufsbilddebatten hierzulande und anderswo könnte das Fazit von Edford bedenkenswert sein: More work needs to be done to interrogate the professional discourse of LIS related to embedded librarianship considering the historical developments of the profession. If the profession continues to move away from stereotypes of the collection centred mouser towards a user-centred service model, one might question whether embedded librarianship is really a subset of librarianship or if it’s just part of being a librarian in the twenty-first century
(S. 16). (vv)
Asher, Andrew ; Briney, Kristin ; Goben, Abigail (2023). Valid questions: the development and evaluation of a new library learning analytics survey. In: Performance Measurement and Metrics 24 (2023) 2: 101–119, https://doi.org/10.1108/PMM-04-2023-0009 [Paywall]
Die Autor*innen üben Kritik daran, wie in Bibliotheken und der Bibliotheksforschung Umfragen eingesetzt werden. Diese würden zumeist relativ einfach entworfen, nicht evaluiert oder getestet und dann auch meist nur einmal eingesetzt. Zudem würde sie selten vollständig dokumentiert sein. Dies würde guter wissenschaftlicher Praxis widersprechen und zum Beispiel dazu führen, dass Daten, die mit diesen Umfragen erhoben werden, nicht reproduziert oder einem Peer-Review unterzogen werden können. Besser konstruierte Umfragen würden auch helfen, tiefergehende Fragen zu beantworten, als es in der Bibliothekspraxis oft der Fall ist sowie Ergebnisse vergleichbarer zu machen. Es wäre möglich, Umfragen qualitativ besser zu konstruieren und dann beispielsweise auch mehrfach zu nutzen. Die Autor*innen führen die Konstruktion einer solchen Umfrage, inklusive der von ihnen geforderten Tests und Evaluation, vor.
Während die Kritik an sich berechtigt ist, scheint in dem gesamten Text eine wichtige Frage übergangen worden zu sein: Warum setzen Bibliotheken zumeist einfach konstruierte Umfragen ein? Reichen ihnen die Ergebnisse für ihre Praxis vielleicht aus, auch wenn sie Ansprüchen an die wissenschaftliche Qualität nicht standhalten? Ist beispielsweise eine Reproduktion überhaupt erwünscht? Was der Text nämlich auch zeigt, ist, dass die von den Autor*innen gewünschte hohe Qualität ihren Preis
hat: Sie bedeutet viel Arbeit, inklusive des Einbezugs zahlreicher externer Personen. Eventuell ist dieser Preis für den Erkenntnisgewinn, den sich Bibliotheken erhoffen, einfach zu hoch. (ks)
Lenstra, Noah ; Roberts, Joanna (2023). Public Libraries and Health Promotion Partnerships: Needs and Opportunities. In: Evidence Based Library and Information Practice, 18 (2023) 1, 76–99, https://doi.org/10.18438/eblip30250
Der Text berichtet über eine Umfrage unter Personal aus Public Libraries in South Carolina zu der Frage, welche Formen von Health Promotion
– das meint eine Anzahl von Veranstaltungen und Informationsangeboten im Bereich von Gesundheit, Essen und Sport – sie als sinnvoll ansehen, welche sie anbieten und auch, was die einzelnen Bibliotheken davon abhält, sie anzubieten. Zudem wurde gefragt, von wem und in welcher Form sie sich Unterstützung zu diesem Thema wünschen würden.
Die Ergebnisse sind sehr spezifisch für die USA, sowohl was die Ausrichtung der Bibliotheken auf Veranstaltungen und Outreach angeht als auch was die konkreten Probleme sind. Beispielsweise ist die Opioid-Krise ein relevantes Thema.
Insoweit lässt sich viel nicht in den DACH-Raum übertragen. Aber vier Punkte scheinen auch ausserhalb den USA zu gelten. (a) Die befragten Bibliotheken machen alle viele Angebote, aber fast keines dieser Angebote wird evaluiert. Es gibt Vorträge zu gesundem Essen oder auch gemeinsame Spaziergänge, aber die Bibliotheken wissen nicht, was der Effekt für die Nutzer*innen ist. Es wird viel vermutet, aber wenig überprüft. (b) Auch, wenn die Bibliotheken immer wieder neue Angebote ausprobieren, geht es bei ihnen meistens darum, Informationen oder Medien zu vermitteln. (c) Grundsätzlich wünschen sich Bibliotheken, mehr im Bereich Health Promotion
tun zu können, aber gleichzeitig wollen sie auch nicht weitere Kooperationen eingehen. Dem Wunsch nach mehr Kontakten steht die Einschätzung gegenüber, keine Ressourcen für noch mehr Arbeit und Aufgaben zur Verfügung zu haben. (d) Die Autor*innen betonen, dass es wichtig ist, direkt Bibliothekar*innen zu befragen, um die tatsächliche Situation in den Bibliotheken zu erheben, da diese einen besonderen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit vor Ort haben. (ks)
McGrath, Kelley (2023). Musings on Faceted Search, Metadata, and Library Discovery Interfaces. In: Cataloging & Classification Quarterly 61 (2023) 5-6: 439–490, https://doi.org/10.1080/01639374.2023.2222120
Facetten als Suchoptionen sind heute Standard in Bibliothekskatalogen, aber das war selbstverständlich nicht immer so. Vor gut zehn bis zwanzig Jahren gab es dazu in der bibliothekarischen Literatur tiefergehende Diskussionen und auch verschiedene Softwareentwicklungen. Die jetzige Situation ist nicht perfekt, aber etabliert.
Der Text ist – ohne dies klar als Ziel zu benennen – eine Einführung in das gesamte Thema, inklusive einer Darstellung der Geschichte der Facettensuche, der Probleme und Lösungsansätze sowie zahlreichen Beispielen, anhand derer die Probleme aufgezeigt werden, beispielsweise bei der Bestimmung von Zeitabständen, die automatisiert als Facetten eines Suchergebnisses dargestellt werden. Obwohl am Ende des Textes auch mögliche Fragen für weitere Forschung benannt werden, trägt er selbst wenig zum Erkenntnisfortschritt bei. Eher liest er sich wie ein Lehrskript oder auch ein Text, der eigentlich zu einem kurzen Einführungswerk werden sollte, aber nicht ganz die notwendige Länge erreichte. So sollte er auch gelesen werden: Als Einstieg in das Thema, eventuell auch als Ergänzung des Katalogisierungsunterrichts. (ks)
Allard, Danielle ; Oliphant, Tami ; Lieu, Angela (2023). Finding a Way To Say
: Library Employees’ Responses to Sexual Harassment as Emotional Labour. In: Proceedings of the Association for Information Science and Technology 60 (2023) 1: 31–40, https://doi.org/10.1002/pra2.766 [Paywall]No
Dieser Text ist aus zwei Gründen schwierig zu lesen: Erstens wegen des Themas selbst. In ihm werden Erfahrungen von Bibliothekar*innen, die diese als sexuelle Belästigung erlebt haben, wiedergegeben. Obgleich es sich dabei nicht um körperliche, sondern verbale Belästigungen handelt, ist es in dieser Masse doch verstörend. Zweitens wählten die Autor*innen eine objektivierende Darstellungsweise, die praktisch von den ganzen Einzelfällen abstrahiert. Das ist zwar ein wissenschaftliches Vorgehen, aber es fühlt sich trotzdem falsch an.
Grundsätzlich führten die Autor*innen eine Umfrage unter Bibliothekar*innen in Kanada durch, über Belästigung durch Nutzer*innen, bei denen sie 505 Antworten erhielten. Sicherlich kann man davon nicht direkt auf die Gesamtheit dieser Vorfälle schliessen, aber es zeigt doch, dass eine erschreckend grosse Zahl von Kolleg*innen zu diesem Thema Erfahrungen beitragen kann. Es scheint in gewisser Weise, dass solche Vorfälle zum Berufsalltag dazugehören
. Die Autor*innen interpretieren die Antworten so, dass Bibliothekar*innen emotional labor
leisten, um auf diese Vorfälle zu reagieren. Durch die professionelle Haltung, öffentlichen Service für alle anzubieten, wären sie mehr oder minder gezwungen, zu reagieren, ohne diese Haltung zu verletzen – und müssten anschliessend oft allein ihre Gefühle und Reaktionen verarbeiten. Die Ergebnisse zeigen, dass nur eine kleine Zahl Kolleg*innen auf diese Belästigungen direkt reagieren. Vielmehr lenken sie diese um und stellen the comfort of the patron
(ebenda, S. 37) in den Fokus. Für die Autor*innen hat dies nicht nur mit dem Servicecharakter der Bibliotheken zu tun, sondern auch mit ihrer internen Struktur. Viele Kolleg*innen hätten Angst, dass es sich negativ auf ihr Arbeitsverhältnis auswirken würde, wenn sie direkt ablehnend reagieren würden. (Bibliothekar*innen, die schon länger in Bibliotheken arbeiten und höhere Hierarchiestufen innehaben, haben in den Antworten eher davon berichtet, direkt gegen solche Belästigungen vorgegangen zu sein.)
Die Ergebnisse sind, selbstverständlich, auf die Situation in Kanada bezogen. Aber es ist schwer vorstellbar, dass die Situation im DACH-Raum so gross anders ist. Leider. (ks)
2.2 Künstliche Intelligenz
Roland Meyer: The New Value of the Archive. AI Image Generation and the Visual Economy of Style
. In: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft. Band 37, 19. Jg., (1)2023, S. 100–111. https://doi.org/10.1453/1614-0885-1-2023-15458 (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser LIBREAS-Ausgabe ist diese DOI defekt. Der Artikel kann alternativ unter dieser URL gefunden werden: https://image-journal.de/the-new-value-of-the-archive/) Der Text diskutiert Text-zu-Bild-Generatoren wie DALL·E 2, Midjourney oder Stable Diffusion. Diese sind in der Lage, aufgrund der Eingabe sogenannter Prompts beliebige Bilder zu erzeugen. Im Gegensatz zu Bilddatenbanken handelt es sich bei generativen Werkzeugen nicht um ein Retrieval, bei dem aufgrund einer Datenabfrage entsprechend erschlossene Inhalte identifiziert und ausgeben werden, sondern um auf Wahrscheinlichkeiten beruhende, unikale Bildproduktionen. Wie diese Bilder zustande kommen, hängt vom jeweiligen KI-Modell und dem Material, auf dem das Modell trainiert wurde, ab. Der Text eröffnet zwei spannende Analyseperspektiven: Einerseits beschreibt er eine Ähnlichkeit zur Stockfotografie, bei denen ebenfalls über beschreibende Keywords dazu passende Bilder ausgegeben werden. Die generative Bildproduktion greift jedoch nicht auf einen Pool von vorhandenen Daten zurück, sondern produziert Bildangebote je nach Eingabeaufforderung neu. Dies transformiert den Stellenwert und die Rolle von Einzelbildern ebenso grundlegend wie die damit zusammenhängenden Geschäfts- und Verwertungsmodelle. Im Unterschied zur Stockfotografie rücken nicht mehr einzelne Bilder, sondern Muster ins Zentrum der Verwertung.
Entsprechend erheblich sind die diesen Mustern zugrundeliegenden Trainingsdaten, deren Kuration und Bereitstellung wiederum selbst zu einem Geschäftsmodell werden könnte. Roland Meyer konzentriert sich aber als zweiten Aspekt auf den Stil
, der sich zwangsläufig aus den für die Modelle verfügbaren Trainingsdaten, also entsprechend crawlbaren Bildern ergibt. Die Bildgenerierung verarbeitet und stilisiert diese buchstäblich, weshalb die generierten Bilder, so das Argument des Autors, bestimmte Stilmerkmale älterer technischer Medienformen aufweisen und reproduzieren. Es handelt sich bei den KI-generierten graphischen Darstellungen also um Bilder, in denen Bilder aufgehen oder besser noch, mögliche Bilder beziehungsweise Bilder über Bilder (Images about Images
); das heißt nicht um Zitate, sondern um Stilisierungen, wobei die Prompts jeweils semantische Rahmungen setzen. (bk)
LHTN special issue on ChatGPT. (2023) In: Library Hi Tech News 40 (2023) 3, https://www.emerald.com/insight/publication/issn/0741-9058/vol/40/iss/3 [Paywall]
Die Zeitschrift Library Hi Tech News (nicht zu verwechseln mit der Library Hi Tech) ist dafür bekannt, kurze, überblickshafte Artikel zu publizieren, die vor allem aus einem auf Technik und Innovation fixierten Blickwinkel heraus geschrieben werden. In diesen werden regelmässig gerade aktuelle Technologien als Entwicklungen beschrieben, welche (a) einen Einfluss auf Bibliotheken haben werden, (b) innovativ beziehungsweise disruptiv seien und (c) deshalb von Bibliotheken beherrscht werden müssten. Kritische, systematisch vorgehende Analysen; Verortungen in der Geschichte der Technikentwicklung in Bibliotheken oder auch nur tiefergehende Texte finden sich in dieser Zeitschrift eigentlich nie. Sie ist, wenn man es polemisch ausdrücken will, praktisch das Fachblatt für prototypische Tech-Bros
im Bibliothekswesen.
Dass diese Zeitschrift im Frühling 2023 eine Schwerpunktnummer zu ChatGPT und Bibliotheken veröffentlicht hat, ist nur folgerichtig. Die Ausgabe zeigt aber auch, wie wenig sinnvoll diese Art von Publikationskultur ist: Alle Artikel (sieben plus ein Editorial) beschränken sich praktisch darauf, entweder darüber zu rätseln, wie ChatGPT vielleicht in Zukunft in Bibliotheken oder angrenzenden Feldern
(Pädagogik, Forschung und so weiter) eingesetzt werden wird – aber ohne, dass klar ist, auf welcher Basis diese Vorhersagen getroffen werden und teilweise (insbesondere im Artikel Artificial intelligence chatbots in academic libraries: the rise of ChatGPT von Adebowale Jeremy Adetayo (ebenda, S. 18–21, https://doi.org/10.1108/LHTN-01-2023-0007 [Paywall])) in einer Form, die daran zweifeln lässt, ob klar ist, dass es sich bei ChatGPT um ein Large Language Model (LLM) handelt und nicht um eine Art Datenzusammenführungsmaschine
, die alle Probleme der Arbeit mit Daten lösen wird. Oder aber die Artikel erklären grundsätzlich, wie ChatGPT funktioniert (das tun drei der sieben Artikel und wiederholen dabei eigentlich immer die gleichen Punkte). Bei zwei Artikeln und dem Editorial fanden es die jeweiligen Autor*innen sinnvoll, Teile von ChatGPT erstellen zu lassen. Gerade das Editorial zeigt damit aber eher etwas über die Zeitschrift selbst als über ChatGPT – nämlich, wie angedeutet, dass ein Grossteil der in ihr publizierten Texte aus Sprechblasen sowie aus nicht auf Fakten basierenden Vorhersagen besteht und wirklich ohne Probleme auch von LLMs erstellt werden können. Dieses Editorial liest sich nicht anders, als die Editorials anderer Ausgaben und ist genauso wenig konkret in seinen Aussagen.
Über die Zukunft von LLMs in Bibliotheken erfährt man hier wenig. Einzig in der Kolumne von Donna Ellen Frederick (ChatGPT: a viral data-driven disruption in the information environment, ebenda, S. 4–10, https://doi.org/10.1108/LHTN-04-2023-0063 [Paywall]) wird ChatGTP einigermassen als neue Technologie verortet: Nämlich als eine, die in einer Reihe von Technologien steht, die immer in Konkurrenz mit älteren und bald auch neueren stehen wird, ohne sich für alle potentiellen Anwendungsfälle zu etablieren. (ks)
2.3 Covid-19 und die Bibliotheken
Clarke, Rachel Ivy ; Grimm, Alexandra ; Zhang, Bo ; Stanton, Katerina Lynn (2023). Time, Tasks, and Toll: Changes in Library Work During the COVID-19 Pandemic. In: Journal of Library Administration 63 (2023) 4: 421–445, https://doi.org/10.1080/01930826.2023.2201717 [Paywall]
Berichtet wird hier über eine über verschiedene Kanäle weit verteilte Umfrage, die im August und September 2020 Personen, die in US-amerikanischen Bibliotheken arbeiteten, danach befragte, welche Arbeit sie explizit tun und welche Arbeit sie ein Jahr vorher, also 2019, taten. (Die Autor*innen betonen explizit, dass sie nicht von Bibliothekar*innen
sprechen, sondern alle Personen, die in Bibliotheken tätig sind, erfassen wollten, egal, wie deren Jobbezeichnung war.) Grundsätzlich war die Umfrage als Teil eines Forschungsprojektes zu unsichtbarer Arbeit
in Bibliotheken (also solcher, die geleistet wird, ohne von ausserhalb der Institutionen wahrgenommen zu werden) geplant gewesen, wurde dann aber wegen der Pandemie um Fragen nach den Veränderungen zum letzten Jahr ergänzt. Der Text wertet nur die Veränderungen aus. Antworten lagen am Ende von 949 Personen aus allen Bundesstaaten und Territorien der USA, ausser South Dakota, vor.
Grundsätzliches Ergebnis war, dass die geleistete Arbeitszeit zwischen 2019 und 2020 leicht zurückging (im Durchschnitt um 1,5 Stunden pro Woche und Person), aber in den Öffentlichen Bibliotheken weit mehr (1,91 Stunden pro Woche) als in den Wissenschaftlichen (0,04 Stunden pro Woche). (Andere Bibliothekstypen waren zu wenig unter den Antworten vertreten, so dass auf eine Auswertung verzichtet wurde.) Gleichzeitig stieg die eigentliche Arbeit, die zu leisten war. Insbesondere beklagten die Kolleg*innen das Verwischen
von Grenzen zwischen Arbeit und Alltag, zudem die viele Zeit, welche in virtuellen Treffen verbracht werden musste und vor allem den schwer objektiv zu messenden emotionalen Tribut
, der ihnen abverlangt wurde. Insbesondere, dass sie gegenüber Nutzer*innen und anderen Kolleg*innen ständig einen positiv gestimmten Eindruck vermitteln mussten, setzte ihnen offenbar zu.
Die Autor*innen diskutieren einige mögliche Gründe für die Unterschiede zwischen den beiden Bibliothekstypen, die aber teilweise sehr US-spezifisch sind, zum Beispiel die prekären Anstellungsverhältnisse in Öffentlichen Bibliotheken. Zuzustimmen ist aber unbedingt ihrer Einschätzung, dass ein erhöhtes Arbeitsvolumen bei gleichzeitig weniger Arbeitszeit auf längere Zeit weder für Personal noch Bibliotheken selbst nachhaltig war. (ks)
Petersen, David (2023). Remote and Hybrid Work Options for Health Science Librarians: A Survey of Job Postings Before and After the COVID-19 Pandemic. In: Medical Reference Services Quarterly 42 (2023) 2: 153–162, https://doi.org/10.1080/02763869.2023.2194144 [Paywall]
Der Autor untersucht anhand von Stellenausschreibungen für Medizinbibliothekar*innen in den USA, ob sich zwischen 2018 und 2022 die Zahl der Stellen vermehrt hat, in denen die Arbeit von ausserhalb der eigentlichen Bibliothek (also remote work
) explizit ermöglicht wird. Dabei geht er davon aus, dass während der Pandemie klar geworden ist, wie viel dieser Arbeit tatsächlich von daheim
geleistet werden kann. Er postuliert, dass interessierte Stellensuchende deshalb auch darauf achten würden, ob diese Möglichkeiten erwähnt werden. Wenn sich Bibliotheken dahingehend ändern würden, dass sie dies verstärkt ermöglichen, sollte dies – so seine Annahme – in den Stellenanzeigen auch sichtbar sein. Die Medizinbibliotheken, die er als Untersuchungsgegenstand wählte, weil er selbst in solch einer arbeitet, eignen sich für diese Frage besonders, weil diese an sich immer schneller Veränderungen umsetzen, als andere Bibliotheken.
Alas, seine Auswertung zeigt keine Veränderung in Richtung mehr Homeoffice
an. Die Zahl der Stellenanzeigen an sich ist mit und nach der Pandemie merklich gestiegen, aber die Zahl der Stellenanzeigen, welche remote work als Möglichkeit erwähnen, ist dabei nur in geringerem Masse angestiegen. Oder anders gesagt: So richtig scheinen die Bibliotheken sich an diesem Punkt durch die Erfahrungen in der Pandemie nicht verändert zu haben. (ks)
Sobol, Barbara ; Goncalves, Aline ; Vis-Dunbar, Mathew ; Lacey, Sajni ; Moist, Shannon ; Jantzi, Leanna ; Gupta, Aditi ; Mussell, Jessica ; Foster, Patricia L. ; James, Kathleen (2023). Chat Transcripts in the Context of the COVID-19 Pandemic: Analysis of Chats from the AskAway Consortia. In: Evidence Based Library and Information Practice 18 (2023) 2, S. 73–92, https://doi.org/10.18438/eblip30291
Die Autor*innen untersuchen mit einer Anzahl von (Open Source) Tools die Chats von Auskunftsgesprächen, welche 2019–2021 (also während der aktiven Phasen der Covid-19 Pandemie) in British Columbia, Kanada, zwischen Bibliothekar*innen und Nutzer*innen Wissenschaftlicher Bibliotheken geführt wurden. Eine grosse Zahl der im dortigen Bundesstaat ansässigen Hochschulbibliotheken (aber auch nicht alle) hat sich zu einem Konsortium zusammengeschlossen, welches gemeinsam einen Chatservice für Fragen an die Bibliotheken betreibt. Diese Gespräche laufen alle über den gleichen Dienstleister und sind deshalb auch alle in den gleichen Dateiformaten gespeichert, mit den gleichen Tags versehen et cetera. Die Autor*innen konnten über diesen Anbieter auf mehr als 70.000 dieser Gespräche zurückgreifen, die auch für Bibliotheken aller Hochschulformen, die im Bundesstaat vertreten sind (also vor allem private und öffentlich finanzierte sowie solche unterschiedlicher Grösse) geführt wurden.
Grundsätzliche Erwartung war, dass die Pandemie in diesen Chats sichtbar sein müsste. Gefragt wurde, welche Veränderungen es über die Zeit gab. Allerdings zeigte sich, dass zwar die Zahl der Fragen, die an die Bibliotheken gestellt wurde, stieg, was mit den Schliessungen der physischen Zugänge selbst zu erklären war, aber ansonsten fast durchgängig gleich blieb. In der Hochphase der Lockdowns wurde die Sprache der Nutzer*innen etwas informeller, zugleich gingen Fragen bezüglich der Fernleihe in der Zeit zurück, als im Bundesstaat auch keine Fernleihe angeboten wurde. Aber ansonsten scheint die Pandemie keine wirklichen Auswirkungen auf die gestellten Fragen und damit – abgeleitet – die Interessen der Nutzer*innen gehabt zu haben.
Interessant an der Studie ist zudem, dass die Autor*innen zu Beginn einen Überblick zu vergleichbaren Studien, welche eine grosse Anzahl an Chats aus Bibliotheken analysieren, zusammenfassen und dabei feststellen, dass sich bislang kein Ansatz etabliert hat, wie eine solche Analyse im Idealfall durchgeführt werden kann. Fast jede Studie scheint jeweils anders vorzugehen und – das wird eher angedeutet als gesagt – es wäre sinnvoll, die verschiedenen Methoden einmal mittels einer Metastudie zu erkunden. (ks)
2.4 Forschungsdatenmanagement
Farrell, Shannon L. ; Kelly, Julia A. ; Hendrickson, Lois G. ; Mastel, Kristen L. (2023). A Pilot Study to Locate Historic Scientific Data in a University Archive. In: Issues in Science and Technology Librarianship (2023) 103, https://doi.org/10.29173/istl2728
Was hier Pilotstudie genannt wird, ist in der Realität ein Test, welche Forschungsdaten in analoger Form eigentlich in einem Universitätsarchiv liegen könnten und mit welchem Aufwand sie zu finden sind. Das betreffende Archiv ist das der University of Minnesota, an der die Autor*innen des Textes alle (in der Bibliothek) arbeiten.
Was mit diesem Text gezeigt wird, ist, dass eine ganze Reihe von Daten in Form von Forschungstagebüchern, Listen, Sammlungen und so weiter in das Archiv gelangt sind, die allesamt wohl auch in der heutigen Forschung (nicht der Geschichtswissenschaft, bei der dies immer stimmt, sondern beispielsweise auch den Umweltwissenschaften) genutzt werden könnten. Es bedarf der Suche nach ihnen, inklusive der Archivarbeit wie dem Suchen in Findbüchern, dem Beachten der Provenienz und der Arbeit mit analogen Materialien. Dies dauert seine Zeit. Zudem sind die Daten alle unterschiedlich gut dokumentiert, was weitere Herausforderungen mit sich bringt.
Die Autor*innen betonen, dass ihrer Erfahrung nach in den Archiven eine grosse Zahl von Daten liegen, die noch erschlossen werden müssten. Sie postulieren, dass dies ein zukünftiges Arbeitsfeld für Bibliothekar*innen sein kann. Das mag stimmen, aber ein wenig liest sich der Text auch, als würden sich die Kolleg*innen eine weitere Aufgabe suchen. Ob es ein Interesse von Seiten der Forschung gibt, diese Daten zu nutzen, ist selbstverständlich noch nicht klar. (ks)
Holmes, Martin ; Jenstadt, Janelle ; Huculak, J. Matthew (edit.) (2023): Special Issue: Project Resiliency in the Digital Humanities. In: DHQ: Digital Humanities Quarterly 17 (2023) 1, https://digitalhumanities.org/dhq/vol/17/1/index.html
Entstanden im Zusammenhang eines Symposiums, welches wiederum als Teils eines Projekts über das erfolgreiche Beenden
von Digital-Humanities-Projekten und deren mögliche nachhaltige Archivierung, war, thematisieren die Beiträge dieser Schwerpunktnummer vor allem letzteres: Was sind die Erfahrungen und Möglichkeiten, um die Ergebnisse von Digital Humanities Projekten, die ja meist aus Homepages bestehen, langfristig zu archivieren.
Das ist für Bibliothekar*innen kein neues oder inhaltlich überraschendes Thema. Im Projekt wurden Prinzipien aufgestellt, beispielsweise dass Daten am Ende von Projekten immer in offenen Standards vorliegen müssen oder dass die Projekthomepages geflattet
(also zu eigenständigen, nicht-interaktiven Homepages) werden müssen, um langfristig aufbewahrt werden zu können. Zudem muss dieses Ende
schon von Beginn eines Projekts an geplant sein. All diese Prinzipien sollten eigentlich Teil guter Forschungsdatenmanagementpraxis sein. Aber was aus den Texten zu lernen ist, ist, dass dies für aktive Forschende in den Digital Humanities offenbar immer wieder neue Themen und Vorgaben sind. Offenbar wird bei diesen Projekten tatsächlich nicht an deren Langlebigkeit gedacht, sondern teilweise daran, möglichst Neues auszuprobieren. Teilweise scheinen Forschende aber auch Probleme zu haben, ein Projekt wirklich
zu beenden, also in gewisser Weise loszulassen und nicht ständig über die Projektlaufzeit hinaus doch noch an ihm zu arbeiten, also zum Beispiel Daten zu ergänzen.
Das muss nicht als Vorwurf an Forschende formuliert werden. Offenbar sind es verschiedene Denkweisen, die sich hier zeigen: Die von Forschenden auf der einen Seite und die von den Institutionen, welche nachher manchmal damit betraut werden, die Projekte irgendwie zu erhalten, also vor allem Bibliotheken oder Archive. Interessant ist, zu sehen, dass diese unterschiedlichen Denkweisen immer wieder aufeinandertreffen. Sie werden wohl nie einfach geklärt werden, sondern müssen auch in Zukunft immer wieder aktiv zusammengebracht werden. Oder anders gesagt: Forschungsdatenmanagement
wird auch in Zukunft bedeuten, immer wieder neu und immer wieder neuen Forschenden zu erläutern, warum ein solches notwendig ist. Dieses Wissen scheint sich nicht mit der Zeit zu etablieren. (ks)
Rod, Alisa B. (2023). It Takes a Researcher to Know a Researcher: Academic Librarian Perspectives Regarding Skills and Training for Research Data Support in Canada. In: Evidence Based Library and Information Practice, 18 (2023) 2, 44–58, https://doi.org/10.18438/eblip30297
Um zu klären, was Forschungsdatenmanagement für Bibliotheken konkret bedeutet, führte die Autor*in semi-strukturierte Interviews mit zwölf Bibliothekar*innen kanadischer Hochschulen durch, welche teilweise seit Jahren in diesem Bereich arbeiten. Sicherlich gibt es dabei nationale Besonderheiten. Beispielsweise sind die kanadischen Universitäten von der Regierung aktuell aufgefordert, institutionelle Strategien für das Forschungsdatenmanagement zu erarbeiten. Für diese Strategiearbeit werden auch Bibliothekar*innen herangezogen. Aber darüber hinaus ergaben die Interviews auch Ergebnisse, die sich wohl verallgemeinern lassen.
An den meisten Hochschulen ist die Forschungsdatenmanagementarbeit
an den Bibliotheken verortet, aber was genau dies heisst, ist fast nie klar geregelt. Vielmehr sind die Arbeitsinhalte und Abgrenzungen zu anderen Aufgaben oft sehr schwammig. Bei einem Drittel der Befragten ist diese Arbeit sogar eine, die sie neben anderen bibliothekarischen Aufgaben erledigen. Sie setzt sich zumeist zusammen aus (1) der Beantwortung von Anfragen zu spezifischen Datensätzen, (2) dem Unterrichten von Modulen zur Datenanalyse, (3) die Übernahme des Hochladens von Daten für Forschende, inklusive der notwendigen Vorbereitungen und (4) der Beratungen zum Schreiben von Datenmanagementplänen. Punkt (5), die Arbeit an Strategien, ist vielleicht nur temporär. Ganz selten, (6) führen die Bibliothekar*innen selbst Studien mit Forschungsdaten durch oder (7) sind in Forschungsprojekte eingebunden.
Die Autor*in will auch wissen, welche Kompetenzen für diese Arbeit notwendig sind und ob diese Kompetenzen im Studium (in Kanada) vermittelt werden. Da die Aufgaben aber offen sind, ist es auch schwer, die konkreten Kompetenzen zu vermitteln. Die Befragten fühlten sich vom Studium gut vorbereitet, wobei sie vor allem vom Überblickswissen (zum Beispiel, was Metadaten sind) und der Fähigkeit, sich schnell in neue Themen einzuarbeiten, profitieren. Ein Punkt, der auch im Titel des Artikels erwähnt wird, ist, dass die Bibliothekar*innen denken, dass es notwendig ist, selbst mit Daten geforscht zu haben, um erfolgreich die Arbeit im Forschungsdatenmanagement leisten zu können. (ks)
Pares, Nicolas ; Organisciak, Peter (2023). The Effects of Research Data Management Services: Associating the Data Curation Lifecycle with Open Research Output. In: College & Research Libraries 84 (2023) 5: 751–766, https://doi.org/10.5860/crl.84.5.751
Die Ergebnisse der Umfrage, welche in diesem Artikel präsentiert werden, sind auf einer konzeptionellen Ebene relevanter, als auf der eigentlichen faktischen Ebene. Faktisch wurden hier die Meinungen von 46 Personen, rund die Hälfte Forschende und Personen, welche in ihrer Arbeit das Forschungsdatenmanagement unterstützen, gesammelt und ausgewertet. Das sind relativ wenige Personen, zudem alle in den USA tätig und auf Seiten der Forschenden nur solche, die auch schon Erfahrungen mit dem Forschungsdatenmanagement haben. Insoweit sind auch die eigentlichen Ergebnisse sehr speziell.
Konzeptionell wird mit der Umfrage aber eine relevante Problematik bei der Planung von Services im Bereich Forschungsdatenmanagement sichtbar. Es geht darum, ob die Möglichkeiten von Forschenden (in den USA), Forschungsdaten offen zu publizieren, von bestimmten Gegebenheiten abhängen, zum Beispiel davon, ob Services in diesem Bereich aufgebaut sind, wo sie in der Hochschule angesiedelt sind oder auch, welche Position die jeweiligen Forschenden haben. Was sich in den Ergebnissen zeigte, war, dass das Vorhandensein und die Ansiedlung solcher Services an Bibliotheken offenbar einen fördernden Charakter hat. Oder anders gesagt: Dass Services angeboten und dann auch finanziert werden, vermittelt den Eindruck, dass das Forschungsdatenmanagement mehr Relevanz hat, als andere wissenschaftspolitische Vorgaben. Es wird ihm also institutionell von den Hochschulen Wertigkeit zugeschrieben, was von den Forschenden wahrgenommen wird. Was sich hingegen nicht zeigte, war eine Verbindung zum bekannten Forschungsdatenkreislauf: Welche Services konkret existieren und wo die in diesem Kreislauf angesiedelt sind, scheint keinen richtigen Einfluss darauf zu haben, ob Forschende ihre Daten offen veröffentlichen oder nicht. Das ist relevant, weil sich dieser Kreislauf als Planungsinstrument durchgesetzt hat. Bibliotheken (und andere Einrichtungen an Hochschulen sowie Forschungsförderer) nutzen ihn, um zu planen, welche Services eingerichtet werden, mit Personal und Mittel ausgestattet werden und so weiter. Aber – und das ist die interessante konzeptionelle Überlegung, welche der Artikel anstösst – es scheint nicht so (was weiter überprüft werden müsste), also ob dieser Kreislauf für Forschende eine Bedeutung hätte. Er ist ein Modell und wie jedes Modell bildet er nur ein mögliches Bild der Realität ab. Es gilt zu überprüfen, ob dieses Modell vielleicht zu weit von der realen Arbeitspraxis von Forschenden entfernt ist – was zum Beispiel erklären würde, warum viele dieser Services nur von einem kleinen Teil von Forschenden genutzt werden (wie viele andere Studien zum Thema, die auch schon in dieser Kolumne beleuchtet wurden). (ks)
Kouper, Inna (2023). Data Curation in Interdisciplinary and Highly Collaborative Research. In: International Journal of Digital Curation 17 (2023) 1, https://doi.org/10.2218/ijdc.v17i1.835 (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser LIBREAS-Ausgabe ist diese DOI defekt. Der Artikel kann alternativ unter dieser URL gefunden werden: http://www.ijdc.net/article/view/835)
In diesem Paper werden 169 Artikel (erschienen seit 2011) ausgewertet, die alle über das Datenmanagement in interdisziplinären Forschungsprojekten berichteten. Der Fokus dieser Recherche war, Erfahrungen über dieses Datenmanagement zu versammeln sowie nach allgemeinen Trends und Empfehlungen für die weitere Praxis zu schauen. Nach den Papers wurde systematisch recherchiert und sie wurden anschliessend auch systematisch ausgewertet. Auffällig ist schon zu Beginn, dass es eine recht hohe Zahl von diesen doch spezifischen Berichten ist, die gefunden wurden. Insoweit, so kann man schliessen, gibt es schon eine gelebte Praxis des Forschungsdatenmanagements in grossen, interdisziplinären Projekten.
Des Weiteren zeigen diese Berichte immer wieder ähnliche Herausforderungen auf: Interdisziplinäre Arbeit heisst, damit umzugehen, dass unterschiedliche Disziplinen sehr verschiedene Herangehensweisen haben, auch an Daten und das Datenmanagement. Es galt in allen diesen Projekten immer, ein gemeinsames Verständnis der Teilnehmer*innen aktiv herzustellen. Dies bezog sich nicht nur auf die technische, sondern auch auf die interpersonelle Ebene. Gleichzeitig zeigt diese Übersicht, dass immer wieder neue Wege des Datenmanagements gesucht (und gefunden) werden. Zwar erwähnen viele Artikel, dass es wichtig ist, dies möglichst früh im Forschungsprozess zu planen und zum Beispiel dann auch Kontakt zu Bibliotheken oder Archiven zu haben. Aber gleichzeitig wurde in den meisten Fällen, die in den Papers beschrieben werden, diese Kontakte in der Realität erst sehr spät im Forschungsprozess (oft am Ende) aufgenommen.
Fast alle der ausgewerteten Paper sind Berichte oder Case Studies. Der Artikel zeigt auch, dass es bislang fast keine systematische Forschung zur konkreten Datenmanagementpraxis in interdisziplinären Projekten gibt (und benennt dies, berechtigt, als Leerstelle). (ks)
Khan, Nushrat ; Thelwall, Mike ; Kousha, Kayvan (2023). Data sharing and reuse practices: disciplinary differences and improvements needed. In: Online Information Review 47 (2023) 6: 1036–1064, https://doi.org/10.1108/OIR-08-2021-0423 [Paywall], Open-Access-Version: https://wlv.openrepository.com/handle/2436/625075
In einer weiteren Umfrage, über die in diesem Text berichtet wird, wurde versucht, die konkreten Praktiken des Forschungsdatenmanagements von Wissenschaftler*innen zu erfahren. Was diese Studie von ähnlichen Unterfangen abhebt, ist, dass versucht wurde, eine möglichst grosse Anzahl von Forschenden aus möglichst unterschiedlichen Disziplinen zu erreichen. Anschliessend wurden die Praktiken zwischen den Disziplinen verglichen. Um das zu erreichen, wurden Einladungen zur Umfrage direkt an rund 70.000 Forschende geschickt, die als Erstautor*innen von Artikeln verzeichnet waren, welche 2018 oder 2019 erschienen und in der Scopus-Datenbank nachgewiesen wurden. Beantwortet wurde die Umfragen dann von 3.257 Personen, die tatsächlich aus sehr verschiedenen Disziplinen stammten.
Die Ergebnisse zeigen – wenig überraschend, aber hier mit Daten abgesichert –, dass sich diese Praktiken (Daten teilen, Daten suchen und Daten nutzen) je nach den Disziplinen und auch Feldern innerhalb der Disziplinen unterscheiden. Es zeigt sich auch, dass es einen Lerneffekt gibt: Je länger Forschende aktiv sind, umso sicherer sind sie im Teilen, Finden und Nutzen von Daten. Die umfangreiche Darstellung der Daten im Artikel zeigt auch, dass die Teilchenphysik und die Astronomie mit ihrem aktiven Datenmanagement wirklich eine Besonderheit darstellen. Sie zeigen auch, dass Forschende zur Suche von Datensätzen vor allem auf schon publizierte Artikel (die dann auf Datensätze verweisen), ihnen bekannte Repositorien und Hinweise von Kolleg*innen zurückgreifen. Re3data.org als Instrument und systematische Suchstrategien, wie sie von Bibliotheken als sinnvoll angesehen werden, werden in der Praxis von Forschenden nur sehr selten genutzt. (ks)
Paulo Cezar Vieira Guanaes ; Sarita Albagli: Direito Autoral sobre dados de pesquisa no ecossistema da Comunicação Científica. In: Transinformação 35 • 2023 https://doi.org/10.1590/2318-0889202335e226918
In ihrem Aufsatz beschäftigen sich Paulo Cezar Vieira Guanaes (Fundação Oswaldo Cruz, Escola Politécnica de Saúde Joaquim Venâncio. Rio de Janeiro) und Sarita Albagli (Instituto Brasileiro de Informação em Ciência e Tecnologia – Universidade Federal do Rio de Janeiro, Programa de Pós-Graduação em Ciência da Informação) mit dem Stand der Diskussion um die Anwendung von Copyright auf Forschungsdaten. Sie stellen in ihrer auf Literaturanalysen sowie der Auswertung juristischer Materialien und Fragebogen basierten Umfragen beruhenden Studie fest, dass das Prinzip offener und geteilter Forschungsdaten bei den Stakeholdern (Forschende, Journals, Förderer, Wissenschaftsinfrastruktur) durchaus verstanden und gewünscht wird. Probleme gibt es jedoch bei der praktischen Implementierung. Es fehlen beispielsweise sowohl ein Set an praxistauglichen verbindlichen Anforderungen, ein Gratifikationssystem für die entsprechenden datenaufbereitenden Arbeiten und Veröffentlichungsschritte als auch eine verbindliche rechtliche Regelung, die bestimmte Formen von Daten grundsätzlich von einem Copyright oder einer Nutzungsbeschränkung ausschließt. Für die Mitarbeitenden der Forschungsdateninfrastrukturen beziehungsweise Repository Manager und ebenfalls für die Herausgeber*innen von Zeitschriften bedeutet die Studie, dass die Fragen der offenen Forschungsdatenpublikation sowie der damit zusammenhängenden rechtlichen Aspekte bisher keine Priorität haben. Daran ändern auch entsprechend ausgerichtete Projekte wie Fiocruz und SciELO wenig. Die Autor*innen empfehlen zudem für die weitere Forschung zum Thema eine Untersuchung der Geschäftsmodelle für das Publizieren von Forschungsdaten, da sie befürchten, dass sich kommerzielle Ansätze analog zu Article Processing Charges auch in diesem Bereich durchsetzen könnten. Parallel sehen sie die Notwendigkeit zur rechtlichen und wissenschaftspolitischen Absicherung des Ziels der Openness für Forschungsdaten (um direito especial a favor das práticas de dados abertos
) (bk)
2.5 Open Access
Linna, Anna-Kaarina ; Ylönen, Irene ; Salmi, Anna (2023). Monitoring Organizational Article Processing Charges (APCs) using Bibliographic Information Sources: Turku University Library Case. [Alternativer Titel: Monitoring organizational Article Processing Charges (APCs) using external sources. Turku University Library case] In: Liber Quarterly 33 (2023) 1–23, https://doi.org/10.53377/lq.13361
Im Artikel wird über ein Projekt an der genannten Turku University in Finnland berichtet, bei dem untersucht wurde, ob die tatsächlich von der Universität gezahlten APCs in den Daten abgebildet sind, welche die Universität sammelt. Oder aber, ob mittels Datenbankrecherchen andere Artikel nachgewiesen werden können, für die wohl auch – aber nicht direkt in den normalen
Geldflüssen sichtbar – solche Gebühren bezahlt wurden. Zudem sollte, falls letzteres der Fall ist, geschaut werden, ob es dabei auffällige Faktoren gibt, beispielsweise ob die Gebühren an bestimmte Verlage öfter unterreportet
werden. Relevant ist dies auch, weil die Universität grundsätzlich Daten an OpenAPC liefert und deshalb ein Interesse daran hat, dass diese vollständig sind.
Im Projekt zeigte sich, dass es – wenn auch mit hohem Zeitaufwand – möglich ist, solche undokumentierten
APCs nachzuweisen und zwar in einer hohen Zahl. Für Artikel, die 2017 und 2018 erschienen sind, waren dies wohl 48 % (242) versus 52 % (265), bei denen die Geldflüsse für die APCs bekannt waren. Dabei zeigte sich auch, dass diese Verteilung in bestimmten Verlagen – namentlich MDPI und American Chemical Society – weit eher in Richtung unterreportet
verschoben ist. Die Universität hat jetzt die Dokumentation ihrer Geldflüsse angepasst und hofft, mehr der APCs ordentlich zu dokumentieren. Es ist aber zu vermuten, dass solche Überprüfungen in anderen Hochschulen ähnliche Ergebnisse erbringen würden, was zum Beispiel Auswirkungen auf die Qualität der Daten in OpenAPC hat. (ks)
Nazim, Mohammad ; Bhardwaj, Raj Kumar (2023). Open access initiatives in European countries: analysis of trends and policies. In: Digital Library Perspectives 39 (2023) 3: 371–392, https://doi.org/10.1108/DLP-06-2022-0051 [Paywall]
Dieser Artikel – wieder einmal einer, der sich mit dem Thema Open Access beschäftigt, aber selbst nicht als solcher erscheint – liefert einen interessanten Aussenblick auf die im Titel genannten Open-Access-Initiativen, die aktuell in Europa vorangetrieben werden. Die Autor*innen schauen gewissermassen aus Indien auf diese Entwicklungen und versuchen sich einen Überblick zu schaffen. Einerseits basiert der Text deshalb auf einer Ansammlung von Daten, die jeweils möglichst vollständig sind (bis hin zur Angabe, dass es in Liechtenstein null Open Access Repositories gibt), andererseits zeigen die versammelten Daten und deren Bewertung auch, dass der Fokus auf Offenheit, welcher in den Debatten um Open Access im DACH-Raum dominiert, nicht unbedingt der einzig mögliche ist. Die Autor*innen interessieren sich eher für Angaben wie den Einfluss der Initiativen auf den durchschnittlichen Impact Factor der Wissenschaften europäischer Länder – also Fragen, die im DACH-Raum immer weniger Bedeutung haben. Er ist eine gute Erinnerung daran, dass auch Themen wie Open Access oder Forschungsevaluationen immer in spezifischen kulturellen oder nationalen Rahmen verortet sind. (ks)
2.6 Bestandsmanagement
Getsay, Heather ; Chen-Gaffey, Aiping (2023). COUNTER in context: a case study on journal package usage. In: Journal of Electronic Resources Librarianship 35 (2023) 3: 195–206, https://doi.org/10.1080/1941126X.2023.2224670 [Paywall]
Es wird in diesem Text eine Analyse von COUNTER-Daten für eine spezifische Bibliothek (Bailey Library, Slippery Rock University of Pennsylvania) und ein spezifisches Zeitschriftenpaket (Health & Life Sciences and Physical Sciences von Elsevier) durchgeführt. Die Ergebnisse bestätigen vor allem die Vermutungen der Autor*innen (beide aus der genannten Bibliothek), beispielsweise dass viele Zeitschriften kaum, dafür einige Zeitschriften sehr viel benutzt werden. Interessant ist der Text vor allem, weil hier einmal ausführlich, gut nachvollziehbar und auch mit vielen Darstellungen unterstützt, eine solche Auswertung vorgeführt wird, inklusive der Ableitung von Entscheidungen für das zukünftige Bestandsmanagement. Sicherlich wird dies auch so in zahlreichen Bibliotheken durchgeführt. Hier aber wird, praktisch als Anschauungsmaterial, einmal öffentlich sichtbar gemacht, was mit diesen Daten möglich ist. Der Beitrag lässt sich auch gut für die Lehre oder das Selbststudium nutzen. (ks)
Robson, Diane ; Bryant, Sarah ; Sassen, Catherine (2023). Video Game Equipment Loss and Durability in a Circulating Academic Collection. In: Evidence Based Library and Information Practice 18 (2023) 3: 53–68, https://doi.org/10.18438/eblip30294
Im Text werden die Erfahrungen, welche die Bibliothek der University of North Texas in Denton mit ihrer Sammlung von Videospielen und den dazugehörigen Geräten seit 2009 gemacht hat, dargestellt. Es geht vor allem darum, wie gross die Verluste bei den Geräten war. Gleichzeitig wird begründet, warum diese Bibliothek überhaupt eine solche Sammlung hat (nicht nur für die Freizeitgestaltung der Studierenden, sondern auch für Unterricht und Forschung) und wie das konkrete Bestandsmanagement der Geräte organisiert ist (inklusive Pläne für die Überprüfung von Vollständigkeit und Funktionalität bei der Rückgabe, der Pflege der Geräte sowie des Managements von Verlust und Verbrauch). Relevant ist, dass die Zahlen zwar einen kontinuierlichen Verbrauch
an Geräten (im Sinne von Verlust und von Defekten) von rund 19 % über den gesamten Zeitraum zeigen, die Autor*innen aber schliessen, dass sich dies im erwartbaren Rahmen bewegt. Die Defekte hätten sich alle durch normalen Gebrauch der Geräte ergeben, nicht durch mutwillige Zerstörung. Nach über zehn Jahren mit dieser Sammlung stellen sie fest: One of the biggest hurdles related to beginning this type of collection is overcoming undue fears about equipment loss in relation to other library collections.
(ebenda: 64). (ks)
3. Monographien und Buchkapitel
3.1 Vermischte Themen
Munn, Luke (2022). Automation is a Myth. Stanford: Stanford University Press, 2022, https://doi.org/10.1515/9781503631434 [gedruckt beziehungsweise Paywall]
Der Titel dieses eher kurzen Buches sagt schon, dass der Autor hier die Vorstellung einer Automation
, welche sich in naher Zukunft auf der ganzen Welt verbreiten und das Leben aller Menschen, insbesondere ihrer konkreten Arbeit, verändern würde, als einen modernen Mythos analysiert. Er ist Forscher im Bereich zwischen Technik und Kultur, also grundsätzlich Technologie und ihrer Entwicklung nicht abgeneigt. Aber in diesem Buch insistiert er darauf, dass die Rede von einer grundsätzlichen Automatisierung falsche Behauptungen aufstellt, welche sich anhand einer Analyse der realen Entwicklungen widerlegen lassen. Dies funktioniert auch, weil diese Behauptungen keineswegs neu sind, sondern seit langer Zeit existieren. Seine Kritik ist dabei nicht auf eine Gruppe von Personen gerichtet. Vielmehr betont er explizit, dass sie sowohl für diejenigen gilt, welche Automatisierung als problematisch begreifen (im Sinne von Vernichtung von Arbeitsplätzen
), als auch für diejenigen, welche Automatisierung als grundsätzlich positiv ansehen (im Sinne der Möglichkeit, dass Menschen weniger Arbeit leisten müssen).
In den Kapiteln geht er mehrere Unterpunkte des Mythos durch und betont, dass das, was Automatisierung
konkret heisst, wie sie umgesetzt wird und wofür, immer vom lokalen Kontext abhängig ist und für Menschen immer, stratifiziert anhand von gesellschaftlichen Strukturen (zum Beispiel hoch- und niedrigqualifizierte Arbeiter*innen, nationale Minderheiten und Mehrheiten, Geschlechter), Unterschiedliches bedeutet. Insbesondere bestreitet er, dass Automatisierung Arbeit ersetzt und zeigt, dass sie stattdessen selbst immer neue Arbeit hervorbringt. Das Ganze ist in einem leicht zugänglichen, essayistischen Stil geschrieben. Gerade da Automatisierung heute vor allem Datenanalyse bedeutet, ist das Buch auch eine gute Erinnerung daran, dass jede technische Entwicklung und ihr Einsatz nicht einfach kontextlos passiert
, sondern immer gesteuert werden kann. (ks)
Vnuk, Rebecca (2022). The Weeding Handbook: A Shelf-by-Shelf Guide. (Second Edition) Chicago: ALA Editions, 2022.
Es fehlt an deutschsprachiger Literatur, die sich mit den praktischen Fragen des Bestandsmanagements beschäftigt. Unter den zahlreichen Handbüchern und Praxishilfen für Bibliotheken, die kontinuierlich erscheinen, finden sich erstaunlich wenige, die zum Thema machen, wie Medien erworben oder lizenziert, wie sie verwaltet, ausgeliehen, magaziniert oder auch ausgesondert werden. Dabei ist dies weiterhin der Hauptteil der praktischen Arbeit in Bibliotheken, in Öffentlichen vielleicht noch mehr als in anderen Bibliothekstypen. Im englischsprachigen Raum gibt es mehr solcher Publikationen. Eventuell hat dies einfach mit dem zahlenmässig grösseren Markt für Bibliotheksliteratur zu tun oder auch damit, dass mit den Verlagen des US-amerikanischen (und, im Fall anderer solcher Literatur, britischen) Bibliotheksverbandes explizit auf die Zielgruppe Bibliothekar*innen ausgerichtete Publikationsorte existieren. So oder so: Die englischsprachigen Handbücher zum Bestandsmanagement sind grundsätzlich auch für Bibliotheken im deutschsprachigen Raum von Interesse, weil sie grundsätzlich die gleichen Fragen behandeln – egal, ob sich die Bibliotheken in Kansas oder Bochum befinden. Gleichzeitig aber sind die jeweiligen Beispiele, Formeln, Gesetze, Infrastrukturen und so weiter in diesen Büchern immer auf die USA (oder, in anderen Fällen, auf Grossbritannien) bezogen.
Dies gilt auch für dieses Buch zur planmässigen Aussonderung in Public Libraries und Schulbibliotheken. Es gibt einen recht schnell und einfach zu lesenden Überblick zum Thema, also vor allem zu der Frage, warum in Bibliotheken ausgesondert werden muss, wie dabei vorzugehen ist, auch wie das Personal und die Öffentlichkeit dabei einbezogen werden können. Gleichwohl ist es an den US-amerikanischen Kontext angepasst. In weiten Teilen des Buches geht die Autorin die einzelnen Signaturgruppen der Dewey Decimal Classification durch und beschreibt jeweils, auf was bei den Medien in diesen Gruppen zu achten ist – aber die Bibliotheken im DACH-Raum nutzen alle andere Aufstellungsklassifikationen.
Und dennoch ist das Buch zu empfehlen. Einerseits sind die Grundprinzipien auch ausserhalb der USA gültig: (1) Eine Bibliothek benötigt die ständige Aussonderung, sie ist weder Archiv noch Museum. (2) Aussonderung sollte sich an klaren Kriterien orientieren, aber dann doch jeweils pro Medium abwägen, wie hart sie angewandt werden müssen. (3) Aussonderung geschieht im Idealfall ständig und geplant, zum Beispiel anhand einer Jahresplanung. Andererseits sind die Interviews mit Bibliothekar*innen, welche über das ganze Buch gestreut sind, hilfreich. Sie berichten aus sehr unterschiedlichen Bibliotheken, aber es wird sichtbar, dass sie alle mit den gleichen Problemen umgehen müssen. Es ist also in gewisser Weise universell
. Zuletzt hilfreich ist der mehrfach gemachte Vorschlag, einen cart of shame
zu betreiben, auf dem wirklich schlimme Medien behalten werden, die ausgesondert wurden (also sowohl inhaltlich als auch vom Zustand her schlimm). Sie überzeugen sowohl Kolleg*innen als auch die Träger, die lokale Politik oder auch die breite Öffentlichkeit schnell von der Notwendigkeit eine kontinuierlichen Aussonderung. (ks)
3.2 Bibliotheks- und Mediengeschichte
Kienhorst, Hans ; Poirters, Ad (2023). Book Collections as Archaeological Sites: A Study of Interconnectedness and Meaning in the Historical Library of the Canonesses Regular of Soeterbeeck ; with a Catalogue of the Soeterbeeck Collection, Compiled with Eefje Roodenburg, and Pictures by Anton Houtappels. (Nijmegen Art Historical Studies XXIX) Turnhout: Brepols Publishers, 2023. [gedruckt]
Dieses Buch ist eines, das sich in gewisser Weise aufdrängt – in seiner physischen Form. Es ist in einem grossen Format (28 × 21 cm) gedruckt, fast 700 Seiten dick und zudem auf extra schwerem, gestrichenen Papier gedruckt, mit zahllosen, gross gesetzten (aber auch qualitativ auffällig guten) Bildern. Kurz: Es liegt nicht in der Hand, sondern muss geschleppt und kann praktisch nur am Schreibtisch gelesen werden. Es verlangt Aufmerksamkeit.
Aber ist sie berechtigt? Thema des Buches ist die Bibliothek, welche im Laufe der Jahrhunderte in einem Konvent des katholischen Frauenordens der Sepulchrinerinnen in Soeterbeek (in Dommel, Niederlande) angesammelt wurde, wobei die Autoren zu dieser Bibliothek alle Handschriften und Bücher zählen, die einst in diesem Konvent vorhanden waren, egal wo sie heute stehen. Der Konvent, mit den ersten Anfängen im Jahr 1448, wurde 1997 aufgelöst, als die letzte Schwester in ein Altersheim zog. Die Medien stehen verstreut in verschiedenen Bibliotheken in den Niederlanden (wenn auch mit Schwerpunkten). Was das Buch jetzt liefert, ist, jedes einzelne dieser Bücher eingehend zu beschreiben, inklusive seiner Materialität, seines Inhalts, seiner Nutzungsspuren und es dann, jeweils als Teil der Sammlung, in einen grösseren Kontext einzuordnen. Beispielsweise wird thematisiert, welche Rolle solche Genres wie Stundenbücher oder Katechismen zu verschiedenen Zeiten spielten. Die These, welche die Autoren immer wieder hervorheben, ist, dass man die einzelnen Bücher als Objekte einer Archäologie
nutzen kann und somit von ihnen ausgehend auch mehr über das Leben im Konvent selbst lernt. Dies führen sie exemplarisch (immer gedacht, dass dies auch in anderen alten Bibliotheken
möglich ist) an dieser Bibliothek vor, unterstützt durch Bilder aller Bücher und – was den zweiten Teil des Buches darstellt – einen möglichst vollständigen Katalog.
Grundsätzlich ist das überzeugend. Wer sich durch das Buch hindurcharbeitet, hat nachher einen Einblick in die gesamte Geschichte des Konvents und auch das Leben und Handeln der Schwestern, inklusive der Veränderungen, die sich in der Geschichte des Konvents ergaben. Aber was nicht überzeugt, ist die Behauptung, dass dies etwas Neues wäre, welche die Autoren kontinuierlich wiederholen. Bücher und Handschriften auch als Objekte zu untersuchen und dabei nicht nur auf den Inhalt einzugehen, sondern auch auf die Ikonographie, die Schrift, das Material, die Druck-, Schreib- und Maltechniken und die verschiedenen Nutzungsweisen zu thematisieren, ist heute ebenso etabliert, wie die Untersuchung von Mediensammlungen als Gesamtheit (also mit Fragen danach, was gesammelt wurde, wie es geordnet wurden und so weiter). Es wird nur selten so eingehend und tiefgreifend anhand einer spezifischen Sammlung gemacht, wie in diesem Buch (auch wenn es das, insbesondere für verstreute Sammlungen aus Konventen schon mehrfach gab). Es ist ein Buch, bei dem man sich nachher (wenn man es in die Bibliothek zurückgeschleppt hat), trotz allem Respekt für die Arbeit, die hier geleistet wurde, fragt, ob sie wirklich notwendig war. (ks)
Sharpe, Richard (2023). Libraries and Books in Medieval England. The Role of Libraries in a Changing Book Economy ; The Lyell Lectures for 2018–2019. Oxford: Bodleian Library Publishing, 2023. [gedruckt]
Richard Sharpe war Professor in Oxford mit einem Fokus auf mittelalterliche Bücher und Diplomatie. Er war auch eine treibende Kraft hinter der dritten (dann digitalen) Version der Bibliographie Medieval Libraries of Great Britain
(MLGB), die alle Bücher, bei denen sich das Vorhandensein in britischen Bibliotheken des Mittelalters nachweisen lässt, systematisch erfasst. Die Bibliographie ist eines der wichtigen Hilfsmittel für die mediävistische Forschung in Grossbritannien und in gewisser Weise eines dieser Werke, die von der übersichtlichen Community britischer Mediävist*innen gemeinsam erarbeitet, kritisiert und ergänzt wird. Das hier angezeigte Buch stellt nun eine leicht überarbeitete Reihe von Vorlesungen vor, die Sharpe am Ende der Arbeit an der neuen Ausgabe der MLGB gehalten hat. In gewisser Weise reflektiert er hier über die Grenzen dieser Bibliographie, aber auch über weitere Fragen zum Thema mittelalterliche Bibliotheken. Die Zielgruppe der Vorlesungen ist nicht benannt, aber man hat die gesamte Zeit den Eindruck, dass er sich vor allem an seine Fachkolleg*innen richtet. Nicht nur geht er teilweise tief in die eigentlichen Dokumente (Ex-Libris und handschriftliche Vermerke in Büchern selbst, Bibliothekskatalogen und andere Listen) hinein, um seine Thesen zu untermauern, wie dies in der Mediävistik normal ist. Er scheint auch implizit immer ein Wissen über die heutigen Bestände an mittelalterlichen Büchern in Oxford und Cambridge sowie grundsätzliches Wissen über die Geschichte Englands vorauszusetzen. Die ganze Zeit über erzeugt das Buch ein wenig den Eindruck, als sei man als Leser*in selbst in Oxford, fest angestellt und mit der Zeit ausgestattet, sich intensiv und tief in die dort vorhandenen Quellen versenken und an ihnen sehr spezifische Fragen bearbeiten zu können, während draussen der Herbst aufzieht und Tee getrunken wird. Insoweit ist es für Personen, die nicht aus der Mittelalterforschung kommen, teilweise schwer zu lesen – ein wenig wie Nachrichten aus einer leicht entrückten Welt. Gleichwohl: Es ist in gewisser Weise auch das Vermächtnis eines Forschers, der hier seinen Wissensschatz und grundsätzlichen Überlegungen zum Thema so ausbreitet, dass sie eine Basis für die weitere Entwicklung seiner Profession darstellen können. Denn unerwartet starb Sharpe Anfang 2020, also kurz nach dem Ende dieser Vorlesungsreihe, an einem Herzinfarkt. (Vergleiche den Nachruf auf ihn: Ramsay, Nigel (2020). Richard Sharpe obituary. In: The Guardian, 05.05.2023, https://www.theguardian.com/education/2020/may/05/richard-sharpe-obituary)
Was Sharpe in diesem Buch betont, ist, dass es weiterhin, auch in der Forschung selbst, ein zu statisches Bild von mittelalterlichen Bibliotheken gäbe. Zu diesem trüge auch die Bibliographie, die er ja mit betreute, selbst bei, weil sie zu sehr den Eindruck vermittelt, dass Bibliotheken praktisch immer nur wachsende Sammlungen gewesen wären. Er verkompliziert eine ganze Anzahl dieser Vorstellungen über mittelalterliche Bibliotheken. Bibliotheken wären, wie heute, keine Sammlungen gewesen, sondern es wäre in ihnen – wenn wir die heutige bibliothekarische Terminologie verwenden wollen – Bestandsmanagement betrieben worden. Bestände seien, je nach den Interessen und Entwicklungen von Klöstern, auf- und abgebaut sowie ausgetauscht worden. Die MLGB würde immer nur zeigen, dass ein Buch zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Bibliothek vorhanden gewesen wäre, aber nicht, wie lange. Zudem zeigt er, dass das Bild von Mönchen, die in Skriptorien Bücher kopieren, einerseits zu einfach ist und offenbar Schreiber ignoriert, die von aussen
kamen und durch die Klöster für spezifische Kopier- und Schreibarbeiten angestellt wurden sowie andererseits auch solche Fragen ausblendet wie die, wo die zu kopierenden Bücher und diese Schreiber, die man anstellen konnte, überhaupt hergekommen wären. Grundsätzlich postuliert er, (1) dass es auch schon vor dem Buchdruck in Grossbritannien einen existierenden Markt für die Produktion von Büchern gab, (2) dass an diesem nicht nur Klöster und Universitäten beteiligt waren sowie (3) dass Bibliotheken auch im Mittelalter eher lebende Organismen
waren und nicht immer nur wachsende Sammlungen. Dies alles gälte es in Zukunft zu beachten, wenn man über diese Bibliotheken nachdenken möchte. (ks)
Forrest Kelly, Thomas (2019). The Role of the Scroll: An Illustrated Introduction to Scrolls in the Middle Ages. New York ; London: W.W. Norton & Company, 2019. [gedruckt]
Kössinger, Norbert (2020). Schriftrollen: Untersuchungen zu deutschsprachigen und mittelniederländischen Rotuli. (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 148) Wiesbaden: Reichert Verlag, 2020. [gedruckt]
Die beiden hier gemeinsam angezeigten Bücher haben das gleiche Thema und kommen auch in vielem zu den gleichen Aussagen. Aber sie beziehen sich überhaupt nicht aufeinander – was eventuell damit zu erklären ist, dass das zweite Buch (Kössinger 2020) eine Habilitation darstellt, die schon 2014 verteidigt, aber erst 2020 publiziert wurde, während das erste Buch (Forrest Kelly 2019) in der Zeit dazwischen erschien.
Zuerst zum Buch von Forrest Kelley (2019). Von der Aufmachung und auch den Texten her scheint dieses Buch für die Auslage in Museumshops konzipiert worden zu sein: Geschrieben von einem etablierten Musikwissenschaftler, der inhaltlich auch im Thema steht, hat es trotzdem den Anschein eines Coffee Table Books. Gedruckt auf gutem, schwerem Papier, in vollen Farben, mit Abbildungen auf praktisch allen Druckseiten, die oft auch den ganzen verfügbaren Platz einer Seite einnehmen. Zudem ist der Text eher kurzweilig und ohne grossen wissenschaftlichen Apparat (also ohne viele Fussnoten und so weiter) geschrieben. Es ist ein schönes Buch, mit zahlreichen, ebenso schönen Abbildungen von Schriftrollen oder Details dieser Rollen. Durchgängig sind die Bilder zudem in umfangreichen Bildunterschriften kommentiert und werden so jeweils ohne den Haupttext kontextualisiert. Es ist in gewisser Weise ein Bilderbuch
über die im Titel genannten Schriftrollen aus dem (europäischen) Mittelalter. Oder anders gesagt: Das Buch kann man, positiv gemeint, als public science
beschreiben.
Gleichwohl hat der Autor eine These, die er auch gut nachvollziehbar erhärtet, und die für die Mediengeschichte relevant ist: Die Etablierung des Codex – also des Buches – im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung hat nicht dazu geführt, dass Menschen aufgehört hätten, Schriftrollen zu erstellen und zu nutzen. Es gab einen Medienwandel aber kein vollständiges Verschwinden der Schriftrollen. Vielmehr etablierten sich für Schriftrollen im Mittelalter spezifische Nutzungsweisen. Das gesamte Mittelalter über wurden Schriftrollen erstellt, gelesen und benutzt – und dabei hat sich offenbar auch das Wissen darüber, was Schriftrollen sind und wie sie produziert wurden, erhalten. Der Autor zeigt das, indem er fünf verschiedene Nutzungsformen von Schriftrollen (als Listen, als Karten und Zeitleisten, als Texte für Schauspieler*innen, als private religiöse Objekte sowie als Teil von Ritualen) durchgeht und zu diesen jeweils einige Beispiele detailliert darstellt. (Zuvor betont er, dass er sich auf Europa fokussiert, liefert aber dennoch einen Überblick zur Nutzung von Schriftrollen in anderen Kulturen.) Was er damit erreicht, und immer wieder selbst thematisiert, ist, die Vorstellung von einem Medienwandel, bei dem eine Medienform (Schriftrollen) vollständig durch eine andere (den Codex) ersetzt wird, als zu einfach zu kennzeichnen. Dies ist grundsätzlich keine neue Erkenntnis, aber hier an einem Beispiel exemplifiziert, dass sonst als prototypisch für solch einen Medienbruch
dargestellt wird – nämlich dem angeblichen Ende
der Schriftrollen durch die Etablierung des Buches. Aber selbst hier stimmt das einfache Bild nicht. Vielmehr war die Realität komplexer: Kodex und Schriftrollen existierten über Jahrhundert nebeneinander
.
Im zweiten hier besprochenen Buch (Kössinger 2020) geht es ebenfalls um Schriftrollen des europäischen Mittelalters (der Autor macht diesbezüglich ähnliche Einschränkungen seiner Untersuchungsobjekte und gibt ähnliche Hinweise dazu, dass Schriftrollen in anderen Kulturen anders verwendet wurden, wie Forrest Kelly). Der Fokus liegt aber auf deutsch- und niederländischsprachigen Rollen. Wie angedeutet, handelt es sich bei dem Buch um eine Dissertation. Dies ist ihm anzumerken, nicht nur, aber auch im textlastigen Layout. Abbildungen der untersuchten Rollen sind vorhanden, aber in einem gesonderten Bildteil am Ende des Buches sowie in einer Anzahl von Beilagen. In der Arbeit wird versucht, diese Schriftrollen – oder, wie im Titel zu lesen ist, Rotuli
– möglichst genau zu analysieren, vor allem mit den Methoden der Philologie. Aber der Autor liefert auch eine Begriffsgeschichte für Rotuli
sowie mehrere Typologien (zum Beispiel nach Inhalt oder Verwendungszweck). Zudem bemüht er grundsätzlich die Medientheorie, um am Ende eine eigene Medientheorie für mittelalterliche Schriftrollen zu skizzieren. Er versammelt und systematisiert weiterhin die heute existierenden Schriftrollen, die im Fokus seiner Arbeit stehen. Hauptteil der Arbeit ist die philologische Analyse ausgewählter Rollen, was heisst, dass diese formal und inhaltlich beschrieben werden und anschließend eine Edition (also eine Abschrift des Textes, inklusive Anmerkungen zu Varianten) sowie eine kritische Einordnung dieses Textes vorgenommen werden. Das ist alles sichtbar eine umfangreiche Arbeit gewesen, die in einer Habilitation notwendig ist – aber als Buch ist das alles recht schwer zu lesen, teilweise auch sehr disparat. Interessant ist das letzte, dann recht kurze Kapitel mit der Skizze einer Medientheorie von Rotuli: Hier betont auch Kössinger, dass der Medienwandel hin zum Codex nicht bedeutete, dass die Schriftrollen verschwanden, sondern vielmehr, dass sie neue, eigenständige Funktionen übernahmen. Er insistiert darauf, dass dies erreicht wurde, indem Rollen – im Gegensatz zum Codex, aber auch zu Schiefertafeln oder Steinen, auf denen Text angebracht wurde – praktisch unendlich verlängert werden konnten und damit ein anderes Schriftbild (mise en page) hervorbrachten, als es der Codex mit seinen fest definierten Seiten tat. Dies wurde dann zum Beispiel für Listen, liturgische Texte oder Theatertexte genutzt. Grundsätzlich liefert Kössinger tiefergehende Analysen einzelner Schriftrollen als Forrest Kelly und auch mehr Typologien. Aber in der Grundaussage stimmen beide überein. (ks)
Camarade, Hélène; Galmiche, Xavier ; Jurgenson, Luba (dir.) (2023). Samizdat: Publications clandestines et autoédition en Europe centrale et orientale (années 1950-1990). Paris: Nouveau Monde éditions, 2023. [gedruckt]
Samizdat ist der Sammelbegriff für Medien, die während des real existierenden Sozialismus
in den betreffenden Ländern, aber ausserhalb der offiziellen Kanäle, erstellt und verteilt wurden. Wie genau dies vonstatten ging, wer diese Medien erstellte und aus welchen Gründen, war sowohl zu verschiedenen Zeitpunkten als auch in den verschiedenen Ländern jeweils unterschiedlich. Beispielsweise wurden in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins 1953 mehr Samizdat-Publikationen produziert als zuvor und dann zur Zeit der Perestroika noch mehr. In der DDR wurden Spielräume der Kirchen ausgenutzt, deren Medien für den internen Gebrauch
von der Zensur ausgenommen waren – Spielräume, die es in anderen Ländern so nicht gab. In Polen dagegen war die Solidarność ein Katalysator für die Produktion und Verbreitung von Samizdat.
Das von Camarade, Galmiche und Jurgenson herausgegebene Buch liefert nun eine Übersicht über die verschiedenen Formen und Themen des Samizdat. Während dies bislang zumeist für einzelne Länder gemacht wurde, ist der Anspruch hier, eine internationale Sicht zu liefern. Gelöst wurde dieser Anspruch mit einer Sammlung von Beiträgen, die dann aber selbst meist doch auf einzelne Länder fokussieren. Die meisten Autor*innen des Buches sind Forschende an französischen Hochschulen, aber es sind auch Autor*innen aus den betreffenden Ländern vertreten. Leider sind die einzelnen Artikel recht kurz und oft nur erste Skizzen. Oft sind es wenig mehr als Aufzählungen von Samizdat-Publikationen aus jeweils einem Land. Erst in späteren Teilen des Buches geht es um inhaltliche Fragen (beispielsweise jüdischer Samizdat, christlicher Samizdat, Samizdat zu LGBTQ-Themen) sowie in einem Text auch um technische Fragen der Samizdat-Produktion (Galmiche, Xavier: Fabrication et économie du samizdat. In: ebenda, S. 195–202.). Eine kleine Zahl von Texten geht auch auf Tamizdat
(im Ausland erschienene Literatur aus diesen Ländern, die oft wieder in das betreffende Land eingeschmuggelt oder dort reproduziert wurde) und Magnitizdat
(Publikationen auf Tonband und Kassetten) ein. Eine wirkliche Übersicht, welche über ein Land hinausgeht und dabei auch Besonderheiten des Samizdat thematisiert, beispielsweise dass diese nur zum Teil überliefert ist, da sie ja oft gerade unter der Hand
verteilt wurde, liefert nur die Einleitung (Camarade, Hélène ; Galmiche, Xavier ; Jurgenson, Luba: Introduction: Penser le samizdat. Définitions, histoires, perspectives. In: ebenda, S. 9–27). Inhaltlich ist diese Einleitung der dichteste Text des Werkes.
Verstreut finden sich im Buch Vorstellungen von Sammlungen von Samizdat, beispielsweise der Sammlung der Robert-Havemann-Gesellschaft (Berlin) oder dem Archiv Bürgerbewegung Leipzig. Das wird für weitergehende Forschungen hilfreich sein. Zwei Artikel stellen zudem kurz Digitalisierungsprojekte von Samizdat vor. Alles in allem ist das Buch eine Einführung in das Thema, das auch versucht, die verschiedenen internationalen Stände der Forschung zu referenzieren. Eine übergreifende Studie zum Samizdat ist es allerdings nicht. (ks)
Adams, Robyn ; Glomski, Jacqueline (edit.) (2023). Seventeenth-Century Libraries: Problems and Perspectives. (Library of the Written Word, 114 ; The Handpress World, 92). Leiden ; London: Brill, 2023. [gedruckt]
In ihrem Vorwort behaupten die Herausgeber*innen dieses Buches, dass die (europäischen) Bibliotheken des 17. Jahrhunderts – also im Jahrhundert nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern – die Grundlagen für die heutigen Bibliotheken gelegt hätten. Sie würden aber von der Forschung trotz dieser Bedeutung nicht gebührend beachtet. Das Buch soll einen ersten Schritt dahin machen. Aber dieser Anspruch wird nicht eingelöst: Auch dieses Werk besteht aus einzelnen Beiträgen, die einigermassen unvermittelt nebeneinander stehen und nur dadurch zusammengehalten werden, dass sie sich mit Bibliotheken oder Buchsammlungen des genannten Jahrhunderts befassen. Dabei sind die einzelnen Artikel nicht zu kritisieren: Sie nähern sich alle historisch einzelnen Fragen oder Objekten und untersuchen diese zumeist auf der Basis der Buchgeschichte, teilweise bis hinein in kleinste Details. Aber diese Fragen sind oft sehr spezifisch: In Richard Fosters Beitrag geht es zum Beispiel um die Klassifikationen und Aufstellungssystematiken von Universitätsbibliotheken in England, die sich aus vorhandenen Katalogen erschliessen lassen; Robyn Adams beschäftigt sich mit dem Netzwerk, welches Thomas Bodley aufbaute, um die von ihm gestiftet Bibliotheken in Oxford langfristig abzusichern und Francesca Galligan untersucht Reisebibliotheken, die für Adlige hergestellt wurden. Eine Anzahl von Autor*innen macht sich auch Gedanken dazu, welche Forschungen durch die Digitalisierung möglich wurden (wobei diese Überlegungen nicht wirklich darüber hinausgehen, dass der Zugang zu digitalisierten Quellen möglich geworden ist). Das Buch liest sich eher wie die Schwerpunktnummer einer Zeitschrift, nicht wie ein in sich abgeschlossenes Werk, das die Grundthese der Herausgeber*innen untermauern würde. (ks)
4. Social Media
[Diesmal keine Beiträge.]
5. Konferenzen, Konferenzberichte
[Diesmal keine Beiträge.]
6. Populäre Medien (Zeitungen, Radio, TV etc.)
ADN: Bücher sichergestellt. In: Berliner Zeitung, 10/11.07.1993, S. 17
Im Juli 1993 wurden in einem Berliner Trödelladen
anhand von Kennzeichnungen in den Exemplaren, aus der Amerika-Gedenkbibliothek gestohlene Bücher durch einen Nutzer der Bibliothek und offenbar auch des Geschäfts entdeckt. (bk)
dpa: Bibliotheken für starke Förderung der Demokratie. In: Kölnische Rundschau, 01.11.2023, S. 8 / Kultur
Der Deutsche Bibliotheksverbund (dbv) positioniert sich eindeutig zur von der Bundesregierung geplanten Kürzung der Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung. Damit würde ein zentrales Instrument der Demokratieförderung in Deutschland erheblich geschwächt. Geplant ist ein Einkürzen der Mittel von 96 Millionen Euro im Jahr auf 76 Millionen. Die Entscheidung im Bundestag ist für den Dezember 2023 geplant. (bk)
Bain, Mark (2023). Central Library at 135: It’s more than books… it’s about the people of Belfast
. In: Belfast Telegraph, 13. Oktober 2023, https://m.belfasttelegraph.co.uk/life/books/central-library-at-135-its-more-than-books-its-about-the-people-of-belfast/a924956978.html
Die Eröffnung der Zentralbibliothek in Belfast, Nordirland vor genau 135 Jahren nimmt dieser Artikel zum Anlass, kurz die Geschichte und heutige Bedeutung der Bibliothek darzustellen. Erstaunlich ist tatsächlich, dass sich die Bibliothek weiterhin in dem Gebäude befindet, das damals für sie gebaut wurde. Grundsätzlich stellt der Text die Bibliothek sehr positiv, als wichtige Einrichtung für die Bevölkerung der Stadt dar (die allgemeinen Probleme britischer Public Libraries werden nicht angesprochen, vielleicht weil es ein Jubiläum ist, das positiv begangen werden soll). Der Text skizziert auch die Geschichte der Bibliothek in den letzten 135 Jahren, wobei der Fokus auf der Gründung und den beiden Weltkriegen liegt, während die Troubles nur in einem Nebensatz erwähnt werden. Angereichert ist der Text mit zahlreichen Bildern aus der Bibliothek selber, vor allem aus den 1960er Jahren. (ks)
AP: Alabama library mistakenly adds children’s book to explicit
list because of author’s name. In: AP News. 10. Oktober 2023 https://apnews.com/article/alabama-childrens-book-banned-f5179e7fb9c523b84e901453e07cfb5d
In der Huntsville-Madison County Public Library wurde das Buch Read Me a Story, Stella
der Autorin Marie-Louise Gay als anstößig beanstandet und auf eine Liste nicht erwünschter Kinderbücher gesetzt. Grund war, wie die Bibliotheksleiterin Cindy Hewitt erklärte, der Nachname der Autorin, der ihr Kinderbuch in einem proaktiven
Bestandsscreening zu einem von 223 Titeln machte, die als potentiell für Kinder ungeeignet eingeschätzt wurden. (bk)
Deutschlandfunk Kultur: Russische Bücher aus Universitätsbibliothek in Warschau gestohlen. In: Deutschlandfunk Kultur. 02.11.2023 https://www.deutschlandfunkkultur.de/russische-buecher-aus-universitaetsbibliothek-in-warschau-gestohlen-104.html
mg/gp: Z Biblioteki Uniwersytetu Warszawskiego zginęły cenne woluminy. Rektor poinformował o zwolnieniu dyrektorki. In: TVN Waszawa. 31.10.2023 https://tvn24.pl/tvnwarszawa/srodmiescie/warszawa-kradziez-w-bibliotece-uniwersytetu-warszawskiego-zwolniona-dyrektorka-placowki-decyzje-rektora-oswiadczenie-zwolnionej-kobiety-7417559
Odessa Journal: Around 80 Russian books from the 19th century were stolen from Warsaw University’s library. In: Odessa Journal. 02.11.2023 https://odessa-journal.com/around-80-russian-books-from-the-19th-century-were-stolen-from-warsaw-universitys-library
Aus der Universitätsbibliothek in Warschau wird ein großer Bibliotheksdiebstahl gemeldet. Betroffen sind bis zu 80 russische Bücher aus dem 19. Jahrhundert, die durch Dummies ersetzt und entwendet wurden. Ein ähnliches Vorgehen wurde anscheinend zuvor bereits in der Lettischen Nationalbibliothek festgestellt. Die Diebstähle erfolgten offenbar auf Bestellung. Die betroffenen Bücher wurden gezielt aus dem Magazin angefordert. Als Folge des Vorgangs verlor die Direktorin des Hauses, Anna Wołodko, ihre Stelle. Auch eine geplante öffentliche Aufstellung älterer Titel im allgemeinen Lesesaal wurde zurückgenommen. (bk)
Frank Bachner: 22 Fälle in Tempelhof-Schöneberg: Berliner Publizist wegen Buchzerstörungen und rechter Schmierereien angeklagt. In: TAGESSPIEGEL / tagesspiegel.de, 01.11.2023. https://www.tagesspiegel.de/berlin/22-falle-in-tempelhof-schoneberg-berliner-publizist-wegen-buchzerstorungen-und-rechter-schmierereien-angeklagt-10713955.html?bezuggrd=CHP&utm_source=cp-vollversion
In Berlin erhebt die Staatsanwalt Anklage gegen einen 32-jährigen Mann, der in der Zentralbibliothek Tempelhof-Schöneberg 22 Bücher zerstört und unter anderem mit Schriftzügen, die den russisches Angriffskrieg gegen die Ukraine gutheißen, beschmiert haben soll. Weiterhin soll er in und an der Bibliothek Schriftzüge mit rechtskonservativen Provokationen hinterlassen haben. Wenn er keine Bücher zerstöre, publiziere er Schriften zum Thema Kaisertum und Monarchie
, so der TAGESSPIEGEL. (bk)
Marcel Hilbert: Unendlich traurig und wütend
. Büchertresor unter der Platane schon wieder Ziel blinder Zerstörungswut. In: Ostthüringer Zeitung, 01.11.2023, Seite 13
Im thüringischen Gera wurde zum wiederholten Mal ein vor der Stadt- und Regionalbibliothek aufgestellter offener Bücherschrank zerstört, dieses Mal durch Brandstiftung. (bk)
mio: Unbekannte zertrümmern Scheiben von Bücher-Box. In: Nordkurier, 04.10.2023, S. 11
Auch in Neubrandenburg wurden zwei öffentliche Bücherschränke beschädigt. In einem Fall wurden Scheiben einer entsprechend umgewidmeten Telefonzelle eingeschlagen. In einem zweiten Fall wurden Bücher angezündet. (bk)
Sead Fadilpašić: Even public libraries aren’t safe from ransomware, as Canada’s biggest is hit. In: Techradar, 02.11.2023. https://www.msn.com/en-us/money/other/even-public-libraries-arent-safe-from-ransomware-as-canadas-biggest-is-hit/ar-AA1jhWu5
Die Toronto Public Library wurde im Oktober 2023 Opfer einer Ransomware-Attacke. In der Folge konnten die Website, Nutzer*innenaccounts und die digitalen Sammlungen nicht mehr aufgerufen werden. Andere, externe, digitale Dienste wie Overdrive, Kanopy oder BiblioBoard blieben nutzbar und wurden entsprechend auf einer temporären Webseite verlinkt. (bk)
Ella Creamer: Most libraries to provide warm banks
again this winter. In: The Guardian. 17.10.2023 https://www.theguardian.com/books/2023/oct/17/most-libraries-to-provide-warm-banks-again-this-winter
Auch in diesem Jahr bieten sehr viele (93 %) der öffentlichen Bibliotheken in England, Wales und Nordirland beheizte Räume für einen Aufenthalt, also de facto Wärmestuben, an. Es ist eine Fortsetzung der 2022 initiierten Warm Hubs
-Initiative, die in Folge von Energiepreissteigerungen und generell steigenden Lebenshaltungskosten eingeführt wurde. Ein Großteil (79 %) erwartet einen steigenden Bedarf. Viele Bibliotheken planen, das Aufwärmangebot mit weiteren Aktivitäten wie Spielesessions, Yoga, und Handwerksclubs sowie Schulungen zu Themen wie Haushaltsplanung zu verbinden. (bk)
7. Abschlussarbeiten
[Diesmal keine Beiträge.]
8. Weitere Medien
Canadian School Libraries (2023). CSL Statement: Book Challenges and Censorship in Canada’s School Libraries. https://www.canadianschoollibraries.ca/wp-content/uploads/2023/05/CSLstatement_BookChallenges_Censorship_May2023.pdf
Diese offizielle Stellungnahme der professionellen Organisation der kanadischen Schulbibliotheken gegen Versuche, Bücher aus den Schulbibliotheken entfernen zu lassen, ist deshalb interessant, weil sie sich nicht auf allgemeine Aussagen beschränkt. Stattdessen zeigt das Statement, dass sich bei diesen Versuchen (a) um organisierte Kampagnen handelt (es werden von Gruppen Listen von Büchern erstellt, die challenged
werden sollen sollen und dann en masse Beschwerden geschrieben), und (b) dass es sich bei den Gründen, die für diese Beschwerden angegebenen werden praktisch immer um vorgeschobene Gründe handelt. Grundsätzlich gehe es den aktiven Gruppen darum, Bücher mit LGTBQI+-Inhalten zu entfernen, egal, wie sie dies begründen.
Demgegenüber betont das Statement, dass Schulbibliotheken für alle Schüler*innen zugänglich sind und für die Interessen aller Schüler*innen Medien anbieten müssen. Es verweist auf spezifisch kanadische Gesetze und richterliche Entscheidungen, die dies bekräftigen. Aber, und das ist ebenso wichtig, dann erheben sie die Forderung, dass in professionelles Schulbibliothekspersonal investiert werden muss, das die Ausbildung und Durchhaltekraft hat, bei allen diesen Beschwerden auf die professionellen, an grundsätzlichen Kriterien orientierten und transparenten Entscheidungswege zu insistieren – und so die Schulbibliotheken gegen die politischen Kampagnen zu schützen. [Vergleiche dazu auch die ergänzende Stellungnahme des kanadischen Verlegers James Saunders (Saunders, James (2023). Making the Case for Professionalism to Take on Book Challenges. In: Canadian School Libraries Journal 7 (2023) 2, https://journal.canadianschoollibraries.ca/making-the-case-for-professionalism-to-take-on-book-challenges/) sowie weitere Artikel in der gleichen Ausgabe der genannten Zeitschrift (https://journal.canadianschoollibraries.ca/category/vol-7-no-2-spring-2023/).] (ks)