Beiträge von Eva Bunge (eb), Ben Kaden (bk), Karsten Schuldt (ks), Michaela Voigt (mv)
Ziel dieser Kolumne ist es, eine Übersicht über die in der letzten Zeit erschienene bibliothekarische, informations- und bibliothekswissenschaftliche sowie für diesen Bereich interessante Literatur zu geben. Enthalten sind Beiträge, die der LIBREAS-Redaktion oder anderen Beitragenden als relevant erschienen.
Themenvielfalt sowie ein Nebeneinander von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Ansätzen wird angestrebt und auch in der Form sollen traditionelle Publikationen ebenso erwähnt werden wie Blogbeiträge oder Videos beziehungsweise TV-Beiträge.
Gerne gesehen sind Hinweise auf erschienene Literatur oder Beiträge in anderen Formaten. Diese bitte an die Redaktion richten. (Siehe Impressum, Mailkontakt für diese Kolumne ist zeitschriftenschau@libreas.eu.) Die Koordination der Kolumne liegt bei Karsten Schuldt, verantwortlich für die Inhalte sind die jeweiligen Beitragenden. Die Kolumne unterstützt den Vereinszweck des LIBREAS-Vereins zur Förderung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Kommunikation.
LIBREAS liest gern und viel Open-Access-Veröffentlichungen. Wenn sich Beiträge dennoch hinter eine Bezahlschranke verbergen, werden diese durch “[Paywall]” gekennzeichnet. Zwar macht das Plugin Unpaywall das Finden von legalen Open-Access-Versionen sehr viel einfacher. Als Service an der Leserschaft verlinken wir OA-Versionen, die wir vorab finden konnten, jedoch auch direkt. Für alle Beiträge, die dann immer noch nicht frei zugänglich sind, empfiehlt die Redaktion Werkzeuge wie den Open Access Button oder CORE zu nutzen oder auf Twitter mit #icanhazpdf um Hilfe bei der legalen Dokumentenbeschaffung zu bitten.
Die bibliographischen Daten der besprochenen Beiträge aller Ausgaben dieser Kolumne finden sich in der öffentlich zugänglichen Zotero-Gruppe: https://www.zotero.org/groups/4620604/libreas_dldl/library.
Murphy, Julie A. ; LaCombe, Kent (2022). Recapturing Misplaced Opportunities in Academia: The Problematic Privatization of Library Services and Holding. In: Serials Review 47 (2022), 3—4, 252—256, https://doi.org/10.1080/00987913.2022.2044578 [Paywall]
Dieser Text ist eine Polemik über den Zustand der Privatisierung in und um das Bibliothekswesen (in den USA). Es wird kritisiert, dass die Bibliotheken zum Markt von Privatunternehmen geworden seien und dass ein — nicht explizit so genanntes — neoliberales Management dazu geführt hat, dass öffentliches Geld und öffentliche Ressourcen (also vor allem aus Steuermitteln bezahlte) nicht im Dienst von Nutzer*innen oder der Öffentlichkeit stehen, sondern vor allem Profit für Firmen liefern. Vieles könnte stattdessen von Bibliotheken selbst angeboten oder betrieben werden, insbesondere im Bereich der Bibliothekstechnologie.
Man lernt inhaltlich nichts Neues in diesem Text. Die Klagen sind berechtigt, die Situation ist bekannt. Aber gleichzeitig scheint es beim Lesen, dass es vielleicht wirklich notwendig wäre, immer wieder einmal darauf hinzuweisen, dass es nicht so sein (und bleiben) muss, wie es ist, sondern schon einmal anders war und deshalb (vor allem, aber nicht nur, durch politische Entscheidungen) wieder anders werden kann.
Dass dieser Text dann selbst nicht frei verfügbar ist, sondern hinter einer Paywall steckt, ist ironisch. Immerhin, so könnte man es interpretieren, weigerten sich die Autor*innen, Geld für eine APC auszugeben — was nur hiesse, wieder für einPrivatunternehmen Profit zu generieren. (ks)
Divall, Pip ; James, Cathryn ; Heaton, Michael (2022). UK survey demonstrates a wide range of impacts attributable to clinical library services. In: Health Information Library Journal, (2022) 39: 116—131, https://doi.org/10.1111/hir.12389 [Paywall], [OA-Version: http://hdl.handle.net/20.500.12904/14864]
Die Bibliotheken in Spitälern und anderen Gesundheitseinrichtungen in Grossbritannien haben eine Basis, die mit denen im DACH-Raum nicht vergleichbar ist. Dadurch, dass es einen National Health Service gibt, der zentrale Infrastrukturen entwickelt und zum Beispiel auch Lizenzen für das gesamte System übernimmt, sind sie etablierter und besser ausgestattet, als dies im deutschen Sprachraum allgemein der Fall ist. In Grossbritannien sind voll ausgestattete Bibliotheken, die Dienstleistungen für das medizinische Personal übernehmen — beispielsweise Recherchen — Normalität. Insofern sind die Ergebnisse dieser Studie nicht übertragbar. (Wenn, dann eher in Länder mit ähnlichen nationalen Gesundheitsstrukturen wie zum Beispiel Kanada.)
Interessant ist die Studie vielleicht, weil sie Potentiale aufzeigt, wie Bibliotheken arbeiten und wirken könnten. Aber vor allem, weil die Methodik übernommen und für andere Bibliotheken, auch im DACH-Raum, die ähnliche Dienstleistungen für spezialisierte Professionen anbieten — man kann hier zum Beispiel an forschungsnahe Dienstleistungen in Hochschulen oder, im juristischen Bereich, Dienstleistungen für Gerichte und Kanzleien denken.
Methodisch wurde ein Fragebogen entworfen und Interviews vorbereitet, die dann während sechs Monaten von Bibliothekar*innen in den Spitälern im ganzen Land durchgeführt wurden, um Nutzer*innen, die Services in Anspruch genommen hatten, zu befragen. Es ging dabei darum zu verstehen, wer, wofür und mit welchem Erfolg die Services nutzte und das auf der Ebene ganz Grossbritanniens. Selbstverständlich war es nur eine Auswahl an Nutzer*innen, die so erreicht wurde — vor allem die mit positiven Erfahrungen und Haltungen zur Bibliothek. Gleichzeitig nahmen nicht alle Spitalbibliotheken und ähnliche Einrichtungen Grossbritanniens an dieser Studie teil — zum einen gibt es keine Liste von ihnen, insoweit sind einige gewiss übersehen worden, zum anderen haben einige schon eigene Systeme des Qualitätsmanagements installiert und versprachen sich von der Studie vermutlich keinen zusätzlichen Gewinn. Und dennoch ergibt sich durch die Menge an Daten, die gesammelt wurde, hier ein besseres Bild von der Bibliotheksnutzung, als es vorher vorhanden war.
Die Ergebnisse selbst zeichnen ein sehr positives Bild und deuten auch auf eine steigende Professionalisierung der betreffenden Bibliotheken hin. Services wie Recherchen und Beschaffung von Informationen werden sowohl von Ärzt*innen als auch anderem medizinischen Personal genutzt, sowohl für eigene Forschungen als auch für die medizinische Praxis. Sie werden sehr positiv bewertet, auch wenn der Effekt nicht einfach benannt werden kann. Es gibt aber Hinweise, dass durch die Informationen, welche Bibliotheken zur Verfügung stellten, das Personal besser in der Lage war, Diagnosen vorzunehmen und Patient*innen zu beraten. Dies hätte in vielen Fällen Folgekosten, die sonst durch unzureichende Analysen und weitergehende Krankheitsverläufe entstanden wären, verhindert. Zudem würde es mehr und mehr normal, dass Bibliothekar*innen in den Artikeln der Ärzt*innen als Co-Autor*innen genannt werden, was die Autor*innen dieser Studie als Hinweis darauf deuten, dass deren Kompetenz als relevante Mitarbeiter*innen immer mehr wahrgenommen wird. (ks)
Curry, Claire ; Robbins, Sarah ; Schilling, Amanda ; Tweedy, B. N. (2022). Recruiting, Hiring, & On-Boarding Non-MLS Liaison Librarians: A Case Study. In: Library Leadership & Management 36 (2022) 1, https://doi.org/10.5860/llm.v36i1.7490
Die Bibliotheken der University of Oklahoma hatten Probleme, zwei Stellen für Liason Librarians (in diesem Fall einigermassen vergleichbar mit Fachreferent*innen mit Lehrverantwortung) zu besetzen. Deshalb änderten sie ihre Ausschreibungen und ihre Strategie, wie sie neue Kolleg*innen in den Bibliotheken «on-boarden». Der Text beschreibt diesen Prozess etwas vollmundig als «Case Study», kann aber vor allem als Anregung dafür verstanden werden, warum es sich lohnt, solche Ausweitungen vorzunehmen und nach Personal zu suchen, dass nicht direkt eine «klassische Bibliotheksausbildung» durchlaufen hat, als auch was dies an Mehrarbeit und Vorteilen mit sich bringt. Beispielsweise wurde die Ausschreibung so verändert, dass sie nicht nur für Personen mit einer bibliothekarischen Ausbildung verständlich war, es wurden klare Aussagen über die Vorteile einer Bibliothekskarriere — im Gegensatz zu einer in der Forschung — gemacht, gleichzeitig wurden in der Ausschreibung, den Bewerbungsgesprächen und dem späteren on-boarding klare Vorgaben dazu gemacht, was von dem neuen Personal erwartet wird. Dies alles war erfolgreich, die Stellen sind besetzt und die Stellung der Bibliotheken in der Universität — so deuten die Autor*innen zumindest an — verbessert.
Selbstverständlich ist der Text auf die Realitäten in den USA bezogen, aber das Problem, qualifiziertes Personal zu finden, stellt sich bekanntlich auch in Bibliotheken im DACH-Raum immer mehr und wird sich mit den demographischen Veränderungen in Zukunft nur verstärken. Dieser Text bietet gute Ansatzpunkte, um die Anwerbungsprozesse von Bibliotheken zu überdenken. (ks)
Macfarlane, Isla H. (2022). Visitors visiting books: visitors’ books at the Library of Innerpeffray. In: Studies in Travel Writing, 25 (2022) 3, 315—333, https://doi.org/10.1080/13645145.2022.2057387
In diesem Artikel wird vor allem das Gästebuch einer schottischen Bibliothek, die 1680 als erste öffentlich zugängliche Bibliothek in Schottland gegründet wurde (vom Third Lord Madertie, David Drummond) behandelt. Die Bibliothek wurde einige Jahrzehnte eher als Club denn als Bibliothek geführt, aber ab Ende des 19. Jahrhunderts als mehr oder minder professionelle Bibliothek. Auch heute kann sie noch besucht werden.
Interessant ist, dass die Bibliothek auch spätestens ab Ende des 19. Jahrhunderts zu einer touristischen Attraktion wurde, die zum Beispiel in mehreren Reiseführern erwähnt wird. Seit dieser Zeit wurde ein Gästebuch geführt, welches sich vollständig erhalten hat. (Die Autorin des Artikels erwähnt, dass dies selten der Fall ist, weil viele Gästebücher zerschnitten wurden, um die Autographen berühmter Persönlichkeiten zu sammeln.) Der Text geht darauf ein, wer sich alles in diesem Gästebuch verewigt hat. Es ist eine Studie aus dem Bereich der Tourismusforschung, die einfach eine Bibliothek zum Thema hat. Die Fragen, die an die Quelle (also das Gästebuch) gestellt werden, sind deshalb verständlicherweise auch nicht bibliothekswissenschaftlich. (ks)
Samara, Afroditi ; Garoufallou, Emmanouel (2022). Organizational Change and Librarians’ Attitudes in Special Libraries. In: International Information & Library Review [Latest Articles], https://doi.org/10.1080/10572317.2022.2100216 [Paywall]
In einer Umfrage unter Bibliothekar*innen aus griechischen Spezialbibliotheken zeigen die Autor*innen, dass es eine grundsätzlich positive Haltung zu Veränderungen gibt. Das Personal stellt sich diesen nicht entgegen und hat auch selten Bedenken. Diese positive Haltung kann noch unterstützt werden, wenn klar ist, warum Veränderungen stattfinden und wenn dann diese Veränderungen auch gut gemanagt werden. Dem Bild eines grundsätzlich struktur-konservativen Personals in Bibliotheken entsprechen zumindest die befragten Kolleg*innen nicht. (ks)
Schlembach, Mary C. ; Chrzastowski, Tina (2022). A Pioneer in Chemical Literature: Librarian Marion E. Sparks. In: Bulletin for the History of Chemistry 47 (2022) 2: 215—221, http://acshist.scs.illinois.edu/bulletin/bull22-vol47-2.php [Paywall] [OA-Version: https://hdl.handle.net/2142/114377]
In diesem Artikel wird das Leben und Wirken einer wissenschaftlichen Bibliothekarin in den Vereinigten Staaten des frühen 20. Jahrhundert nachgezeichnet: Marion E. Sparks Karriere war durch enge Kontakte zu Forschung und Studierenden gekennzeichnet sowie durch für die damalige Zeit innovative Angebote und Dienstleistungen. Bevor sie jedoch als Dozentin und Autorin von Aufsätzen und Lehrbüchern anerkannt wurde, musste sie einige Hürden überwinden. Im Artikel sind beispielsweise einige Empfehlungsschreiben für Sparks abgedruckt, die ihr gute berufliche Kompetenz bescheinigen, jedoch auch bemerken, dass andere Absolventinnen desselben Jahrgangs wesentlich hübscher und charmanter seien und die Bibliothek des potentiellen Arbeitgebers besser schmücken würden. Der Artikel gibt insgesamt einen sehr interessanten, exemplarischen Einblick in das berufliche Leben früher Bibliothekarinnen. (eb)
Snow, Jackie: Code of Conduct. In: Wired. 30.09. (Sep. 2022), S. 122—123 [gedruckt]
Die September-Ausgabe 2022 von WIRED stellt kurz das Projekt Wampum.Codes der Künstlerin Amelia Winger-Bearskin vor. Ihr geht es darum, ethische Aspekte unmittelbar in Softwarecode zu explizieren. Im Prinzip ist der Ansatz, dass die Entwickler*innen eindeutig beschreiben, wie der von ihnen geschriebene Code aus informationsethischer Sicht genutzt und nicht genutzt werden soll. Mit wampum.codes hat sie ein Modell und ein Workshop-Programm entworfen, mit dem ethische Abhängigkeiten (ethical software dependencies) ausgedrückt werden. Inspiriert ist diese von einer indigenden, dezentralen Logik ethischen Verhaltens. (bk)
Fortier, Alexandre ; Pretty, Heather J. ; Scott, Daniel B. (2022). Assessing the Readiness for and Knowledge of BIBFRAME in Canadian Libraries. In: Cataloging & Classification Quarterly [Latest Articles], https://doi.org/10.1080/01639374.2022.2119456
In der Umfrage, über welche die Autor*innen hier berichten, wurden Bibliothekar*innen aller Bibliothekstypen in Kanada dazu befragt, welche Kenntnisse sie über BIBFRAME haben und wie sie den bevorstehenden Übergang in der Katalogisierungspraxis hin zu BIBFRAME und Linked Data planen. Die Ergebnisse sind eher ernüchternd: Je kleiner die Bibliotheken, umso weniger ist BIBFRAME überhaupt bekannt. Auch ist das Wissen in allen Bibliothekstypen ausser Wissenschaftlichen Bibliotheken kaum vorhanden. Selbst die Bibliothekar*innen, welche BIBFRAME an sich kennen, können konkrete Fragen zum Standard selten richtig beantworten. Das kanadische Bibliothekswesen ist also kaum darauf vorbereitet, die Katalogisierungspraxis zu ändern. (Allerdings gibt es bei den Bibliothekar*innen, die antworten, auch kaum Bedenken gegen eine Veränderung.) Die Ergebnisse sind eine Erinnerung daran, dass die Standardisierungsarbeit, die in Kommissionen und Arbeitsgruppen geleistet wird, erst in der breiten Praxis etabliert werden muss, um einen Einfluss zu generieren.
Relevant ist der erste Teil des Artikels, in welchem die Autor*innen nicht nur darstellen, warum es für Bibliotheken relevant wäre, die Katalogisierungspraxis so zu verändern, dass Bibliothekskataloge zum Teil des Semantic Web werden, sondern auch darstellen, was sich am Standard BIBFRAME in den letzten Jahren grundlegend entwickelt hat. Für alle, die sich schnell à jour stellen wollen, sei dieser Teil zur Lektüre empfohlen. (ks)
Guernsey, Lisa ; Prescott, Sabia ; Park, Claire (2022). A Pandemic Snapshot: Libraries’ Digital Shifts and Disparities to Overcome. In: Public Library Quarterly (Latest Articles), https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2073783 [Paywall]
Den relevanten Teil dieses Artikels stellt die Auswertung einer Umfrage unter rund 2.600 US-Amerikaner*innen darüber, wie sie die elektronischen Angebote ihrer jeweiligen Public Library während der ersten Monate der COVID-19 Pandemie wahrnahmen und nutzten, dar. Leider geht aus dem Text nicht ganz hervor, wie die Teilnehmenden zu dieser — von September bis Oktober 2020 durchgeführten — Umfrage ausgewählt wurden. Es wird nur berichtet, dass sie einen Durchschnitt der US-amerikanischen Bevölkerung darstellen würden und dass sie selber die Wahl trafen, an der Umfrage teilzunehmen.
Zudem ist die Auswertung eingefasst in einen langen Abschnitt zur Bedeutung von Public Libraries im Allgemeinen, zu einem ausgewählten Angebot einer Bibliothek und einem abschliessenden Kapitel, in welchem Bibliotheken Hinweise gegeben werden, wie sie in Zukunft mehr Menschen, die von elektronischen Angeboten ausgeschlossen sind, erreichen könnten — allerdings, ohne das sich diese Hinweise irgendwie aus den Ergebnissen selber ergeben würden.
Und dennoch sind die Ergebnisse der Auswertung selber, die mit Vorsicht interpretiert und im US-amerikanischen Kontext verortet werden müssen, interessant. So zeigte sich zum Beispiel, dass es grundsätzlich einen positiven Bezug zu Public Libraries und auch deren elektronischen Angeboten gab, aber dass nur rund 25 % der Befragten sagen konnten, ob ihre jeweilige Bibliotheken während der ersten Monate der Pandemie spezifische Angebote aufgebaut hatten. Es zeigte sich bei denen, die solche Angebote dann nutzten, dass die Pandemie ein Treiber war — elf Prozent mehr nutzten diese Angebote erstmals in der Pandemie und von diesen gaben rund zwei Drittel auch explizit an, dies wegen der Pandemie zu tun. Grundsätzlich wurden diese Angebote auch positiv eingeschätzt, aber oft sei es schwer, in ihnen zu recherchieren und das jeweils Gesuchte zu finden. Zudem gab es einige Variablen — Einkommen, die Bibliothek als Hauptzugang zum Internet oder nicht, Alter, Ethnizität — welche Unterschiede in der Nutzung bedingten. Meistens so, wie man sich dies denken könnte, aber zum Beispiel zeigte sich auch, dass Personen, die die Bibliothek sonst als Hauptzugang zum Internet nutzen, die elektronischen Angebote vor allem für Bildung und Arbeit benutzten, während andere Gruppen sie eher für Freizeit und Unterhaltung benötigten. (ks)
Oyelude, Adetoun Adebisi ; Ebijuwa, Adefunke Sarah ; Ahmad, Hauwa Sani ; Abba; Mabruka Abubakar ; Nongo, Celina Jummai (2022). Perception of Librarians on COVID-19 Information and Sensitization: Challenges and Change Agenda. In: IJoL – International Journal of Librarianship 7 (2022) 1: 79—98, https://doi.org/10.23974/ijol.2022.vol7.1.233
In dieser Studie wurden, per halbstrukturierter Interviews, 13 Bibliothekar*innen aus verschiedenen afrikanischen Ländern dazu befragt, wie sie die COVID-19 Pandemie und die Reaktionen ihrer Trägereinrichtungen sowie der jeweiligen nationalen Politik erlebten. Vier Länder (Botswana, Ghana, Kenia und Uganda) sind mit jeweils einer Person vertreten, Nigeria mit neun. Die Auswahl erfolgte über persönliche Kontakte der Autor*innen.
In den Antworten zeigt sich, dass die Pandemie nicht viel anders wahrgenommen wurde, als in anderen Ländern, nur immer wieder auf Basis der jeweiligen infrastrukturellen Möglichkeiten. Bibliothekar*innen auf allen Ebenen versuchten, aktiv mit der Situation umzugehen. Sie versuchten, sich selbst mit den jeweils geltenden, politisch gesetzten Regeln auseinanderzusetzen. Und sie versuchten, ihre Nutzer*innen auf der einen Seite möglichst gut über die Pandemie zu informieren, auf der anderen Seite möglichst Zugang zu Medien zu verschaffen. Gleichzeitig fühlten sie sich stellenweise überfordert.
Praktisch übereinstimmend denken sie, eine bessere und weitreichendere Sensibilisierung der gesamten Gesellschaft für Gesundheitsthemen wäre eine zukünftige Anforderung, die sich aus den (bisherigen) Erfahrungen mit der Pandemie ergeben hat. (ks)
Watson, Alex P. (2022). Pandemic Chat: A Comparison of Pandemic-Era and Pre-Pandemic Online Chat Questions at the University of Mississippi Libraries. In. Internet Reference Services Quarterly [Latest Articles], https://doi.org/10.1080/10875301.2022.2117757 [Paywall]
Der Autor untersucht hier mithilfe beschreibender statistischer Methoden, ob sich während der Pandemie (bei ihm bis Frühling 2022 gezählt) Veränderungen bei der Nutzung der Chat-Auskunft der im Titel genannten Universitätsbibliotheken — an welchen er arbeitet — zur Zeit vor der Pandemie ergeben haben. Dies ist möglich, da die gesamten Chats gespeichert werden und somit als Daten vorliegen. Entgegen der Erwartung, die man haben könnte, zeigte sich praktisch keine Veränderung, weder bei der Uhrzeit, in welcher von Studierenden und Forschenden Chat-Fragen gestellt werden, noch bei der Länge der eigentlichen Chats (in Minuten). Auch die Auswertung der genutzten Wörter zeigte keine grosse Bewegung. Grundsätzlich hat die Pandemie also zumindest auf dieses Chat-Angebot, welches schon vor der Pandemie etabliert war, und seine Nutzung keinen feststellbaren Einfluss gehabt. (ks)
Mexhid Ferati, Arben Hajra, Fidan Limani, Vladimir Radevski: Research data repository requirements: A case study from universities in North Macedonia. In: International Journal of Knowledge Content Development & Technology. [Online First] 15. April 2022, http://www.ijkcdt.net/xml/32722/32722.pdf
Die Autor*innen untersuchten die Praxis im Umgang mit Forschungsdaten in institutionellen Repositorien an Einrichtungen in Nordmazedonien. In der Umfrage wurden 110 Personen an insgesamt drei Universitäten des Landes (die South East European University in Tetovo, die Ss. Cyril and Methodius University of Skopje sowie die Goce Delčev University of Štip) befragt. Die Anforderungsanalyse ergab sechs Funktionen von Repositorien für den Umgang mit Forschungsdaten: (1) Metadaten und Dokumentation, (2) Verbreitung, Teilen und Sichtbarmachen von Daten, (3) das Zugangsmanagement zu den Daten, (4) Datenspeicherung, (5) Datensicherung und schließlich (6) Archivierung. Das sind wenig überraschend keine neuen Einsichten. In der Aufschlüsselung und Begründung können sie aber Einrichtungen in Nordmadzedonien und angesicht der Universalität der Anforderungen auch darüber hinaus als Orientierung dienen. (bk)
Pollock, Danielle ; Yan, An ; Parker, Michelle ; Allard, Suzie (2022). The Role of Data in an Emerging Research Community: Environmental Health Research as an Exemplar. In: International Journal of Digital Curation, https://doi.org/10.2218/ijdc.v16i1.653
In dieser Studie versuchen die Autor*innen nachzuvollziehen, wie in einer jungen, datenbasierten Wissenschaft — Environmental Health Research — Forschungsdaten für Publikationen genutzt werden. Dabei wird praktisch der Weg zurückverfolgt von Publikationen, welche explizit angeben, welche Datensätze sie nutzen und dann in Interviews Autor*innen dieser Papers befragt (insgesamt fünf, die allerdings dann über Erfahrungen aus ihrer gesamten Forschungspraxis und nicht nur mit den untersuchten Artikeln berichten). Dies ergibt einen, wenn auch etwas kurzen, Einblick in die Datennutzungspraxis.
Was für Bibliotheken, gerade solchen, die Ressourcen in Services rund um das Forschungsdatenmanagement investieren, an dieser Studie relevant ist, ist die Erkenntnis — die ein wenig von den bekannten Diskursen um die wachsende Bedeutung von Forschungsdaten und guter wissenschaftlicher Praxis überdeckt wird, die auch von den Autor*innen stark reproduziert wird —, wie low-level dies in der Praxis ist. Die befragten Forschenden und deren Mit-Forschende nutzen Daten aus verschiedenen Quellen und das auch erfolgreich. Aber diese Praxis ist relativ pragmatisch: Zur Bearbeitung und Speicherung werden vor allem solche Angebote wie Google Docs genutzt, Forschungsgruppen werden vor allem so zusammengestellt, dass Forschende zur Mitarbeit eingeladen werden, die schon irgendwie persönlich miteinander bekannt sind oder, manchmal, durch schon bekannte Publikationen. Es gibt in dieser Wissenschaft eine Kooperationspraxis, aber am Ende ist es die*der Lead Researcher, welche*r vor allem die Arbeit managt und bestimmt. Das ist weniger innovativ, kollaborativ oder an Kriterien von Open Science orientiert, als dies manchmal den Eindruck macht. Und die Forschenden greifen auch nicht gross auf Services von Bibliotheken und anderen Einrichtungen zurück, solange sie Zugang zu Daten haben, die sie benötigen. In gewisser Weise erdet der Artikel die Praxis des Forschungsdatenmanagement. (ks)
Cheung, Melissa ; Cooper, Alexandra ; Dearborn, Dylanne ; Hill, Elizabeth ; Johnson, Erin ; Mitchell, Marjorie ; Thompson, Kristi (2022). Practices Before Policy: Research Data Management Behaviours in Canada. In: Partnership: The Canadian Journal of Library and Information Practice and Research 17 (2022) 1, https://doi.org/10.21083/partnership.v17i1.6779
In Vorbereitung darauf, dass die drei grossen Fördereinrichtungen für wissenschaftliche Forschung in Kanada eine gemeinsame Forschungsdaten-Policy erlassen würden — was 2021 passiert ist und dies mit in solchen Policies jetzt schon üblichen Anforderungen wie Forschungsdatenmanagement-Pläne — führte ein Konsortium von 20 kanadischen Universitäten eine Umfrage unter den Forschenden und zum Teil auch Promovierenden und Masterstudierenden durch. Sie wollten — wie dies in solchen Umfragen üblich ist — vor allem wissen, wie deren Forschungsdatenmanagement-Praxen aussehen und welche Unterstützung sie sich wünschen würden. Jede Universität führte die Umfrage eigenständig durch, dass heisst auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit anderen Strategien der Rekrutierung von Teilnehmenden. Dies passiert zwischen 2015 und 2019. Dreizehn der Einrichtungen lieferten Daten zurück, die in diesem Artikel für eine übergreifende Auswertung genutzt werden.
Interessant daran ist vor allem, dass der Blick auf eine ganze Anzahl von unterschiedlichen Einrichtungen geworfen wird und nicht nur, wie sonst oft, auf nur eine. Hervorzuheben ist auch, dass die Autor*innen ihre Daten, Umfrageinstrumente und so weiter transparent im umfangreichen Anhang mit publizierten.
Ansonsten sind die Ergebnisse aber wenig überraschend, sondern decken sich mit vielen ähnlichen Umfragen: Die Forschungsdatenmanagement-Praxis der Forschenden ist wenig offen und wenig nachhaltig (der Grossteil der Daten wird nicht geteilt und stattdessen auf eigenen Rechnern gespeichert). Es gibt Unterschiede vor allem zwischen Disziplinen und den Karrierestufen, aber offenbar nicht gross zwischen den Einrichtungen selber. Die Befragten geben ein Interesse daran an, in Zukunft Daten offener teilen zu wollen und gleichzeitig dafür Beratung beziehungsweise — für Studierende — Workshops zu besuchen. Die Autor*innen interpretieren dies dahingehend, dass es dieses Interesse von Forschenden in Zukunft wirklich geben würde und damit wohl Bibliotheken Aufgaben finden würden. Aber das ist selbstverständlich eine gewagte Interpretation. (Eine, die allerdings auch oft am Ende solcher Umfragen gemacht wird.) (ks)
Marsh, Frances (2022). Unsettling information literacy: Exploring critical approaches with academic researchers for decolonising the university. In: Journal of Information Literacy 16 (2022) 1: 4—29, https://doi.org/10.11645/16.1.3136
Dekolonisierung ist ein aktuell in vielen Zusammenhängen benutzter Begriff (auch im letzten Jahr in einem Schwerpunkt der LIBREAS), aber einer, der schwer in die Praxis umzusetzen ist. Die Autorin dieses Textes versucht, für Informationskompetenzarbeit von Wissenschaftlichen Bibliotheken zu klären, wie eine dekoloniale Praxis in Bibliotheken aussehen kann. Dabei möchte sie über mehr Leselisten oder diversere Bestände in Bibliotheken — so wichtig diese auch sind — hinausgehen.
Methodisch führte sie Interviews mit fünf Forschenden durch, die einerseits mit Bibliotheken im Bereich Informationskompetenz zusammenarbeiten und andererseits, wie die Autorin, an Dekolonisierung interessiert sind. Das alles ist eher als Startpunkt für Überlegungen gedacht, nicht als (zum Beispiel) Praxisleitfaden. Und es ist — wieder einmal ohne dass dies extra thematisiert wird — im US-amerikanischen Kontext verortet.
Dennoch zeigen sich interessante Punkte. So verstehen alle Befragten Dekolonisierung als einen kontinuierlichen Prozess des Lernens / Ent-lernens, nicht als ein fertig definierbares Ziel. Sie stimmen auch darin überein, dass die Arbeit, marginalisierte Literatur und Standpunkte in Informationskompetenzschulungen, Bibliotheksbestände und Leselisten zu integrieren, nur ein Anfang sei, aber einer, der an sich schon schwer ist. Dabei thematisieren sie, warum es nicht einfach ist, diverse Stimmen zu finden und plädieren dafür, dies als Anlass zu nehmen, darüber nachzudenken, was warum als relevante und für Universitäten akzeptable Literatur gilt — beispielsweise welche Formen an Publikationen akzeptabel sind und welche nicht — und wie dies geändert werden kann. Es geht ihnen darum, immer wieder Wege zu suchen, um «Lücken» zu finden — beispielsweise im Kanon, im System der Wissensproduktion von Universitäten, im Verständnis davon, was «richtiges» Wissen ist — und diese Lücken zu thematisieren. Sie sollen zum Ausgangspunkt von Unterricht und Nachdenken werden. Der Text ist — so will ihn die Autorin auch verstanden wissen — als Anregung für weitere Diskussionen gedacht. (ks)
Frederick, Donna Ellen (2022). Libraries, decolonization and the data deluge. In: Library Hi Tech News, 39 (2022) 7: 1—12, https://doi.org/10.1108/LHTN-05-2022-0074 [Paywall]
In dieser, für diese Zeitschrift recht umfangreichen, Kolumne diskutiert die Autorin — zumindest ehemals Bibliothekarin — aus einer kanadischen Perspektive die Frage, ob und wie Bibliotheken “dekolonisiert” werden können. Die zahlreichen Beispiele beziehen sich dann auch immer auf den kanadischen und US-amerikanischen Kontext. Sie startet mit der Entschuldigung des Papstes für die Verbrechen, die in den katholischen “Residential Schools” in Kanada an Kindern aus First Nations begangen wurden und mit der Kritik an dieser. Davon ausgehend führt sie darin ein, was Kolonisierung und Dekolonisierung grundsätzlich bedeuten und argumentiert dafür, zu versuchen, dies auch aus der Sicht der Kolonisierten zu verstehen. Anschliessend diskutiert sie verschiedene Punkte der bibliothekarischen Arbeit (Bestandsmanagement, Katalogisierung, grundsätzliche bibliothekarische Überzeugungen von der Notwendigkeit des Zugangs zu Wissen, die Position von Bibliotheken gegenüber First Nations) sowie die Möglichkeiten, in diesen aktiv zu werden. Am Schluss schildert sie auch ein Programm, welches sie besuchte, um sich mit dem Leben und der Wissensproduktion von First Nations direkt vertraut zu machen (diese werden in Kanada offenbar als Fortbildung angeboten). Einerseits tut sie dies, um zu schildern, wie selbst in diesem Programm von einer Teilnehmerin kolonial geprägte Verhaltens- und Denkweisen reproduziert wurden. Andererseits aber auch, wie das Programm es ihr im Nachhinein schwierig macht, Materialien von First Nations adäquat zu katalogisieren, weil die Systeme, die Bibliotheken zur Katalogisierung nutzen, überhaupt nicht darauf ausgelegt sind.
Die Kolumne, gerade für Leser*innen ausserhalb Kanadas, zeigt vor allem, wie komplex und “unfertig” das Thema bislang ist. (ks)
Shuva, Nafiz Zaman (2022). “Everybody Thinks Public Libraries Have Only Books”: Public Library Usage and Settlement of Bangladeshi Immigrants in Canada. In: Public Library Quarterly (Latest Articles), https://doi.org/10.1080/01616846.2022.2074244 [Paywall]
Der Autor dieser Studie behauptet, dass es bislang wenig Forschung dazu geben würde, wie Migrant*innen Öffentliche Bibliotheken nutzen würden, führt dann aber selbst eine ganze Reihe betreffender Untersuchungen an. Anschliessend ergänzt er diese mit Daten, die er über eine spezifische Gruppe von Migrat*innen — die im Titel genannten Bangladeshi Immgrants — und deren Nutzung von Bibliotheken in Southern Ontario — das unter anderem die Metropolen Toronto und Ottawa umfasst — mittels Interviews und einer Umfrage erhoben hat. Er ist selber «Insider» in dieser Gruppe. Die Daten wurden schon vor der Covid-19 Pandemie gesammelt, sagen also nichts über die spezifische Situation während dieser aus. Zudem heben sich die meisten der von Shuva Befragten dadurch hervor, dass sie schon mit einem Hochschulabschluss nach Kanada einreisten. (In anderen Ländern würden sie deshalb wohl eher «Expats» genannt.)
Was Shuva zeigen kann, ist, dass Public Libraries einen recht guten Ruf bei diesen Personen geniessen. Sie nutzten sie vor allem kurz nach der Einreise, sowohl als Ort, um das Internet zu nutzen, als auch um Informationen über Kanada zu finden. Sie boten einen der Orte, welche die Integration in die kanadische Gesellschaft erleichterten. Allerdings wurden von den Personen viele Angebote, die gerade in den Bibliotheken der Metropolen gemacht werden, um explizit diese Integration zu unterstützen — beispielsweise Kontakte zu anderen Organisationen — gar nicht benutzt. Und, nachdem die Migrant*innen in ihrer neuen Heimat «angekommen» waren, sank im Normalfall auch ihre Bibliotheksnutzung. Sie benutzten sie später zumeist vor allem für ihre Kinder. Der Autor schliesst aus seinen Daten unter anderem, dass es eine wichtige Aufgabe für die Bibliotheken wäre, mehr Outreach zu machen, also die eigenen Angebote zu bewerben. (ks)
De Agostini, Michelle (2022). Locked Up Libraries: A Critique of Canadian Prison Library Policy. In: Journal of Radical Librarianship 8 (2022): 1—24, https://www.journal.radicallibrarianship.org/index.php/journal/article/view/69
Die Autorin war bis vor Kurzem Bibliothekarin in einem kanadischen Gefängnis und übt in diesem Text kenntnisreich Kritik an den Bibliotheken in den Justizvollzugsanstalten Kanadas. Es ist einer dieser Texte, die wohl vor allem dann entstehen können, wenn Menschen eine bestimmte Karriere verlassen und sich keine Sorgen mehr darum machen müssen, wem sie “auf die Füsse treten”, aber gleichzeitig noch gut im Thema bewandert sind. Die Kritik ist mehrschichtig. Als Hauptproblem macht sie aus, dass diese Bibliotheken eingebunden sind in ein System von Strafe, Bewachung und struktureller Gewalt. Sie würden selber als Strafe oder Belohnung in diesem System Gefängnis genutzt, dabei müssten sie eigentlich ein Recht für alle Strafgefangenen darstellen. De Agostini betont, dass die Strafe schon durch das Einsperren von Menschen vollzogen ist. Es wäre nicht die Aufgabe des Gefängnissystems oder der Gefängnisbibliotheken, diese Strafe zu verstärken oder aber selber zu erziehen. Vielmehr stehe allen Menschen der Zugang zu Informationen zu und der Staat, welche die Strafe des Einsperrens vornimmt, hätte die Verpflichtung, diesen freien Zugang zu gewährleisten, was am Besten über Bibliotheken funktionieren würde, die professionell geführt, ausreichend ausgestattet und an den Angeboten der Public Libraries orientiert sein müssten.
Das dem grundsätzlich nicht so ist, wäre der Grund für weitere Probleme: Die Gefängnisbibliotheken wären unzureichend ausgestattet, die Gefängnisverwaltung wäre sich oft nicht bewusst, was die Bibliothek sein müsste und könnte. Auch wenn versucht würde, Bibliotheken in Gefängnissen anzubieten, würde sich eher auf eine paternalistische Tradition berufen, die die Gefangenen mittels Literatur erziehen will, anstatt ihnen ihr Recht auf freie Information zuzugestehen.
De Agostini zeigt in ihrem Text aber auch, dass ihre Kritik Teil einer Tradition ist: Es gibt, zumindest für Kanada, seit Jahrzehnten Studien, Berichte und Policy Papers, welche die Situation kritisieren und Veränderungen vorschlagen oder einfordern. Aber die gleiche Kritik, die gleichen Forderungen wiederholen — offenbar ändert sich wenig. (Die Autorin weisst aber darauf hin, dass elektronische Medien neue Probleme darstellen, weil diese in Gefängnissen oft gar nicht angeboten werden, da die Gefangenen keinen Zugang zu den dafür notwendigen Geräten haben.) Insoweit erstaunt es etwas, dass sich am Ende des Textes wieder Vorschläge finden, wie die Situation zu ändern wäre. (ks)
Price, Apryl C. (2022). Barriers to an inclusive academic library collection. In: Collection and Curation 41 (2022) 3: 97—100, https://doi.org/10.1108/CC-05-2021-0018 [Paywall]
Bibliotheken streben mehr und mehr an, einen Bestand anzubieten, der auch Diversität repräsentiert, aber gleichzeitig scheint es kompliziert zu sein, dieses Ziel zu erreichen. In diesem kurzen Text denkt die Autorin über Gründe im Bereich der wissenschaftlichen Literatur nach. Sie identifiziert als Barrieren (a) das Angebot von Verlagen, welches selber nicht divers ist und für das auch oft gar keine Daten existieren, mit denen man überhaupt Entscheidungen im Bezug auf Diversität treffen könnte, (b) impliziten Bias von Bibliothekar*innen, welche Entscheidungen über die Bestandsauswahl treffen, © zu wenig Arbeitszeit, die für solche Entscheidungen vorhanden ist und (d) zu wenig freien, also noch nicht durch Lizenz- und andere Verträge gebundenen Etat. Sie ruft trotzdem dazu auf, dass Bibliotheken ihr Bestes versuchen sollen, um auch den Bestand diverser zu machen, erinnert dabei an den Weg hin zu mehr Inklusion und Diversität, der historisch seit den 1960ern schon zurückgelegt wurde und argumentiert, dass darauf gedrungen werden muss, dass sich die Verlagsindustrie ändert. (ks)
Studding, Amy (edit.) (2022). Data-driven Decisions: A Practical Toolkit for Library and Information Professionals. London: facet publishing, 2022 [gedruckt]
Das Erstaunlichste an diesem Buch ist für den Rezensenten, dass es offenbar einen Bedarf für dieses gibt — die Herausgeberin berichtet am Anfang, dass sie hier in der ersten Hälfte des Buches ein Toolkit ausbaut, welches sie schon mehrfach präsentiert und angewandt hat. Anders als der Titel vermuten lassen könnte, geht es nicht um grosse Datenmengen oder spezifische statistische Analysen, die im Bibliotheksmanagement eingesetzt werden sollen. Vielmehr geht es darum, recht einfache Auswertungen von vorhandenen Daten, beispielsweise aus einem Bibliothekssystem, oder relativ leicht zu erhebende Daten, wie regelmässige Zählungen der anwesenden Nutzer*innen in einer Bibliothek, für bibliotheksspezifische Entscheidungen einzusetzen.
Das Buch führt — in einem teilweise patronisierenden Ton — durch die Planung von Datensammlungen und Auswertungen sowie die möglichen Entscheidungen, die mit den Analysen getroffen werden können. Andere Formen der Nutzung von Daten, vor allem zum Marketing gegenüber verschiedenen Stakeholdern, werden ebenso angesprochen. Das wird aber kaum komplex. Die Daten werden in den gegebenen Beispielen immer nur in Excel-Tabellen eingetragen und ausgewertet, nie zum Beispiel weiterer statistischer Analysen unterzogen oder gar zur Bildung von statistischen Modellen verwendet. Bei den Projekten, die vorgestellt werden, wird immer wieder betont, dass man die Datenerhebung vorhergehend planen und testen soll, sowie sich Gedanken machen muss, welche Daten man wirklich benötigt, um bestimmte Fragen zu beantworten. Das ist alles nicht falsch, aber man fragt sich immer wieder, ob das nicht auch schon so allgemeine Praxis in Bibliotheken ist.
Im zweiten Teil stellen Autor*innen verschiedene Bibliotheken vor, in denen zum Beispiel beim Bestandsmanagement auch kontinuierlich die Auswertung von Daten integriert wird. Auch bei diesen Beispielen findet sich nichts, was grundsätzlich falsch wäre, aber doch ebenso nichts, was als grosse Neuheit angesehen werden kann. (ks)
Browndorf, Megan ; Pappas, Erin ; Ararys, Anna (edit.) (2021). The Collector and the Collected: Decolonizing Area Studies Librarianship. Sacramento : Library Juice Press, 2021 [gedruckt]
Dieses Buch ist ein weiteres, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob und wie das Bibliothekswesen dekolonisiert werden kann. Es geht, zumindest vom Anspruch her, um einen spezifischen Bereich, nämlich diejenigen Bibliotheken, welche die Forschung zu bestimmten “Weltregionen” unterstützen. In der Einleitung gehen die Herausgeber*innen darauf ein, dass ein solches Denken in Weltregionen eine koloniale Geschichte hat, dass aber die betreffende Forschung selber (und damit auch die Bibliotheken) vor allem im Kalten Krieg strukturell anwuchs, als es insbesondere in den USA ein politisches und militärisches Interesse an Wissen über bestimmte Regionen (zum Beispiel “ganz Südostasien”) gab. Das Buch selber folgt diesen Feststellungen aber nur teilweise.
Grundsätzlich sind die Beiträge thematisch und inhaltlich sehr unterschiedlich. Sie lassen sich auch nicht alle dem eigentlichen Themenfeld des Buches zuordnen. Beispielsweise gibt es eine Reflektion darüber, ob und wie Dekolonisierung des Wissenschaftlichen Bibliothekswesens im kanadischen Kontext überhaupt möglich ist. Es gibt einen Artikel, welcher die Entwicklung der “Area Studies” diskutiert, aber ohne gross auf das Bibliothekswesen einzugehen. Es werden einzelne Bestände — beispielsweise die türkisch-sprachige Sammlung in der British Library — und deren Entstehung vorgestellt. Zudem findet sich eine Darstellung der Arbeit der Universitätsbibliothek in Guam und deren Versuche, innerhalb der dort vorhandenen Strukturen Literatur aus Mikronesien selber und in den Sprachen Mikronesiens zu katalogisieren. Nicht zuletzt sind viele der Texte sehr lokal verankert. Das mag teilweise Anspruch sein (es wird mehrfach betont, dass Dekolonisierung auch hiesse, lokales Wissen und Formen der Wissensproduktion zu präferieren), aber es macht einige der Texte schwer verständlich. Beispielsweise wird mehrfach eine kurze Kritik der Praxis der “Land Acknowledgements” angerissen — einer in Australien, Aotearoa Neuseeland und Kanada verbreiteten Praxis, die man erst einmal kennen muss, um die Kritik zu verstehen.
Das Buch lässt den Eindruck zurück, dass auch diejenigen Kolleg*innen, die sich aktiv mit der Frage der Dekolonisierung von Bibliotheken auseinandersetzen, weiterhin vor allem auf der Suche danach sind, zu bestimmen, was dies im Bibliothekswesen überhaupt genau bedeutet. Auffällig ist auch, dass sich die meisten Beiträge auf Sammlungen beziehen, die vor Jahrzehnten oder gar am Ende des 19. Jahrhunderts begonnen wurden — aber solche Sammlungen sind ja nur in einer gewissen Anzahl von Bibliotheken zu finden. Und nicht zuletzt ist auch nicht immer ganz klar, ob es um die Dekolonisierung der Bibliotheken oder der Wissenschaft, der sie ja zuarbeiten, geht. (ks)
DeVoe, Lauren ; Duff, Sara (edit) (2022). Zines in Libraries: Selecting, Purchasing, and Processing. Chicago: ALA-Editions, 2022 [gedruckt]
Zines, also selbstpublizierte Hefte und ähnliche Publikationen, die ausserhalb der handelsüblichen Publikationskanäle vor allem von Einzelpersonen in Fancommunities, politischen Communities oder aus persönlichem Interesse herausgegeben werden, sind im US-amerikanischen Bibliothekswesen seit einigen Jahren ein recht oft besprochenes Medium. Vor einigen Jahren ging es dabei zumeist darum, zu diskutieren, ob und wenn ja, in welcher Form, diese Medien in den Bestand von Bibliotheken gehörten. Es wurde argumentiert, dass sie einen besonderen Zugang zur jeweiligen Community bieten würden und damit deshalb sowohl in Wissenschaftliche Bibliotheken (vor allem als Sammlungsobjekt) als auch Öffentlichen und Schulbibliotheken aufgenommen werden sollten. Herausgestellt wurde oft, dass Zines von Personen veröffentlicht werden, die keinen anderen Zugang zum Publikationsmarkt haben und somit die Integration in den Bibliotheksbestand auch einen Beitrag dazu liefern würde, deren Stimmen hörbar zu machen. Die damals, zu Beginn dieser Diskussionen, publizierten Texte führten oft in das Thema ein, aber lieferten wenig konkretes Material für die eigentliche Arbeit von Bibliotheken.
Mittlerweile scheinen Zines zu einem im US-amerikanischen Bibliothekswesen etablierten Medientyp geworden zu sein. Eine wachsende Anzahl von Bibliotheken hat sie integriert und zum Teil eigene Positionen als “Zine Librarian” geschaffen. Auf der jährlichen Konferenz des US-amerikanischen Bibliotheksverbandes ALA gibt es regelmässig eine “Zine Pavilion” (https://zinepavilion.tumblr.com/) genannte Unterkonferenz nur zu diesem Medientyp. Zudem sind “Zine Workshops”, in denen gemeinsam Zines produziert werden, zu einem Veranstaltungsangebot verschiedener Bibliotheken geworden.
Diese Professionalisierung ist auch “Zines in Libraries” anzumerken. Viele Bücher, welche wie dieses im Verlag der ALA erscheinen, führen nur kurz ins jeweilige Thema ein und liefern anschliessend einige, eher oberflächliche Beispiele aus Bibliotheken. “Zines in Libraries” hingegen geht tatsächlich näher an die Bibliothekspraxis heran. Die meisten Texte stellen Berichte direkt aus der Praxis dar, welche ganz konkrete Erfahrungen und Tipps vermitteln. Hervorzuheben sind der Text von Lauren DeVoe über den konkreten Erwerbungsprozess von Zines (die zumeist auf unkonventionellen Wegen gekauft werden, beispielsweise auf “Zine Fest” genannten Messen) und deren Integration in den normalen bibliothekarischen Geschäftsgang sowie der Text von Jeremy Brett über Herausforderungen bei der langfristigen Aufbewahrung von Zines (die beispielsweise zumeist auf schlechtem Papier produziert werden). Zudem finden sich Beispiele für die Integration von Zines in den Bestand Öffentlicher Bibliotheken und von Schulbibliotheken. (ks)
Kempf, Charlotte (2020). Différences partagées. Buchwissenschaft et Histoire du livre en Allemagne et en France. In: Sordet, Yann (redact.) Histoire et civilisation du livre: Revue internationale XVI. Genève: Librairie Droz, 2020: 99—111, URL: https://revues.droz.org/index.php/HCL/article/view/2020_16_99-111 [Paywall]
Der Schwerpunkt der 2020er Ausgabe dieses buchwissenschaftlichen Jahrbuchs ist der Einfluss des französischen Buchwissenschaftlers Henri-Jean Martin auf die dortige Forschung zur Geschichte des Buches und des Lesens. Im Artikel von Charlotte Kempf werden aber die unterschiedlichen Entwicklungen der Buchwissenschaft (beziehungsweise der histoire du livre) in Deutschland und Frankreich besprochen. Auf der einen Seite ist dies eine konzise Zusammenfassung der Entwicklung der deutschen Wissenschaft, zum Beispiel der Etablierung von Lehrstühlen an Hochschulen (wobei die zuletzt angekündigte Schliessung beziehungsweise der Umbau des Lehrstuhls an der Universität Leipzig selbstverständlich noch nicht Thema des Beitrags ist) und der wichtigsten Debatten. Die Entwicklung in Frankreich wird auch skizziert, allerdings ist dies, schon weil sie in anderen Beiträgen des Jahrbuchs genauer besprochen wird, recht kurz gehalten. Auf der anderen Seite zeigt der Beitrag, wie unabhängig voneinander diese Entwicklungen stattfanden. Während in Frankreich die Arbeiten Henri-Jean Martins, dem diese Ausgabe von Historie et civilisation du livre ja gewidmet ist, prägend für die histoire du livre waren — inklusive seiner Fragestellungen zum Zusammenhang von Abbildung, Text, Layout und Typographie (“mise en page”), der Materialität des Gesamtobjekts Buch (“mise en livre”) und der Geschichte des Lesens als konkreter Aktivität (also weniger, was gelesen wurde, sondern wie genau der Vorgang des Lesens stattfand) sowie seinem Fokus auf die Nutzung von Archiven und Archivmaterialien —, wurden diese in der deutschen Buchwissenschaft kaum beachtet und gänzlich andere Schwerpunkte gesetzt. Nur punktuell kam es überhaupt zu Kooperationen, aber kaum zur gegenseitigen inhaltlichen Befruchtung.
Die Autorin ist für dieses Thema gut positioniert, da sie in einem deutsch-französischen Doktorierendenkolleg ihre Promotion zum Thema “Die deutschen Erstdrucker im französischsprachigen Raum bis 1500” erarbeitete (deren monographische Publikation unter anderem in dieser Kolumne, Ausgabe #9, vorgestellt wurde1) und damit als eine der wenigen Personen direkten Einblick sowohl in die deutsche als auch die französische Buchwissenschaft hat. (ks)
Korotin, Ilse ; Stumpf-Fischer, Edith (Hrsg.) (2019). Bibliothekarinnen in und aus Österreich: Der Weg zur beruflichen Gleichstellung. (biografiA: Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung, 25). Wien: Praesens Verlag, 2019 [gedruckt]
Das vorliegende Buch gehört zu einem Teilprojekt der Forschungen zur Datenbank biografia (http://www.biografia.at), in welcher Biographien zu Frauen aus Österreich zusammengetragen werden. Die Datenbank sowie dazugehörige Projekte und Publikationen, sind in der Tradition der Frauengeschichtsschreibung verortet, die es sich zum Ziel gemacht hat, das Leben und damit auch den Einfluss von Frauen sichtbar zu machen. 2010 bis 2014 wurde in einem Teilprojekt die Erarbeitung von Biographien von Bibliothekarinnen finanziert. Sie sind heute als Teil der weiterhin betriebenen und ständig ergänzten Datenbank zu finden.
Der vorliegende Band ist im Rahmen des Teilprojektes entstanden. In der zweiten Hälfte dieses fast 800 Seiten starken Buches (im A5-Format) finden sich dann auch ausgewählte Biographien — je nachdem, was über die betreffenden Bibliothekarinnen zu finden war, mal sehr kurz, mal mehrere Seiten lang. Wie die Auswahl dazu getroffen wurde, ist nicht klar. Aber sie vermitteln zum einen, dass Frauen den Bibliotheksberuf prägen und geprägt haben — und zwar in verschiedensten Bereichen und schon über eine lange Zeit.
In der ersten Hälfte des Buches sind Forschungen, die offenbar im Rahmen des Teilprojektes durchgeführt und in zwei Workshops präsentiert wurden, publiziert. Sie versuchen, den Bogen über die gesamte Zeit des österreichischen Bibliothekswesens zu spannen. In den meisten Texten ist dies explizit verbunden mit der Darstellung der Biographien einzelner Bibliothekarinnen. In anderen kommen diese nur in kurzen Erwähnungen vor, hier ist nicht immer klar, warum sie überhaupt in den Band aufgenommen wurden. Der Band beginnt mit Klosterbibliotheken und endet mit einer Geschichte der bibliothekarischen Ausbildung in Österreich im 20. und 21. Jahrhundert, bevor er mit einer Arbeit über das Bild der Bibliothekarin in der österreichischen Literatur abschliesst. Es gibt dabei einen Schwerpunkt auf dem frühen 20. Jahrhundert — von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Nationalsozialismus. Gerade die «Arbeiterbibliotheken» werden mehrfach thematisiert — und die Stadt Wien, die fast omnipräsent ist. Dies wird mit den Interessen der Autor*innen und der Quellenlage zu tun haben. Aber gerade die Geschichte der Bibliotheken ausserhalb Wiens, insbesondere ausserhalb von Hochschulen, ist so (wieder einmal) unterbeleuchtet.
Die Anzahl der Beiträge ist zu gross, um sie getrennt zu besprechen. Wie immer bei Sammelbänden sind sie inhaltlich und qualitativ unterschiedlich, auch werden bestimmte Sachverhalte mehrfach dargestellt. Aber im Ganzen ist das Buch einerseits eine erstaunlich umfangreiche, tiefgehende Auseinandersetzung sowohl mit den Frauen im österreichischen Bibliothekswesen als auch mit der Entwicklung dieses Bibliothekswesens. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Beiträge zeigen zuerst, wie vielgestaltig das Bibliothekswesen ist und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Gleichzeitig zeigen sie, dass auch in Österreich — wie im restlichen DACH-Raum — der Zugang von Frauen zum Bibliothekswesen durch sexistische Strukturen bis in die 1970er Jahre massiv beschränkt war und sie, wenn überhaupt, auf die Arbeit in Öffentlichen Bibliotheken (und auch dort oft unter männlichen Bibliotheksleitern) verwiesen wurden. Gleichwohl, dies zeigen die Biographien, waren und sind Frauen aktiv dabei, das Bibliothekswesen zu gestalten. Veränderungen wurden vor allem möglich durch das Engagement von Frauen in wichtigen politischen Positionen, insbesondere als Ministerinnen. (ks)
Marcum, Deanna ; Schonfeld, Roger C. (2021). Along Came Google: A History of Library Digitization. Princeton ; Oxford: Princeton University Press, 2021 [gedruckt]
Die Massendigitalisierungen von Bibliotheksbeständen, welche von Google ab 2004 im Zusammenhang mit dem damaligen Projekt “Google Books” vorgenommen wurden, und ihre Auswirkungen auf Bibliotheken, sind fraglos ein interessantes Thema für einen historischen Rückblick. (Auch wenn der Rezensent beim Lesen etwas erschreckt darüber war, jetzt so alt zu sein, um selber “Bibliotheksgeschichte” miterlebt zu haben.) Schon, weil das Projekt sein Ziel eigentlich nicht erreichte. Die Autor*innen sind (als hoch angesiedelte Vertreter*innen der Stiftung Ithaka S+R) gut im US-amerikanischen Bibliothekswesen verankert und haben durch ihre Kontakte offenbar auch Einblick in interne Dokumente von Bibliotheken nehmen sowie Interviews mit relevanten Akteur*innen durchführen können.
Was dem Buch allerdings grundsätzlich fehlt, ist ein gewisser Abstand zum Thema. Es ist offensichtlich, dass die Autor*innen ihre eigene Meinung zum Projekt hatten und haben — sie sehen es weiterhin als notwendige Entwicklung hin zu einer “digitalen Weltbibliothek” an, gleichzeitig wollen sie eine Veränderung im Bibliothekswesen hin zur Kooperation und Zusammenarbeit mit Firmen wie Google. Alle, die ihrer Meinung nach in diese Richtung arbeiteten, nennen sie durchweg “Dreamers” und “Innovators”. Das restliche US-amerikanische Bibliothekswesen wird implizit als rückwärtsgewandt und strukturell unveränderlich gekennzeichnet. Zudem ist nicht ganz klar, an wen sich das Buch richtet. Es ist im Stil einer populärwissenschaftlichen Publikation geschrieben, mit recht wenigen Quellen, dafür aber vielen Stellen, an denen beschrieben wird, was einzelne Akteur*innen angeblich in einer spezifischen Situation fühlten oder dachten. Grundsätzlich wird sich sehr auf einzelne Personen konzentriert und auch unterstellt, dass Entscheidungen von Bibliotheken gerade wegen persönlicher oder institutioneller Befindlichkeiten getroffen wurden. Aber ob sich damit an eine breite Öffentlichkeit, an das US-amerikanische Bibliothekswesen oder an spezifische Personen gerichtet wird, ist nicht klar.
Ausserdem ist das Buch geprägt von der Position der Autor*innen selber, ohne dass dies reflektiert wird: Der Fokus ist allein auf die USA gerichtet — zusammenfassend wird auch von “kanadischen Bibliotheken” gesprochen, aber damit ist eigentlich nur eine, die der University of Toronto, gemeint. Der Rest der Welt kommt nur in einem Abschnitt vor, in welchem die Europeana als Ergebnis von nationalen Ängsten insbesondere französischer Politiker*innen beschrieben wird. Zudem fehlt erstaunlicherweise die Position von Google (oder deren Konkurrenz, die ebenso erwähnt wird) fast vollständig. Warum entschied sich die Firma für das Projekt? Wie liefen die dazugehörigen Entscheidungsprozesse ab? All das wird eher aus offiziellen Verlautbarungen übernommen. Und, nicht zuletzt, setzt das Buch bestimmtes Wissen einfach voraus: Zwar wird zum Beispiel erklärt, wie und wobei Bibliotheken in den USA seit Jahren kooperieren, was impliziert, dass sich das Buch nicht an das Bibliothekswesen — dass das ja weiss — richtet. Aber gleichzeitig wird vorausgesetzt, dass bekannt ist, was im Vergleich steht, welcher am Ende des Projektes im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zwischen Google, Verleger*innen- und Autor*innen-Verbänden sowie Bibliotheken geschlossen wurde. Dieser wird zwar in einem ganzen Kapitel thematisiert, aber dessen Inhalt nicht einmal zusammengefasst.
Kurzum: Das Buch geht chronologisch die Entwicklung des Projektes durch und fokussiert sich dabei auf das US-amerikanische Bibliothekswesen. Aber es ist keine historische Abhandlung, sondern eher ein persönliche Erzählung und Bewertung der Autor*innen selber. Das hat seinen Wert, aber es ist nur eine, sehr spezifische, Seite der Geschichte. (ks)
Kronenfeld, Michael R. ; Kronenfeld, Jennie Jacobs (2021). A History of Medical Libraries and Medical Librarianship: From John Shaw Billings to the Digital Era. (Medical Library Association Books). Lamham, Boulder, New York, London: Rowman & Littlefield, 2021 [gedruckt]
Vorneweg: Das Buch ist leider nicht so spannend, wie es vom Thema her hätte sein können. Das liegt an der Form, wie hier Geschichte erzählt wird — als eine Aneinanderreihung von Ereignissen, die alle praktisch in direkter Linie zur heutigen Situation führen, ohne grosse Abzweigungen. Und zudem in weiten Teilen als Geschichte unternehmungsstarker Einzelpersonen, meist in führenden Positionen in Verbänden, Spitälern, Bibliotheken oder Ministerien. Die Autor*innen scheinen den letzten Punkt selber zu bemerken und erwähnen immer wieder, dass die eigentliche Arbeit von zahllosen, heute praktisch namenlosen Bibliothekar*innen gemacht wurde. Aber trotzdem durchbrechen sie den Stil ihrer Erzählung von ‘grossen’ Einzelpersonen nicht.
Zudem, als Einschränkung, geht es nicht um das gesamte medizinische Bibliothekswesen, sondern um das in den USA und Teilen Kanadas (vor allem in Ontario). Die Medical Library Association, in deren Buchreihe diese Publikation erschien, organisiert genau diese Bibliotheken. Es ist auch eine Geschichte des Verbandes selber.
Die Geschichte hätte interessanter sein können, weil das medizinische Bibliothekswesen bekanntlich eine sehr eigene Stellung gegenüber anderen Bibliotheken hat, nicht nur in Nordamerika, sondern auch zum Beispiel im DACH-Raum. Es hat ein eigenes Professionsverständnis, das sich explizit an den Entwicklungen in Medizin und Spitälern orientiert. Und es baut schneller und weitflächiger Angebote auf, die dann in anderen Teilen des Bibliothekswesen entweder erst später oder auch nie etabliert werden. Es ist bei vielen Entwicklungen, beispielsweise der Integration von Informationstechnologie, oft schneller als andere Bibliotheken. Und es hat auch immer eigene Strukturen, die zwar nicht gegen die anderen Bibliotheksverbände stehen, aber doch nicht direkt integriert werden. So ist die genannte Association nicht Teil der ALA, aber auch im DACH-Raum ist die Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen nicht Teil anderer Bibliotheksverbände. Es wäre interessant gewesen, in dieser Geschichte zu erfahren, warum das so ist und auch, was das für Konsequenzen auf die Entwicklung dieses Teils des Bibliothekswesens hat.
Was das Buch hingegen ist, ist eine chronologische Aufzählung von Entwicklungen. Die Kontextualisierung, die gegeben wird, ist oft die Entwicklung in Spitälern, aber auch hier ohne Diskussion. Es scheint so, als hätte sich alles so entwickeln müssen, wie es jetzt ist. Unterbrechungen auf dem Weg dorthin werden als kurzfristige Barrieren dargestellt, die dann auch schnell überwunden werden. Was man lernt, ist, dass das medizinische Bibliothekswesen sich als hoch professionell versteht, vor allem auf ständige Weiterentwicklung ausgerichtet ist und dass die betreffenden Bibliotheken vor allem untereinander eng kooperieren. (ks)
Purdy, Jessica G. (2022). ‘For the Edification of the Common People’: Humphrey Chetham’s Parish Libraries. In: Oates, Rosamund ; Purdy, Jessica G. (edit.). Communities of Print: Books and Their Readers in Early Modern Europe. (Library of the Written Word, 99 ; The Handpress World, 79). Leiden ; Boston: Brill, 2022: 79—96 [gedruckt]
Im September 1653 verstarb Humphrey Chetham, Händler aus Manchester. In seinem Testament bestimmte er, dass ein Teil seines Erbes für die Einrichtung von fünf Kirchgemeindebibliotheken genutzt werden sollte. (Alle diese Gemeinden hatten etwas mit dem Leben Chethams zu tun.) Von diesen fünf haben erstaunlicherweise zwei bis heute überlebt, wenn auch an anderen Orten. Der Beitrag beschreibt sowohl, wie die Bibliotheken zusammengesetzt wurden, als auch was über die Nutzung noch bekannt ist.
Die Bibliotheken waren grundsätzlich jeweils in einem Schrank untergebracht, in welchem die betreffenden Bücher an Ketten gesichert wurden. Die Schränke konnten aufgeklappt und das geöffnete Brett als Buchablage zum Lesen genutzt werden. (Im Beitrag ist die eine Bibliothek, welche genau in diesem Zustand überliefert ist, auch abgebildet.) Gedacht waren die Bücher vor allem für die Gläubigen selber, wobei Chetham Protestant war, aber innerhalb des Protestantismus einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Richtungen anstrebte. Deswegen setzte er als Verwalter auch drei seiner Freunde ein, die alle je einer anderen Denomination angehörten. Dies schlug sich im Bestand und den Lesespuren, die noch vorhanden sind, nieder. Die Bibliotheken bestanden praktisch nur aus geistlichen Werken, aber wenigen Polemiken oder Auseinandersetzungen mit anderen Denominationen. Sie wurden vor allem genutzt, um herauszufinden, wie man persönlich ein “gottgefälliges Leben” führen konnte. Die Autorin erinnert darin, dass im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit im Allgemeinen nicht einfach mit dem Ziel der Freizeitgestaltung gelesen wurde, sondern immer mit einem Ziel — das Lesen sollte Antworten hervorbringen. (ks)
Williams, Kelsey Jackson ; Stevenson, Jane ; Zachs, William (2022). A History and Catalogue of the Lindsay Library, 1570-1792: The Story of ‘some bonie litle bookes’. (Library of the Written World, 103; The Handpress World, 82). Leiden: Brill, 2022 [gedruckt]
Die “Lindsay Library”, um die es in diesem Buch geht, war die Bibliothek einer adligen Familie aus Schottland. Grosse Teile davon wurden 1792 von einem Mitglied der Familie auf einer Auktion verkauft. Im Buch wird nun die Geschichte dieser Bibliothek rekonstruiert, gleichzeitig die bibliographischen Angaben zu den über Tausend Büchern, von denen bekannt ist, dass sie zu ihr gehörten, aus verschiedenen Listen zusammengetragen und weitere Dokumente zur Bibliothek präsentiert. Das Buch ist durchgehend und mit zahlreichen Bildern von Büchern und deren Details illustriert.
Es steckt in diesem Band eine erstaunliche Fleissarbeit, die laut Autor*innen über zehn Jahre in Anspruch nahm. Im Textteil wird nicht nur die Suche und das Auffinden von Listen und des Katalogs der Auktion von 1792 ausführlich geschildert, sondern zusätzlich das Leben der Personen, die zur Bibliothek beitrugen, im Einzelnen dargestellt und, wenn möglich, ihre Buchkäufe rekonstruiert. Zudem wird der Bestand der Bibliothek inhaltlich ausgewertet. Gerade bei den Biographien bewegt sich das Buch in Richtung einer adligen Familiengeschichte (zu der dann auch noch der aktuelle Earl of Crawford und Earl of Balcarres, das jetzige Familienoberhaupt, mit einem persönlichen Vorwort beiträgt). Teilweise, aber viel weniger, geht der Text auch darauf ein, was uns die Buchkäufe und Biographien über den Buchhandel in Schottland und Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts erzählen.
Ganz am Ende des Textteils betonen die Autor*innen dann auch, dass mit ihrem Werk dem Bild vom “intellektuell rückständigen Schottland” der Zeit vor der Union mit England entgegengetreten werden soll. Das ist hilfreich, weil es zumindest einen Hinweis gibt, warum jemand eine solche intensive, kleinteilige Arbeit überhaupt unternimmt und warum jemand eine Familiengeschichte (die, notabene, schon in einem anderen Buch ausführlich dargestellt wurde) als Bibliotheksgeschichte vorlegt. Das Buch scheint ein wenig von einem Verständnis von Wissenschaft als möglichst vollständige Sammlung geprägt zu sein, welches eher ins 19. Jahrhundert als ins 21. passen würde. Es ist beeindruckend, aber auch ein wenig sehr aus der Zeit gefallen. (ks)
Duncan, Dennis (2021). Index, A History of the: A Bookish Adventure. Dublin : Allen Lane, 2021 [gedruckt]
Dieses Buch soll hier kurz erwähnt werden, um darauf hinzuweisen, dass es für die Bibliotheksgeschichte selber leider nicht so viel enthält, wie man wegen seines Titels vermuten könnte. Das heisst nicht, dass es ein uninteressantes Buch wäre. Aber der Fokus liegt tatsächlich auf dem Index, welcher sich (heute, aber früher nicht, wie man im Buch lernen kann) am Ende wissenschaftlicher Monographien befindet. Bibliotheken und Bibliothekskataloge kommen vor, aber nur als ein kleiner Teil dieser Geschichte.
Der Autor forscht und unterrichtet (englische) Literaturwissenschaft am University College London und dies prägt das Buch. Es ist auf der einen Seite eine kontinuierliche Geschichte vom europäischen Mittelalter (mit einigen Rückgriffen auf die ägyptische und europäische Antike) bis heute, aber eine mit Fokus auf Quellen in Latein und Englisch sowie solchen direkt aus England. Es ist auch ein literaturwissenschaftliches Werk, welches die eigene Kontinuität immer wieder einmal verlässt, um literarische Beispiele aus gänzlich anderen Zeiten anzuführen. Woran das Buch erinnert, ist, dass der Index wie auch das Alphabet als Ordnungssysteme selber Werkzeuge sind, die eine historische Entwicklung hinter sich haben und deren Nutzung immer davon bestimmt war, wozu sie überhaupt genutzt werden sollten. Sie sind das Ergebnis von Entwicklungen, die immer weiter gehen. Dies gilt auch, wie der Autor mehrfach betont, für die Nutzung des Alphabets als Ordnungsinstrument. Für ihn als Literaturwissenschaftler eventuell selbstverständlich ist, dass dies aber auch für das Lesen an sich gilt: Warum, von wem und wozu gelesen wird, wandelt sich mit der Zeit und damit dann auch, wie gelesen wird. Er erwähnt es, um den Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und dem Index herzustellen.
Etwas enttäuschend ist, dass er am Ende — entgegen dieser Historisierung des Index als sind immer weiter entwickelndes Werkzeug — auf automatisierte Indexe eingeht, nur um dann ohne grosse Überzeugungskraft zu postulieren, dass Technik die Arbeit von menschlichen Indexier*innen nie ersetzen können wird. (ks)
Federhofer, Marie-Theres ; Meyer, Sabine (Hg.). Mit dem Buch in der Hand: Beiträge zur deutsch-skandinavischen Buch- und Bibliotheksgeschichte / A Book in Hand: German-Scandinavian Book and Library History. (Berliner Beiträge zur Skandinavistik, 31) Berlin: Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, 2021 [gedruckt]
Der Titel des Sammelbandes verspricht ein grösseres Themenspektrum, als die Beiträge dann selber liefern. Zum einen geht es vor allem um einen spezifischen Zeitraum, das 17. bis 19. Jahrhundert, und in den Texten, die sich mit Bibliotheken beschäftigen, immer um Bibliotheken der skandinavischen Königsfamilien. Nur im letzten, der aber auch sonst thematisch eine Ausnahme darstellt, geht es um pan-skandinavische Vereinigungen im deutschsprachigen Raum im 19. und frühen 20. Jahrhundert und deren Bibliotheken. An sich sind die Fragestellungen, wie das bei einer Publikation aus der Skandinavistik zu erwarten ist, nicht auf bibliotheks- und buchgeschichtliche Themen bezogen, sondern auf solche aus der Skandinavistik selber. Zudem beschäftigen sich einige Texte mit Manuskripten oder literaturgeschichtlichen Fragestellungen, also nicht mit Bibliotheken an sich.
Das heisst nicht, dass für die Bibliotheksgeschichte nichts aus diesen Beiträgen zu lernen wäre. Vor allem, dass der Adel Bibliotheken für verschiedene Zwecke nutzte, darunter stark den der Repräsentation. Die Königsfamilie, insbesondere die regierenden Monarch*innen, wollten und mussten sich als gebildet und später auch als aufgeklärt darstellen. Sie mussten zeigen, dass sie mit den relevanten Werken ihrer Zeit vertraut waren. Und sie mussten dies jeweils mit grösseren Sammlungen als die anderen Adligen im eigenen Land (welche in einem sich selbst verstärkenden Kreis gleichzeitig selber immer grössere Sammlungen anlegten, weil sie dem Königshof nacheiferten) tun.
Aber das war nicht die einzige Nutzungsform: Bibliotheken wurden auch tatsächlich zur Bildung und Unterhaltung, sowie in einem Fall für Interessen an Esoterik genutzt. Während die Beiträge oft auf den Inhalt der verschiedenen Sammlungen selbst eingehen und zum Beispiel Kataloge auswerten, ist eine spannende Erkenntnis, wie sich im 18. und 19. Jahrhundert Staat und Königshof trennten — also nicht mehr alles Eigentum des Staates gleichzeitig als Eigentum der Herrschenden gesehen und verwaltet wurde — und sich dies auch auf die Bibliotheken auswirkte. Sie wurden mehr und mehr voneinander getrennt, so dass Ende des 19. Jahrhunderts die Königliche Bibliothek zur Nationalbibliothek werden konnte, während das Königshaus weiter eigene Bibliotheken hatte. Ausserdem interessant sind die Bibliothekare der Adelsbibliotheken, die immer wieder erwähnt werden. Diese waren nie für diese Arbeit ausgebildet, sondern immer Forschende oder Autoren, welche zusätzliche Aufgaben in der Bibliothek erhielten. Zahlreiche von ihnen erstellten dann unter anderem Kataloge und Systematiken, welche heute oft erst die Forschungen ermöglichen, die in diesem Buch präsentiert werden. (ks)
Kaufmann, Thomas (2022). Die Druckmacher: Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. München: C. H. Beck, 2022 [gedruckt]
Die offensichtliche Grundthese dieses Buches ist, dass die Medienrevolution, die in Europa mit dem Buchdruck einherging, verglichen werden kann mit der Medienrevolution durch Digitale Kommunikationsmedien, welche wir aktuell durchlaufen. Aber beim Lesen scheint dies eher ein nachträglich in den Text eingefügtes Thema zu sein, welches besser als mögliche Fragestellung in Einleitung und Epilog verblieben wäre. In der jetzigen Form kommt es vor allem in Form von Anachronismen wie der ständigen Verwendung der Bezeichnung von “Fake News” für Texte aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert daher. Prägend ist auch der ständig bemühte Begriff “Print Natives” als Analogon zu “Digital Natives”. Man hat oft den Eindruck, dass es eher eine Idee des Verlages war, um den Titel für die breite Öffentlichkeit interessanter zu machen. (Wobei eine Koinzidenz darin besteht, dass der Autor selber als eine der Neuerungen von Luther und anderen Autoren — und ganz wenigen Autorinnen — im 16. Jahrhundert hervorhebt, dass diese sich immer mehr an eine ständig breiter werdende Öffentlichkeit richteten und nicht nur an eine akademische; so wie dieses Buch, das auch akademische Forschungen in einen eher für den Massenmarkt geschriebenen Text übersetzt.)
Was das Buch eigentlich ist, wenn man von den eher gesuchten Verbindungen zur heutigen Zeit absieht, ist eine Erzählung der Verbindung von Buchdruck und Reformation in Europa, inklusive seiner Auswirkungen auf Literaturformen, Nutzungsweisen von Büchern und kulturellen sowie rechtlichen Entwicklungen. Das ist alles — auch für Personen wie den Rezensenten, die sich nicht besonders mit dieser Zeit beschäftigen — nicht neu, sondern hier noch einmal zusammenfassend dargestellt. Dabei verliert sich der Autor streckenweise in der Darstellung von Auseinandersetzungen zwischen den Reformatoren selber, allerdings in einer Weise, welche diese teilweise vor allem als persönliche Auseinandersetzungen erscheinen lässt. Wirklich theologische Fragen, die ja Triebfedern der reformatorischen Bewegungen waren, werden praktisch nicht angesprochen. Die Druckgeschichte erscheint dabei immer als am Rand miterzählt. Nur im letzten der vier Kapitel wird explizit auf die Veränderungen in der Nutzung von gedruckten Medien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eingegangen. Das ist alles wenig überzeugend: Irgendwie ist klar, dass die Reformation (und Gegenreformation) ohne den Buchdruck nicht so zustande gekommen wäre, wie es dann passierte, und auch, dass die Reformatoren sich des Drucks und seiner Möglichkeiten bedienten. Aber wie genau der Zusammenhang ist, wer hier zum Beispiel wen prägte, wird nicht klar. Ebenso wirft das genannte letzte Kapitel auch Fragen auf. Wenn beispielsweise erwähnt wird, dass sich durch den Druck von Büchern neue Formen der Selbstbildung verbreiteten, aber im Buch selber vor allem auf die Reformatoren geblickt wurde, deutet sich an, dass nebenher noch weitere relevante gesellschaftliche Entwicklungen stattgefunden haben, die durch den Fokus des Buches auf die Reformatoren verdeckt wurden.
Das Buch ist eher ein Refresher, inklusive vieler Abbildung von Wiegendrucken, als ein neuer Beitrag zum Thema. (ks)
Chapman, Wayne K. (2022). “Something that I read in a book: W.B. Yeats’s Annotations at the National Library of Ireland. Volume I: Reading Notes. Clemson: Clemson University Press, 2022 [gedruckt]
Chapman, Wayne K. (2022). “Something that I read in a book: W.B. Yeats’s Annotations at the National Library of Ireland. Volume II: Yeats Writings. Clemson: Clemson University Press, 2022 [gedruckt]
Roberts, Geoffrey (2022). Stalin’s Library: A Dictator and his Books. New Haven ; London: Yale University Press, 2022 [gedruckt]
West, Mark I. (2022). Theodore Roosevelt and His Library at Sagamore Hill. Lanham ; Boulder ; New York ; London: Rowman & Littlefield, 2022 [gedruckt]
Die drei hier zusammengefasst vorgestellten Werke — eines in zwei Bänden — beschäftigen sich alle mit den Büchern, welche von je einer geschichtlich relevanten Person benutzt wurden. Alle sind im gleichen Jahr und in der gleichen Sprache erschienen. Ansonsten sind sie aber sehr unterschiedlich, sowohl vom eigentlichen Fokus als auch von der Länge, dem Inhalt und wohl auch der gedachten Verwendungsweise. Der Rezensent erhielt sie aber zufälligerweise alle am gleichen Tag per Fernleihe und stellte wohl deshalb einen gewissen Zusammenhang zwischen ihnen her. Was sie — um das vorwegzugreifen — zeigen, ist, wie unterschiedlich dieses Versprechen, ein Buch über die Bücher vorzulegen, welche eine “berühmte” Person im Laufe seines Lebens gelesen und versammelt hat, eingelöst werden kann.
Das sowohl materiell (160 Seiten) als auch inhaltlich dünnste Werk dieser drei stellt jenes über die Bücher Theodore Roosevelts und seiner Familie dar, welche sich heute im “Sagamore Hill” — dem Haus, in welchem Roosevelt den grössten Teil seines Lebens ansässig war, und das heute eine Gedenkstätte darstellt, die besucht werden kann — befinden. Es liest sich eher wie eine unkritische Broschüre, die im Museumsshop der Gedenkstätte verkauft wird, denn wie eine inhaltlich tiefgehende Arbeit. Der Autor stellt die Lesebiographie Roosevelts dar, aber in einer vollkommen unkritischen Form. Roosevelt hätte als junges Kind schon gelesen und von dort an immer, auch während seiner Ausbildung, seiner politischen Karriere, seiner Präsidentschaft und dann weiter bis an sein Lebensende. Zudem hätte er das Lesen in seiner Familie gefördert. Der Text besteht auch praktisch nur aus Nacherzählungen biographischer Zeugnisse. Beendet wird das Buch sogar mit einem kurzen Essay Roosevelts darüber, wie wichtig es sei, Bücher zu lesen. Es ist eine Geschichte ohne Brüche und ohne, dass aus ihr etwas zu lernen wäre. Den längsten Teil des Buches stellen aber gar nicht diese Texte dar, sondern eine unkommentierte und auch nicht inhaltlich erschlossene Liste der Bücher, welche heute in Sagamore Hill stehen. (Das sind nicht alle, die einmal vorhanden waren, da seine letzte Ehefrau nach dem Tod Roosevelts weiter dort lebte und der Bestand sich deshalb im Laufe der Zeit veränderte. Zudem wurden nach ihrem Tod Bücher von der weiteren Familie an sich genommen. Und selbstverständlich sind es auch nicht alle, die Roosevelt zeitlebens gelesen hat.) Diese, alphabetisch nach den Namen der Autor*innen geordnete Liste wurde nicht einmal vom Autor des Buches selbst erstellt, sondern vom National Park Service, welcher heute die Gedenkstätte unterhält.
Hingegen ist das zweibändige Werk zu W.B. Yeats — bekannt gleichzeitig als einer der Begründer der modernen irischen Literatur, aber auch Politiker im dann unabhängigen Irland mit totalitären Tendenzen und zumindest Interesse am Faschismus — eindeutig das Ergebnis jahrelanger, detailversessener Arbeit. Der Autor selber gibt an, an diesem zehn Jahre lang tätig gewesen zu sein. Die Bibliothek Yeats befindet sich heute in der National Library of Ireland in Dublin. Abgesehen von kurzen Einleitungen, welche die folgenden Listen kontextualisieren und einen Überblick zum Leben Yeats, mit einem Fokus auf seine literarischen Werke, geben, bestehen beide Bände aus minutiösen Auflistungen aller Kommentare, Korrekturen und Unterstreichungen, welche Yeats in diesen Büchern hinterlassen hat. Diese Hinzufügungen sind in den Listen allesamt transkribiert, teilweise auch weiter formal beschrieben, beispielsweise ob eine Durchstreichung aus einer, zwei oder gar noch mehr Linien besteht. Unterbrochen sind die Listen nur manchmal von Abbildungen der Kommentare selber, wobei nicht klar wird, warum jeweils diese für die Abbildung ausgesucht wurden. Im ersten Band finden sich Anmerkungen aus Büchern anderer Autor*innen, die Yeast kommentiert hat, im zweiten Band Anmerkungen in seinen eigenen Büchern oder solchen, die er mit herausgegeben hat. Beide Bände vermitteln den Eindruck pedantischer Arbeit und hinterlassen die Frage, für wen und wozu diese Arbeit überhaupt geleistet wurde. Der Autor postuliert in der Einleitung im ersten Band, dass es unwahrscheinlich sei, dass die National Library je diese Werke vollständig digitalisieren würde, wie sie es mit denen von James Joyce getan hat. Deshalb seien diese Listen Material für die Yeats-Forschung. Abgesehen davon, dass das schwer einzusehen ist, warum die National Library diese Digitalisierung nicht beizeiten in Angriff nehmen sollte — immerhin hat sie selber ähnliche Projekte durchgeführt und Yeats gilt für die Literaturgeschichte, insbesondere die Irische, nicht weniger relevant als Joyce —, ist dies wohl tatsächlich die eine, sehr enge Zielgruppe dieses sehr spezifischen Werkes: Forschende, welche es als Grundlage ihrer selber spezifischen Forschung benötigen.
Das dritte Buch über “Stalins Bibliothek” hingegen ist ein weit zugänglicheres Werk. Der Titel ist allerdings etwas irreführend. Die konkrete Bibliothek Stalins — oder, wie im Buch zu lernen ist, die verschiedenen Bibliotheken, die er im Kreml und in seinen beiden Dachas unterhielt — ist tatsächlich Thema und erhält auch ein eigenes Kapitel. Aber ansonsten wird der Begriff Bibliothek hier ausgedehnt auf alle Bücher, Broschüren, Artikel, Reden, die Stalin gelesen oder verfasst hat, auf Publikationsprojekte, Redaktionsarbeit und Eingriffe Stalins in die Publikationen anderer sowie seine Interventionen in den Literatur- und Kulturbetrieb der Sowjetunion. Der Autor ist Historiker mit einem Fokus auf die Geschichte der Sowjetunion und hat auch schon verschiedene Biographien Stalins publiziert. Das vorliegende Buch ist eine weitere dieser Stalin-Biographien, aber jetzt mit einem Fokus auf Bücher, Bibliotheken und das Lesen. Allerdings ist der Inhalt sehr breit aufgestellt und beinhaltet viele weitere Informationen, die teilweise weniger mit diesem Fokus und mehr mit Stalins Leben selber zu tun haben. Eine Grundprämisse des Autors ist, dass Stalin zwar ein Diktator war, der den “grossen Terror” orchestriert hat, aber gleichzeitig auch ein ernsthafter Intellektueller, der intellektuelle Auseinandersetzungen mit Texten und Ideen als Basis von revolutionärer Politik und Aktion angesehen hätte. Das führt nicht unbedingt dazu, dass Stalin entschuldigt wird, aber doch drängt sich teilweise der Eindruck auf, als würde der Autor Stalin in gewisser Weise bewundern. Zumindest widerspricht er auch explizit Versuchen, Stalin psychologisch zu verstehen. Eventuell ist dieses Bild in den anderen Werken des Autors differenzierter, aber zumindest in diesem erscheint Stalin als hart arbeitender, viel lesender und an vielen Themen ernsthaft interessierter Intellektueller. Dies sei nicht überraschend, weil die russische Sozialdemokratie, aus der Stalin stammte, von der Vorstellung geprägt war, dass ihr Marxismus ein wissenschaftlicher sei, der auch eine ständige wissenschaftliche Auseinandersetzung — in Verbindung mit politischer Praxis — bedürfe. Das Lesen sei Teil der politische Praxis gewesen und Stalin — aber auch andere Bolschewist*innen — hätten dies ernst genommen.
Im Buch ist zum Beispiel zu lernen, welche Werke in Stalins Bibliotheken standen, inklusive einer von ihm erstellten Systematik und auch den Namen einiger der Bibliothekarinnen, die für ihn arbeiteten (und zum Teil dem “grossen Terror” zum Opfer fielen). Wert legt der Autor darauf, zu unterstreichen, dass Stalin auch viele Arbeiten von Opfern seiner Politik gelesen hätte — mehrfach stellt er heraus, dass Trotzki von Stalin in seiner Bibliothek eine eigene Systematikstelle erhalten hat — sowie “bürgerliche”. Zudem wird die Lesebiographie des jungen Stalin — der zum Beispiel mehrfach gemassregelt wurde, weil er in den Schulen, die er in Gori und Tiflis besuchte und die von der orthodoxen Kirche betrieben wurden, Bücher aus Leihbibliotheken und radikalen Buchläden lass — ebenso dargestellt, wie Debatten darum, welche Broschüren und Texte er tatsächlich verfasst hat. Aber es finden sich auch Kapitel dazu, welche militärische Literatur Stalin während des Zweiten Weltkrieges gelesen hat oder in welche intellektuellen Debatten er eingegriffen hat. Einen grossen Fokus legt der Autor auch darauf darzustellen, dass Stalin kontinuierlich gelesen und dabei sowohl Anmerkungen in zahlreichen Büchern hinterlassen habe, als auch zahllose Texte editiert hätte. Im längsten Kapitel seiner Biographie geht er Anmerkungen in einigen dieser Bücher durch und kontextualisiert sie. Allerdings merkt man in diesem Kapitel auch, dass der Autor einige akademische Auseinandersetzungen austragen will. Mehrfach stellt er dar, wie andere Forschende bestimmte Anmerkungen in Stalins Büchern interpretiert haben, nur um dann zu sagen, dass die Anmerkungen gar nicht von Stalin stammen, sondern beispielsweise von seiner Tochter Svetlana oder “aus unbekannter Hand”.
Dargestellt ist auch, was mit den Büchern Stalins geschah. Nach seinem Tod wurden diese zusammengehalten, da es einen Plan gab, in seiner Moskauer Dacha ein Museum zu errichten. Mit dem politischen Wandel in den folgenden Jahren wurde dieser Plan zunichte gemacht. Die Bücher wurden an das damalige Institut für Marx-, Engels- und Lenin-Forschung übereignet. Später wurden von diesem die Bücher, welche eindeutig zu Stalins Bibliothek gehörten, weil sie mit einem Ex-Libris ausgestattet waren oder aber Anmerkungen enthielten, zusammengehalten und in einem Zettelkatalog erschlossen. Diese konnte der Autor — allerdings selbstverständlich vor dem 2022 von Russland begonnen Krieg gegen die Ukraine — für seine Forschung nutzen. Der Rest der Bibliothek wurde verstreut, inklusive der gesamten Belletristik. Grundsätzlich scheint diese Biographie von der kleinteiligen Arbeit eines Historikers geprägt, der sich teilweise in Kleinigkeiten verliert, diese manchmal mehrfach wiederholt und auch akademische Kämpfe ausfechten zu müssen glaubt. Es ist nicht schwer zu lesen, aber eine durchgreifendere Redaktion hätte ihm gut getan.
Was in dem Buch auch zu lernen ist — und Bibliothekar*innen in ihrem schlechten Bild von Stalin wieder bestätigen wird —, ist, dass Stalin recht oft Bücher aus Moskauer Bibliotheken borgte, aber auch oft nicht zurückgab und gleichzeitig in Büchern aus diesen Bibliotheken genauso Anmerkungen hinterliess, wie in seinen eigenen. (ks)
Grallert, Till: Die UB richtet einen Scholarly Makerspace ein. In: Future e-Research Support in the Humanities. Wissenschaftsblog zum DFG-Projekt FuReSH II an der Universitätsbibliothek. 31.03.2022. https://blogs.hu-berlin.de/furesh/2022/03/31/ankundigung-scholarly-makerspace/
Die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin baut seit dem Frühjahr 2022 im Rahmen eines DFG-Projektes einen “prototypischen Scholarly Makerspace” auf. In seinem Beitrag erläutert Till Grallert die Elemente und den Ansatz eines solchen Angebots. Im Mittelpunkt steht die digitale Teilhabe, hier bezogen auf “Lehrende und Forschende der Humboldt-Universität in allen Phasen ihrer wissenschaftlichen Karrieren”. Im Scholarly Makerspace haben sie die Möglichkeit, sich forschungspraktisch und zugleich reflexiv mit digitaler geisteswissenschaftlicher Forschung beziehungsweise Digital-Humanities-Ansätzen vor allem aus den Perspektiven Tool Literacy und Datenkritik zu befassen. Der Ansatz der Scholarly Makerspace setzt explizit auf Community-Effekte und nicht auf klassische Schulungsansätze. Besonders die unmittelbare Einbettung von Digital-Humanities-Forschung in die Bibliothek, also eine Art Invertierung der Embedded Librarianship, ist der interessante bibliothekswissenschaftliche Innovationspunkt. (bk)
Müller, Henrik (2022): Der MDPI-Verlag — Wolf im Schafspelz? In: Laborjournal Blog, 13.06.2022, https://www.laborjournal.de/rubric/hintergrund/hg/hg_22_06_03.php
Immer und immer wieder steht die Frage im Raum: Ist MDPI ein Raubverlag, ein predatory publisher? Henrik Müller gibt in dem Beitrag im Blog des Laborjournals einen nuancierten Überblick über die Diskussion. Müller zeichnet die Entwicklung des Verlages, dem am stärksten wachsenden Wissenschaftsverlag der letzten Jahre, nach und gibt kritischen Stimmen Gehör, wobei sich zu allem auch entkräftende Erläuterungen aufzeigen lassen. Im Fazit gibt es (vermutlich wenig überraschend) keine klare Antwort — aber Leser*innen haben ein besseres Verständnis für die Vielfalt der Aspekte (quantitatives Wachstum, Bedeutung von Impact Factor und auffällige Zitationsmuster, Arbeitsabläufe und (technische) Verlagsplattform, Ablauf der wissenschaftlichen Qualitätssicherung und Bearbeitungsgeschwindigkeit, finanzielle Transparenz), unter denen eine solche Frage beleuchtet werden sollte. (mv)
Lauer, Gerhard (2022): Vom Maxwell’schen Modell zum Science Tracking. Entwicklungen des wissenschaftlichen Publizierens und seine Folgen. Keynote bei der Veranstaltung Digitales Publizieren und die Qualitätsfrage: Wege für Open Access in den Geisteswissenschaften, 30.–31.3.2022. Aufzeichnung (ca. 53 min): https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00076116, Miro-Board zum Vortrag: https://miro.com/app/board/uXjVOppsmsQ=/
Gerald Lauer (Professor für Buchwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) gibt in diesem Vortrag einen sehr breiten und dichten Überblick über die Entwicklung des wissenschaftlichen Publizierens: Von der Entstehung der ersten Zeitschriften über die Entwicklung der wissenschaftlichen Verlagslandschaft (mit Schwerpunkt auf dem Geschäftsmodell von Robert Maxwell, welches die Grundsteine legte für den heutigen Oligopolmarkt) bis hin zur Etablierung der uns heute bekannten Konzerne, die auch wissenschaftliche Publikationen verlegen, aber inzwischen einen Schwerpunkt in Data Analytics haben. Lauer thematisiert die Folgen von Publikationszwang, Reputationsmechanismen ebenso wie von Kommerzialisierung und Big Data. Absolute Sehempfehlung! (mv)
N.N. (2022): The Guardian view on Oslo’s Future Library: hope in practice. In: The Guardian / guardian.com, 21.06.2022. https://www.theguardian.com/commentisfree/2022/jun/21/the-guardian-view-on-oslos-future-library-hope-in-practice [Paywall]
Die Redaktion des GUARDIAN kommentiert aktuelle Entwicklungen des norwegischen Future Library Project (Framtidsbiblioteket). Das Projekt ist ein das Thema Bibliothek und kulturelle Überlieferung umspielendes Kunstprojekt der schottischen Künstlerin Katie Paterson. Für den Guardian stechen die Langfristperspektive und der Nachhaltigkeitsanspruch des Projektes heraus. Die Grundidee des Projektes ist, dass für den Zeitraum von 2014 bis 2114 jedes Jahr ein Manuskript in einem neu gebauten Sonderbereich der Deichman bibliotek in Oslo in einem “Silent Room” platziert und ausgestellt wird. Das Lesen der Manuskripte wird erst ab dem Jahr 2114 möglich sein. Für den Neubau nutzte man das Holz von Bäumen, die für einen Hain, den Future Library Forest, gefällt wurden, auf dem seit 2014 begleitend zur Bibliothek 1000 Norwegische Fichten gezogen werden. Die erfolgreiche Durchführung des 100-Jahre-Kunstwerks ist mittlerweile auch vertraglich mit der Stadt Oslo abgesichert. Für den Guardian sind folgende Aspekte “visionär”: Das Projekt ist auf Diversität und nach außen gerichtet. Damit stelle es einen Gegenpunkt zur Diagnose einer vermeintlichen gesellschaftlichen Perspektivverengung und zunehmenden Ab- und Eingrenzung dar. Die “delayed gratification” wird als Gegenmodell zur Ungeduld einer von Social Media dominierten Kommunikation gesehen. Durch die Verbindung von Literatur und Kunst mit Aspekten wie nachhaltiger Forstwirtschaft, öffentlicher Architektur und zivilgesellschaftlichen Engagement setze sie auf eine begrüßenswerte Interdisziplinarität. All das klingt einerseits hochsympathisch und andererseits wie ein Strohhalm, an dem sich eine aktuelle Kulturverzweiflung und Überforderung dankbar festhält. Genau genommen ist das Projekt eine spezifische Variation der “Slow culture”-Ansätze, die seit ein paar Jahrzehnten in unterschiedlichsten Formen auftauchen. Die Redaktion schreibt von “hope in practice”. Es gibt sicher auch keinen Grund, übermäßig kritisch auf die Sache zu schauen. Aber zugleich auch wenig Anlass, eine sehr privilegierte Umsetzung der alten Zeitkapselidee als singuläres Hoffungszeichen über den grünen Setzling zu loben. (bk)
Stenning, Philip (2022): Academic prestige. In: The Economist. October 15th-21st 2022. Letters. S, 18, https://www.economist.com/letters/2022/10/13/letters-to-the-editor [Paywall]
In einem Leser*innenbrief zu einem Artikel über Bias beim Peer Review benennt der*die Einsender*in ein aus eigener Sicht entscheidendes Problem der wissenschaftlichen Qualitätssicherung. Der Erfahrung nach sind weniger die Reviewenden selbst die Quelle einer möglichen Voreingenommenheit, sondern die Herausgebenden, die eine spezifische und offenbar bisweilen verkürzte Perspektive auf die zu ihrer Zeitschrift thematisch passenden Inhalte haben. Da sie zugleich jeweils die Reviewenden für die doppelt anonymisierte Begutachtung auswählen, entscheiden sie sich oft für Reviewende, die ihre Perspektive eher teilen. Als Steuerungsmaßnahme empfiehlt Stenning einerseits, diesen Faktor bei der Wahl der Herausgebenden zu berücksichtigen und zweitens, dass es ein “editorial advisory board” gibt, in dem gezielt eine erweiterte Meinungsvielfalt zum Forschungsfeld vertreten ist. (bk)
Lohmer, Andreas; Blöß, Louise (2022): Öffentliche Bibliotheken. Nur sieben mit eigenem Beinamen. In: katapult-mv.de. https://katapult-mv.de/artikel/nur-sieben-bibliotheken-mit-beinamen [Paywall]
Katapult-MV hat ausgezählt, wie viele der öffentlichen Bibliotheken in Mecklenburg-Vorpommern einen Bei- oder Ehrennamen tragen. Es sind sieben von insgesamt 82 Bibliotheken. Gewürdigt werden: Hans Fallada (Greifswald und Feldberger Seenlandschaft), Johann Christoph Adelung (Anklam), Maxim Gorki (Heringsdorf), Uwe Johnson (Güstrow), Käthe Miete (Ahrenshoop), Ludwig Reinhard (Boizenburg). (bk)
Staretzek, Juliane (2022): Roboter holen Bibliothekspreis nach Schkeuditz. In: Leipziger Volkszeitung. 15./16.10.2022, S. 23. [gedruckt]
Im Regionalteil auf der Seite “Rund um Leipzig” stellt Juliane Staretzek die Stadtbibliothek Schkeuditz und ihre Leiterin, Stefanie Maiwald, kurz vor. Anlass ist die Auszeichnung der Bibliothek mit dem mit 10.000 Euro dotierten Sächsischen Bibliothekspreises. Das Porträt liefert beispielhaft ein Stimmungsbild für aktuelle Entwicklungen in öffentlichen Bibliotheken. Dabei sticht der Ansatz heraus, die Bibliothek, mit dem Angebot kleiner Lego-Roboter gezielt als Ort auch der natur- und technikwissenschaftlichen Bildung zu gestalten. (bk)
Wang, Vivian: In China, Living Not ‘With Covid,’ but With ‘Zero Covid’. In: New York Times. Oct. 2, 2022, Section A, Page 14. https://www.nytimes.com/2022/10/01/world/asia/china-covid-zero.html
Im “China Dispatch” der New York Times berichtet Vivian Wang über die Alltagswirkungen der Umsetzungen der Zero-Covid-Strategie in China und erwähnt dabei unter anderem, dass es in der Guangzhou Library Desinfektionsanlagen für Bibliotheksbücher gibt, die aussehen wie “High-Tech-Kühlgeräte”. Die Information wird mit einer Fotografie der “Book Sterilizing Machine” illustriert. Auf diesem Bild ist ein Informationsschild erkennbar, das eine alle zwei Stunden stattfindende Desinfektion der Geräte verkündet und die Nutzenden der Bibliothek auffordert, mindestens einen Meter Abstand voneinander zu halten. (bk)
[Diesmal keine Beiträge]
rsp (2022): AGB bekommt Anbau. An der Blüchestraße entsteht bis Ende des Jahres eine temporäre Bibliothekserweiterung. In: KIEZ UND KNEIPE. Mai 2022 (18. Jahrgang), S. 1, 3, https://archiv.kiezundkneipe.de/2022/2022-05.pdf
Die Kreuzberger Nachbarschaftszeitung KIEZ UND KNEIPE informiert über aktuelle Bauvorhaben bei der Amerika-Gedenkbibliothek. Während die eigentliche Erweiterungsbebauung erst noch ausgeschrieben wird, entsteht seit Mai 2022 ein so genannter “Tempobau”, also eine eingeschossige Zwischenerweiterung um 800 Quadratmeter, die der sehr stark genutzten Bibliothek mit neuen Arbeitsräumen und Veranstaltungsbereichen eine räumliche Entlastung verschaffen soll. (bk)
pm (2022): Das BiboBike lädt zum Lesen ein. Fahrbare Leseinsel mit Büchern, Hörbüchern – und Hängematten. In: KIEZ UND KNEIPE. Mai 2022 (18. Jahrgang), S. 14, https://archiv.kiezundkneipe.de/2022/2022-05.pdf
Die Stadtbibliothek Friedrichshain-Kreuzberg verfügt über ein extra für diesen Zweck angefertigtes Bibliotheksfahrrad (“BiboBike”), das seit Ende April durch die Parkanlagen des Berliner Bezirks unterwegs ist. Auf der den kurzen Artikel begleitenden Fotografie zeigt sich auch die Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann sichtlich sehr erfreut über das Angebot. (bk)
r. (2022): Über die Digitalisierung alter Thurgauer Ansichtskarten. In: Schaffhauser Nachrichten. Lokalteil Stein/Diessenhofen. 10.06.2022, S. 20 [gedruckt]
Das Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld (Schweiz) digitalisiert seit 2016 etwa 25.000 Ansichtskarten mit lokalen Bezug und stellt diese in einer digitalen Sammlung unter https://archives-quickaccess.ch/search/statg/ansichtskarten bereit. Eine Herausforderung bei der Erschließung ist die Datierung, so Martina Rohrbach, Leiterin der Abteilung Bestandserhaltung im Staatsarchiv. Das Urheberrecht des Datenbestandes wird zudem sehr eng und eher nachnutzungshinderlich interpretiert: “Nur Aufnahmen von Privatpersonen, die seit mehr als 70 Jahren tot sind, seien nicht mehr geschützt […].” Im Archiv finden sich je nach Objekt unterschiedliche Angaben zum Urheberrechtsschutz. Hochauflösende Digitalisate lassen sich aber jeweils gegen Gebühr beim Staatsarchiv bestellen.(bk)
Günter de Bruyn: Zum Thema: Lesen. In: Situation 66. 20 Jahre Mitteldeutscher Verlag Halle (Saale) Verlag für neue deutsche Literatur 1966. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1966. S.139—141 [gedruckt]
Für einen Sonderband zum Verlagsjubiläum des Mitteldeutschen Verlags veröffentlichte der Autor und Bibliothekswissenschaftler Günter de Bruyn eine Reflexion über die Praxis des Lesens, in der er auch auf eines der zentralen Bibliotheksklischees nicht nur dieser Zeit anspielt. Gemeint ist die landläufige Meinung, Bibliothekare würden “immerfort lesen”. Er weist darauf hin, dass dies nicht so ist, da Bibliothekare (bei ihm nur Maskulinum) das Lesen als ihre eigentliche “Hauptarbeit” nur außerhalb der Arbeitszeit erledigen können. Zudem würde man schlecht bezahlt, wobei das wiederum vielleicht mit der Vorstellung zusammenhängt, dass man als Bibliotheksmitarbeitende “nichts zu tun [braucht]”. Interessant ist, dass de Bruyn die Brücke zur Ausbildung schlägt. Bei der “Aufnahmeprüfung für die Bibliothekarschule” mussten die Antragstellenden offenbar ihre Berufswahl begründen. Betonte die Begründung den Aspekt der Zuneigung zum Buch, “wurden die Gesichter so traurig, daß man aus Mitleid für die prüfenden Damen die Sorge um die eigene Zukunft vergaß.” Gewünscht war nämlich, die “Liebe zum Menschen” und das Streben, die Menschen mittels Bücher zu besseren ihrer Art zu machen. (bk)
Ukeles, Raquel ; Finkelman, Yoel (2021). NLI USA Signature Speakers Series. Curators Corner: Building the World\’s Greatest Judaica Collection. National Library of Israel, https://youtu.be/40DvGzP4DGM (1h 12min)
In diesem Videovortrag präsentieren zwei Kurator*innen der National Library of Israel deren Arbeit. Interessant ist dabei, dass sich die Bibliothek nicht nur als Nationalbibliothek des Staates Israel versteht, sondern auch als Bibliothek des Judentums im Allgemeinen. Die historischen Gründe dafür werden kurz dargestellt, aber interessant für Bibliotheken ist wohl vor allem, wie diese Arbeit, das Schrifttum der jüdischen Diaspora zu sammeln, bewerkstelligt wird. Sicherlich ist ein Vortrag zu kurz, um alle Fragen ausgiebig zu diskutieren — beispielsweise, wer eigentlich alles zu dieser Diaspora gehört —, aber es geht hier um Kooperationen mit Institutionen, Sammler*innen und Spender*innen im globalen Rahmen und um Dilemmata, die bei dieser Arbeit auftauchen. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Digitalisierung — sowohl als Möglichkeit, Medien zugänglich zu machen, als auch als Herausforderung, digitale Medien zu sammeln — angesprochen. Zu guter Letzt wird vor allem in der Fragerunde betont, dass es die Aufgabe der Bibliothek ist, Medien für die “gesamte Community” zur Verfügung zu stellen und nicht nur für ausgewählte Forschende. Es wird explizit zum Besuch des neuen Gebäudes der Bibliothek eingeladen, welches zum Zeitpunkt des Vortrags 2022 eröffnen sollte, aber jetzt erst 2023 fertiggestellt sein wird. (ks)
Waldron, Angela (2022). Northeast Harbor Library and the Farnsworth Present A Lecture: Women in American Book Cover Design. Farnsworth Art Museum, https://youtu.be/Rvw6L_A0Ptk (1h 10min)
In der im Titel genannten Ausstellung “Women in American Book Cover Design” im Farnsworth Art Museum geht es um Buchcover, die ab den 1880er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges vor allem in Boston (dem damaligen Zentrum der US-amerikanischen Buchindustrie) von einer Anzahl von Frauen gestaltet wurden. Sie stammen aus der Sammlung der Museumsbibliothek. Die Kuratorin stellt vor allem die Bücher selber vor und gibt jeweils kurze biographische Skizzen zu den Gestalterinnen. Gleichzeitig ordnet sie die Cover in ihre Zeit ein: Frauen ergriffen damals mit dem Buchdesign eine der wenigen Möglichkeiten, selbstbestimmt beruflich und künstlerisch tätig zu sein. Gleichzeitig wurde von den Verlagen immer mehr Wert auf die Gestaltung ihrer Ausgaben gelegt, aber noch nicht zur Massenproduktion übergegangen. Die Bücher und damit auch die Cover, die in der Ausstellung gezeigt werden, waren noch Luxus, wenn auch einer, der für immer mehr Menschen immer erreichbarer wurde.
Auch wenn die Kuratorin in der Präsentation auf Unterschiede zwischen den Covern eingeht, ist doch sichtbar — wie sie auch am Beginn kurz erwähnt —, dass alle diese Designerinnen von den miteinander verwandten Kunstbewegungen Arts and Crafts, Jugendstil und Art Nouveau geprägt waren. Beispielsweise überwiegen Blumenmotive. (ks)
(Herbst / Winter 2021)\". LIBREAS. Library Ideas, 40 (2021).
[https://libreas.eu/ausgabe40/dldl/](https://libreas.eu/ausgabe40/dldl/)
Vergleiche Redaktion LIBREAS, \“Das liest die LIBREAS, Nummer #9↩