Der vorliegende Beitrag geht auf eine im Jahr 2021 entstandene Abschlussarbeit am Berliner Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft zurück. In dieser unternahm der Verfasser den Versuch, die bibliothekarische Organisationsentwicklung vor dem Hintergrund der soziologischen Systemtheorie zu modellieren.1 In der Abschlussarbeit wurden auch systemtheoretische Grundbegriffe eingeführt und die Frage erörtert, ob und inwiefern der Gegenstand Bibliothek überhaupt als System konzipiert werden kann – eine Frage, die kaum befriedigend beantwortet werden konnte. Erst im Laufe der Untersuchungen entstand die Idee für eine womöglich kontraintuitiv wirkende These, der im Folgenden – ohne die strenge Form einer Qualifikationsschrift – etwas ausführlicher nachgegangen werden soll. Wenn man den Gegenstand Bibliothek aus systemtheoretischer Perspektive behandelt, liegt die Frage nahe, zu welchem der großen gesellschaftlichen Funktionssysteme die Bibliothek gehört. Die Antwort, so die Hypothese, lautet: Bibliotheken gehören zum Wirtschaftssystem der Gesellschaft.
Bibliotheken als Teil des Wirtschaftssystems
Ausgerechnet zum Wirtschaftssystem? Die These muss Widerspruch erregen. Bibliotheken verstehen sich doch gerade als Gegenpol zum Wirtschaftlichen, stehen ein für Offenheit und Teilhabe. Ein Buch auszuleihen heißt ja gerade, das Buch nicht zu kaufen und Open Access kann man durchaus als Gegenprogramm zum Informationskapitalismus verstehen. In den Verhandlungen mit den großen Wissenschaftsverlagen stehen die Bibliotheken für die freie Verteilung informationeller Güter. Der Beitrag muss daher zwei Teile bedienen: Erstens muss die These kontextualisiert und plausibilisiert werden. Zweitens muss sie im Anschluss diskutiert werden, das heißt, es können einige Konsequenzen ausbuchstabiert werden, die aus der Betrachtung von Bibliotheken als Teil des Wirtschaftsgeschehens folgen.
Eine grundlegende soziologische und genauer systemtheoretische Beschreibung des Bibliothekswesens stand nach einen kleinen Konjunktur in den 1970er Jahren2 lange nicht auf der Tagesordnung.3 Stellt die Bibliothekswissenschaft die praktischen und speziellen Aspekte bibliothekarischer Arbeit einmal zugunsten eines großen Ganzen in den Hintergrund, so geschieht dies meist eher unter dem Stichwort politischer Teilhabe.4 In den vergangenen Jahren scheint sich indessen das bibliothekswissenschaftliche Interesse für die Soziologie wieder zu mehren.5 Auch wenn es vielleicht zu früh wäre, von einer Renaissance der soziologischen Bibliothekswissenschaft zu sprechen, fällt der abstraktere, nüchterne Bezug auf die gesellschaftliche Dimension der Bibliotheken auf. Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese neue Konjunktur mit einer in letzter Zeit immer wieder attestierten Krise zusammenfällt.
Die These, dass es instruktiv ist, Bibliotheken als Teil des Wirtschaftssystems zu betrachten und ihre Funktionsweise und ihr strategisches Potenzial am Vorbild der Wirtschaft zu verstehen, ist nur vor dem Hintergrund einer systemtheoretischen Perspektive verständlich. Damit ist die soziologische Systemtheorie des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) gemeint. Der vorliegende Beitrag versucht aber weder, eine Einführung in die Theorie zu geben, noch setzt er deren Kenntnis voraus. Für eine Einführung und weiterführende Literaturhinweise sei auf die Abschlussarbeit verwiesen.6
Eine systemtheoretische Perspektive
Niklas Luhmann versteht die moderne Gesellschaft als eine
Verflechtung unterschiedlicher, ja, inkommensurabler Systemperspektiven.
Es ist insofern naheliegend, zu fragen, wohin
Bibliothek im
Schema der Systemtheorie gehört
: In welches von Luhmann
beschriebene System passt sie? Oder handelt es sich sogar um ein völlig
eigenständiges System, dessen Beschreibung noch aussteht?
Als soziale Organisation ist Bibliothek sicherlich ein System
.
Der Begriff System ist jedoch für sich genommen noch zu unspezifisch,
als dass er systemtheoretisch fruchtbar gemacht werden könnte.
Typischerweise fragen Systemtheoretiker:innen nach den so genannten
Funktionssystemen der Gesellschaft. Als Funktionssysteme
beschreibt Luhmann die großen Bereiche, deren Logik die gesamte
Gesellschaft durchziehen – das sind Wirtschaft, Wissenschaft, Recht,
Kunst, Politik, Religion und Erziehung (jedenfalls sind das die
Funktionssysteme, die Luhmann jeweils monografisch beschrieben hat).
Jedes Funktionssystem bearbeitet genau eine Funktion und stellt sie für
die gesamtgesellschaftliche Kommunikation bereit. Beispielsweise erzeugt
das Wissenschaftssystem die Möglichkeit, sich auf Wahrheiten zu
beziehen, das Wirtschaftssystem bearbeitet die Frage, wie knappe Güter
verteilt werden können und das Rechtssystem ermöglicht es, normativ zu
erwarten (also auch dann noch zu erwarten, wenn die Erwartung enttäuscht
wird).
Da fast alle Bücher Luhmanns einzelne Funktionssysteme thematisieren,
scheint es nahe zu liegen, eine systemtheoretische
Beschreibung
gleichzusetzen mit einer Beschreibung als Funktionssystem. Zumindest für
Bibliotheken wäre das aber ein Kurzschluss: Zwar sind Bibliotheken
durchaus Systeme. Sie sind jedoch aus einer ganzen Reihe von Gründen
keine eigenlogisch operierenden Funktionssysteme.7 Die
Frage bleibt also: Was ist
Bibliothek aus systemtheoretischer
Sicht? Die Antwort ist gar nicht einfach zu formulieren. In der
Abschlussarbeit wurde jedenfalls keine rundum überzeugende Antwort
gefunden.
Nimmt man an, dass Bibliotheken dann, wenn sie schon keine eigenen
Funktionssysteme sind, doch vielleicht zu einem der großen
Funktionssysteme gehören
, so bleibt unklar, zu welchem. Zur
Wissenschaft? Diese Sichtweise ist in Wissenschaftlichen Bibliotheken
wohl verbreitet, lässt sich aber nicht überzeugend begründen. Zum
Erziehungssystem? Jedenfalls kann man in Bibliotheken viel lernen und
die Wissenschaftlichen Bibliotheken gehören auch größtenteils
organisatorisch zu den Universitäten. Aber was wäre dann mit den
Öffentlichen Bibliotheken? Handelt es sich bei ihnen nicht eher um
Einrichtungen für politische Teilhabe? Auch hier gibt es keine
einfache Antwort.8 Im Folgenden soll also die Hypothese
angenommen werden, dass Bibliotheken zum Wirtschaftssystem der
Gesellschaft gehören. Sie ist sicher nicht vollständig zu überprüfen und
es mag eine Reihe von Gründen geben, sie abzulehnen. Dennoch lassen sich
aus ihr einige instruktive Hinweise für die Bibliothekswissenschaft
ziehen.
Rolle im Wirtschaftssystem
Was bedeutet es, Bibliotheken als Teil
des Wirtschaftssystems
zu verstehen? Zunächst bedeutet es nicht, dass es in der Gesellschaft
eine Art Schublade Wirtschaft
gibt, in der die Bibliothek liegt.
Dass Bibliotheken zum Funktionssystem Wirtschaft gehören
, meint
vielmehr, dass sie nach einer für dieses System spezifischen Logik
operieren und ein bestimmtes Bezugsproblem bearbeiten. Dieses Problem
ist die Verteilung knapper Güter.9
Knapp ist beispielsweise Mehl: Jeder Zugriff auf Mehl verringert die
Menge des noch verfügbaren Mehls, steigert also die Knappheit; zugleich
ist Knappheit ein wesentlicher Grund für den Zugriff auf das Mehl, denn
gerade seine Knappheit erzeugt den Wunsch, sich damit zu bevorraten, was
die Knappheit weiter steigert. Diese Paradoxie und die kommunikativen
Mechanismen ihrer Bearbeitung sind das Bezugsproblem, das laut Luhmann
zur Ausdifferenzierung eines eigenlogisch operierenden
Wirtschaftssystems geführt hat. Auch Informationen waren in der
Wirtschaft, wie wir sie bis vor wenigen Jahren kannten, prinzipiell
knappe Güter. Ihre Träger waren Bücher, die aufwändig produziert,
gedruckt und distribuiert werden mussten, die vergriffen sein konnten
und die entsprechend ihren Preis hatten.
Ein weiteres essentielles Merkmal des Wirtschaftssystems nach Luhmann sind Zahlungen; sie leiten sämtliche Operationen im Sinne einer Leitunterscheidung an. Wäre es aber nicht zu kurz gegriffen, Bibliotheken auf Knappheit und Zahlungen zu reduzieren? Der Leihverkehr ist doch eigentlich ein Gegenentwurf zur Wirtschaft und kommt, sieht man einmal von etwaigen Mahngebühren ab, komplett zahlungsfrei aus?
Es ist gerade spezifisch für einen soziologischen Blick auf
die Dinge, eine Distanz einzunehmen, aus der heraus auf den ersten Blick
sehr ungleiche Dinge im Hinblick auf ihre Funktion vergleichbar werden.
Denn natürlich leisten Bibliotheken permanent Zahlungen. Als eine Art
Zwischenglied zwischen Verlagen und Benutzer:innen kaufen sie Verlagen
Bücher ab und stellen sie für die Benutzung bereit. So betrachtet,
scheint die Hypothese, dass es sich bei Bibliotheken im Wesentlichen um
wirtschaftliche Einrichtungen handelt, gar nicht mehr so
abwegig. Die weiteren Angebote und Leistungen der Bibliotheken kann man
als Infrastrukturen beschreiben, die diese Kernoperation vermitteln: Die
gekauften Ressourcen werden dann nicht nur für die Benutzung beschafft,
sondern beispielsweise auch erschlossen, es werden Räume angeboten, in
denen die Nutzung stattfinden kann, und es finden allerlei logistische
Zusatzanstrengungen statt, die den ganzen Ablauf überhaupt ermöglichen.
Zugleich haben die Bibliotheken um die Medienbenutzung herum ein
umfassendes Beratungsangebot aufgebaut. Dies ist allerdings nicht
spezifisch für Bibliotheken. Auch ein Supermarkt macht
beispielsweise sehr viel mehr, als nur Geld an der Kasse einzusammeln.
Das Sortiment muss kuratiert, die Waren bestellt, Lieferabläufe
koordiniert, Regale eingeräumt werden, um nur einige Parallelen zu
nennen.
Man kann festhalten: Bibliotheken organisieren die, nach Luhmann, Leitunterscheidung des Wirtschaftssystems von haben und nicht haben für einen spezifischen Bereich – Informationen – und auf spezifische Weise, nämlich so, dass die Benutzer:innen, die deshalb auch meist nicht Kund:innen heißen, dafür nicht direkt zahlen.
Warum soll so eine Umschreibung (außer, dass sie soziologisch ist) interessant sein? Nicht so sehr deshalb, weil sie Einblick in die wahre Natur der Bibliotheken böte. Dafür wäre die Argumentation auch viel zu kurz und zu wenig historisch. Interessant ist diese Perspektive vielmehr deshalb, weil sie ein neues Licht auf einige Konsequenzen wirft. Die Frage, welche Funktion die Bibliotheken in Zukunft (noch) erfüllen können oder sollen, bekommt durch sie eine neue Form und einen neuen Beantwortungshorizont.
Transformation und Funktionskrise
So kursorisch nun die systemtheoretische Hypothese entwickelt wurde, so knapp sollen im Folgenden einige dieser Konsequenzen besprochen werden, und zwar zunächst nur für die Wissenschaftlichen Bibliotheken. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass es im Zuge der von manchen so genannten digitalen Transformation der Gesellschaft seit einiger Zeit zu massiven Transformationen des Bezugsproblems der Knappheit an informationellen Gütern kommt.10 Diese Transformationen führen die Bibliotheken in eine Funktionskrise, also in eine Unklarheit darüber, ob die bisherige Funktion der Bibliotheken für zukünftige Gesellschaft noch angemessen sein kann. Die Auswirkungen dieser Krise kündigen sich bereits seit einigen Jahrzehnten beispielsweise in den ungebrochenen Beschwörungen einer goldenen Bibliothekszukunft11 oder im grassierenden Neuerfindungs- und Reformgeist12 an. Die Situation, die nun Funktionskrise genannt wurde, bildet das Bezugsproblem für die nun folgende Diskussion einiger Konsequenzen aus dem Angebot, Bibliotheken als Einrichtungen zu verstehen, die einer letztlich wirtschaftlichen Funktion dienen.
Was also ändert sich in der Umwelt der Bibliotheken? Zum einen scheint mit den so genannten Schattenbibliotheken eine Situation entstanden zu sein, in der ein Zugriff auf die Güter keine Zunahme von Knappheit mehr zur Folge hat. Die Auswirkungen spüren vor allem die Verlage. Zugleich eröffnen neue Kommunikationskanäle im Internet und in den sozialen Netzwerken Wissenschaftler:innen die Möglichkeit, gleichsam an den Verlagen vorbei, also knappheitsfrei zu publizieren. Für die Suche nach Informationen entstehen ebenfalls funktionale Äquivalente: Wollte man früher wissen, wer beispielsweise die Hauptrolle in einem bestimmten Film gespielt hat, musste man dafür in der Regel eine Bibliothek aufsuchen. Mit der Möglichkeit, beliebige Informationen schneller und vollständiger zu finden, als es zuvor je möglich war, bleibt den Bibliotheken nur noch der argumentative Rückzugsort einer besseren Informationsqualität – was sicher heute auch noch weitgehend stimmt. Dennoch mag man sich fragen, ob sich damit das Funktionsmonopol, das Bibliotheken über Jahrtausende hatten, auch in Zukunft wird halten lassen. Die systemtheoretische Perspektive verdeutlicht: In dem Maße, in dem die digitalen Transformationen die Knappheit informationeller Güter selbst betreffen, betreffen sie unmittelbar auch die Funktionskrise der Bibliotheken.
Doch die systemtheoretische Perspektive macht die Funktionskrise nicht nur verständlich. Sie eignet sich auch für die Suche nach Lösungsansätzen. So liegt eine Umstellung der Strategien der Bibliotheken nahe. Die großen Wissenschaftlichen Bibliotheken haben sich längst in eine Richtung bewegt, in der immer weniger Geld für physische Bücher und immer mehr Geld für Lizenzierungen fließt. Dieser neuere Ansatz bleibt, zumindest im Sinne der systemtheoretischen Analyse, der Funktion der Verteilung treu, dies aber unter völlig neuartigen Umständen der Benutzung. Wie groß die Unterschiede sind, zeigt sich schon darin, dass es meist kaum mehr möglich ist, die riesigen Ressourcenpakete inhaltlich zu erschließen. Diese ehemalige bibliothekarische Kernkompetenz wird inzwischen häufig den Verlagen überlassen.
Reputation als knappes Gut
Die Wirtschaftsperspektive legt nun eine Frage nahe, die bisher eigentlich nicht auf dem bibliothekarischen Radar vorkam, nämlich, welche alternativen Knappheiten als mögliche neue Betätigungsfelder in Frage kommen. Während die informationellen Güter unter digital vernetzten Bedingungen weniger knapp werden, wird Aufmerksamkeit dadurch automatisch zu einem neuen knappen Gut. Das ist ein Gemeinplatz, der aber für die Bibliotheken interessant werden kann. Zumal in den Wissenschaften häufig mit Aufmerksamkeit auch Reputation verbunden wird.
Die Bibliotheken könnten sich nun etwa überlegen, ob sie nicht auf dem dynamischen Markt für Aufmerksamkeit und wissenschaftliche Reputation viel stärker als früher mitspielen wollen. Das wäre zumindest ein sinnvolles Komplement zum Engagement für Open Access. Die DEAL-Verhandlungen beispielsweise belassen die Funktion der Reputation klassisch den Verlagen und sichern nur den freien Zugang zu den Ressourcen. Universitätsverlage und Repositorien sind für renommierte Wissenschaftler:innen aber nur bedingt attraktiv, wenn sie keine Antwort auf die Frage nach der Reputation finden können. Auch bleibt das revolutionäre Potential von Ideen wie Open Access doch sehr begrenzt, wenn eigentlich die Zahlungen nur an eine andere Stelle verschoben werden.
Die Verlage bekommen ihr Geld wie vorher (bloß nicht mehr von den Bibliotheken im Tausch gegen Bücher, sondern von den Bibliotheken als Publikationsgebühr) und alle können die Publikationen lesen. Würden Bibliotheken dagegen die Verteilung des knappen Guts Reputation als ihre Funktion sehen, könnte man Formate entwickeln, in denen die Resultate öffentlich finanzierter Forschung – und zwar Wissen und Reputation – tatsächlich auch öffentlich verteilt werden.
Das betrifft nicht nur die Produktion von Publikationen, sondern ebenso die Infrastruktur der Wissenschaftskommunikation. Wissenschaftler:innen kommunizieren seit jeher durch ihre Schriften, seit dem 19. Jahrhundert vornehmlich in wissenschaftlichen Zeitschriften, deren Reputation unter anderem dadurch garantiert wird, dass die Wissenschaftler:innen sie selbst herausgeben. In diesem Ökosystem spielen Bibliotheken eine nicht wegzudenkende Rolle.
Wenn heute ein nicht geringer Teil der Kommunikation über Mastodon
(oder noch über Twitter) stattfindet, so muss diese Veränderung auch für
die Bibliotheken eine Umstellung bedeuten. Das Projekt perma.cc
des Harvard Library Innovation Lab ist dafür ein mustergültiges
Beispiel:13 Die faktisch auf Twitter
stattfindende Wissenschaftskommunikation wird archivier- und
referenzierbar gemacht und so wieder zum normalen
Teil der
Wissenschaft. Zeitgemäße Informationsinfrastrukturen könnten heute über
den superschnellen Lieferverkehr auf dem Campus und Scanaufträge
hinausgehen und etwa digitale Plattformen für die gemeinsame Erzeugung
wissenschaftlichen Wissens umfassen.
Das wäre, systemtheoretisch betrachtet, kein bibliothekarisches
Neuland, sondern einfach eine zeitgemäße Ausprägung des hergebrachten
Funktionsbezugs des Bibliothekswesens. Zeitgemäße Bibliotheken könnten
so ihren Markenkern
selbstbewusst und stringent definieren,
anstatt sich als eklektische Portfolios aus allen möglichen Angeboten
und Dienstleistungen zu präsentieren.
Erweiterung des Begriffs Informationskompetenz
Auch User Interfaces und überhaupt die digitale Repräsentation kognitiver Inhalte erscheinen damit im Zuständigkeitsbereich der Bibliotheken. Die Einrichtung von Text war lange Zeit ein wirtschaftlich organisierter Prozess. Wie Text auf der Seite gesetzt wird, ist weit mehr als ein pragmatisches und auch weit mehr als ein ästhetisches Detail.
Typografie hatte immer schon eine kognitive, erkenntnisermöglichende
Funktion und es waren die Verlage, die sich die Expert:innen leisteten,
die wussten, wie man die Bücher als perfekte Lesemaschinen
einrichtet.14 In dem Maße aber, in dem Texte
direkt auf dem Computer entstehen, machen immer mehr Verlage die
Autor:innen selbst zu Schriftsetzer:innen. Das Resultat: Bücher, die
aussehen wie ein Word-Dokument. Oder die Texte werden gleich ganz ohne
Verlag veröffentlicht; oft fehlt dabei das Bewusstsein, was es
eigentlich heißt, einen Text einzurichten, weil es nämlich nirgends
unterrichtet wird. Wenn Bibliotheken die Knappheit, die sie
organisieren, nicht nur in den Texten selbst sehen würden, sondern etwa
auch in der Kompetenz ihrer ergonomischen Einrichtung (also in ihrer
Benutzbarkeit), würden sie eine ganz neue Expertise hinzugewinnen. Das
wäre gleichsam die andere Seite der Informationskompetenz, Kompetenz
nämlich nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die Verbreitung
von Informationen. Dies wäre dann aber keine Neuerfindung und auch kein
Nebenschauplatz, sondern dieselbe Funktion, der sie sich immer schon
widmen: Die Verteilung von knappen Gütern im Bereich der
(wissenschaftlichen) Information.
Knappheit
und
Bibliotheken
Dies sind nur einige der Möglichkeiten, die sich zeigen, wenn man das
Bezugsproblem bibliothekarischer Arbeit systemtheoretisch als Knappheit
versteht. Als Beitrag zum Themenheft Soziologie der Bibliothek
wurde damit ein Aspekt angerissen, der dazu anregen sollte, neue
Perspektiven auf einen alten Gegenstand auszuprobieren. Wer es lieber
soziologisch-systemtheoretisch präziser und belegter mag, der sei erneut
auf die online zugängliche Abschlussarbeit verwiesen. Dieser Beitrag ist
weniger eine Zusammenfassung der Arbeit als der Versuch, einen
speziellen Aspekt weiterzudenken und damit einen Beitrag zum Nachdenken
über die Zukünfte bibliothekarischer Funktion zu leisten.
Mirco Limpinsel-Pesavento ist Literaturwissenschaftler, arbeitete unter anderem zur Hermeneutikgeschichte, zur Methodologie der Digital Humanities sowie zur Architekturgeschichte und ist seit 2019 Bibliothekar, derzeit am Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung in Berlin. ORCID: https://orcid.org/0000-0002-4301-6892