Letztlich ist die Dekolonialisierung von Geist und Wissen der erste Schritt zur Dekolonialisierung von allem anderen. Nicht nach den Regeln des hegemonialen Systems zu denken oder die bestehenden Mittel des kolonialistischen Denkens zu kritisieren, scheint also die grundlegende Phase zu sein, um wirklich Gleichheit zu erreichen.1 Nihan Albayrak-Aydemir
Spontan ist meine Antwort auf diese Frage: Aus mehreren Gründen. Es gibt kein Aha-Erlebnis
, das mich mit dem Thema in Verbindung gebracht hat. Aber es gab eine inspirierende, sensibilisierende Veranstaltung. In der Rückschau weiß ich heute, dass die ARLIS-Konferenz 20192 und insbesondere die Gespräche mit Tavian Hunter, der Leiterin der Bibliothek des Londoner Institute of International Visual Arts und Beck Wonders, eine Doktorandin an der Glasgow School of Art und Mitbegründerin der Vancouver Womens Library, im Anschluss an diese Konferenz, zu einer Art Erkenntnis führten. Dieser Austausch veränderte meine Wahrnehmung.
Da ich in einer ländlichen Region im Osten Deutschlands aufwuchs, blieb die Konfrontation mit rassistischen Personen und rassistischem Verhalten schon in jungen Jahren leider nicht aus. Das Studium in Leipzig verbesserte daran wenig, wenngleich die Stadt als Sonder- oder Glücksfall in einer Region mit enorm hoher AfD- und NPD-Wähler-Dichte gelten könnte. Doch auch hier berichten BIPoC3-Freunde von Alltagsrassismus und viele verlassen aufgrund einschneidender Erlebnisse und dem Wunsch nach mehr Diversität im Alltag die Region.
Vor dem Horizont dieser Erfahrungen erkannte ich nach und nach meine Privilegien als weiße Person, die ich zuvor nie realisiert hatte: Ich werde nicht in der Straßenbahn angestarrt, nicht gefragt, warum ich so gut Deutsch spreche und woher meine Eltern kommen, ob ich gut tanzen oder Basketball spielen könne, meine Haare werden nicht ungefragt angefasst, …
Zugleich muss ich erkennen, dass auch ich mit Stereotypen und Vorurteilen aufwuchs, diese verinnerlichte und sie daher weniger leicht abschütteln kann, als ich es mir wünsche. Der Prozess der Erkenntnis, wie Weltbilder meiner Kindheit (geprägt durch den Orient
romantisierende Märchen, Rassismen reproduzierende Kinderbücher und -lieder und dem Wiederaufleben völkischer Ideologie in der mich umgebenden Gesellschaft nach dem Mauerfall4) zwangsläufig meine heutigen Gedanken beeinflussen, bleibt unabgeschlossen. Wie gehe ich damit um? Ich versuche immerhin die Tatsache, mir dessen bewusst zu sein und immer wieder mein Denken und Handeln zu hinterfragen, als kleinen Erfolg zu verbuchen. Zufriedenstellend ist es nicht.
Mit kleinen Schritten versuche ich, aktiv dagegen anzugehen. Zum Beispiel überprüfe ich meine Sprache und mein Konsumverhalten. Und ich bemerke – trotz der mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts eines omnipräsenten, imperialistischen, kapitalistischen Systems, das von Beginn an auf der Unterdrückung Anderer für Privilegien aufgebaut ist, die auch meine sind.
Als Bibliothekarin bin ich grundsätzlich neugierig. Zugleich sehe ich eine gewisse Verantwortung in meinem Beruf – eine Überzeugung, die ich mit Antonia Paula Herm und vermutlich vielen weiteren im Bibliotheks- und informationsvermittelnden Bereich Tätigen teile – und zwar, dass Akteur*innen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich eine besondere Verantwortung haben, der historischen Verantwortung Deutschlands […] gerecht zu werden.
5
Die eingangs genannte Konferenz habe ich eher zufällig besucht. Zum 50-jährigen Jubiläum von ARLIS reiste ich als Vertretung der deutschen Schwesterorganisation
, der Arbeitsgemeinschaft für Kunst- und Museumsbibliotheken (AKMB) nach Glasgow, mit dem Auftrag dem deutschsprachigen Kollegium im Anschluss davon zu berichten. Tatsächlich wurde ich erst bei der Ankündigung der Kongressthemen hellhörig – ein ganzer Themenkomplex wurde critical librarianship and decolonising the curriculum
gewidmet.6 Decolonising
– ein Begriff der mir bis dahin kaum begegnet war. Ich hatte zuvor schon von Postkolonialismus gehört und bemerkt, dass die Verbrechen der Kolonialgeschichte vieler europäischer Länder mittlerweile nicht mehr ganz so verborgen unter den Teppichen bleiben, unter die man sie lange zu kehren versuchte.
Was aber hatte so ein Thema auf einer Bibliothekskonferenz zu suchen?
Die Keynote von David Dibosa war mit Re-Worlding our Knowledge
überschrieben und brachte die Teilnehmenden in anregende, teils emotionale Diskussionen zu den Themen Rassismus in unserer Sprache
, Aktivismus in der Bibliothekspraxis
, Problematische Sammlungsbestände identifizieren und darüber kommunizieren
und die, wie sich zeigte, nur vermeintliche Neutralität und Unabhängigkeit unserer Arbeits- und Sichtweisen.
Mehrfach wurde während des Vortrags deutlich, dass in fast all unseren bibliothekarischen Angeboten vorrangig die westliche bzw. eurozentrische Sicht7 vermittelt wird, während Perspektiven der Marginalisierten oft nicht vorkommen oder gar ignoriert werden.
Im Laufe der Gespräche erkannte auch ich einige Dinge, die ich in meinem Arbeitsumfeld unterbewusst wahrnahm, aber nie benennen konnte. Dazu zählen ebenso die Unausgewogenheit von Sammlungen (zum Beispiel in Bezug auf Religion, Geschlecht, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung), wie auch rassistische Bezeichnungen – nicht nur in bibliothekarischen Nachweisinstrumenten, sondern auch in unserer Alltagssprache und die Auswahl der Informations- und Bezugsquellen auch meiner
eigenen Bibliothek, der Bibliothek der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.
Diese Erkenntnis und auch der motivierende Aufruf David Dibosas, aktiv diesen Prozessen entgegenzuwirken, motivierte mich, zu einer intensiveren Beschäftigung mit der Dekolonialisierung
. Im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beginne ich der Unausgewogenheit durch gezielte Erwerbung nicht-weiß, nicht-europäisch, nicht-männlich, nicht-heteronormativ gelesenen Publizierenden und Kunstschaffenden entgegenzuwirken und das Angebot und die Bezugsketten meiner Lieferfirmen zu hinterfragen. Bibliotheksangebote möglichst in mehreren Sprachen (mindestens aber in Englisch) zu kommunizieren und unsere hauseigene Klassifikation auf diskriminierende Bezeichnungen und Zuordnungen zu prüfen. Weitere Schritte sind mich weiterzubilden und meine Erkenntnisse beziehungsweise meinen Weg zu diesen zu teilen.
Zum Beispiel in einem LIBREAS-Artikel.
Übersetzt aus dem Blogbeitrag von Nihan Albayrak (2018): Diversity helps but decolonisation is the key to equality in higher education. In: Eden Centre for Education Enhancement. Contemporary Issues in Teaching and Learning. Siehe dazu https://lsepgcertcitl.wordpress.com/2018/04/16/diversity-helps-but-decolonisation-is-the-key-to-equality-in-higher-education (letzter Zugriff aller Links am 01.12.2021).↩︎
Art Library Society UK & Ireland – siehe dazu https://arlis.net.↩︎
Abkürzung für
Black, Indigenous and People of Color
.↩︎Siehe dazu unter anderem Peter Nowak (2015): https://www.heise.de/tp/news/Warum-gibt-es-prozentual-mehr-Rassismus-in-Ostdeutschland-2784260.html.↩︎
Antonia Paula Herm: Koloniale Spuren in bibliothekarischen Sammlungen und Wissensordnungen, Masterarbeit am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin (2019), S. 48. (unveröffentlicht). Siehe auch Beitrag von Paula Herm in dieser Ausgabe: https://doi.org/10.18452/23801.↩︎
Das detaillierte Programm inklusive Abstracts der Beiträge gibt es hier: https://duncanchappell.wixsite.com/arlis2019; wer Interesse am Konferenzbericht
A Pioneering Past. A Vibrant Future
hat, kann diesen im Heft 1/2 der AKMB-News (Jg. 26; 2020) ab S. 87 nachlesen: https://doi.org/10.11588/akmb.2020.1/2.76456).↩︎Präziser wäre es vermutlich, statt der
eurozentrischen
oderwestlichen
Sicht auf den globalen Norden zu verweisen, wobei auch um dessen Definition derzeit noch gerungen wird. Eine Visualisierung, welche Länder zum globalen Norden und welche zum globalen Süden gezählt werden, findet sich hier bei SterpMap (2013): https://www.stepmap.de/karte/globaler-sueden-globaler-norden-V7WKiFRkie.↩︎
Yvonne Schürer war nach dem Diplomstudium an der HTWK Leipzig für die Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz tätig. Seit 2014 leitet sie die Bibliothek der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Derzeit studiert sie berufsbegleitend das Masterstudium am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Abschlussarbeit, die sie im Oktober 2021 eingereicht hat, trägt den Titel Was bedeutet Dekolonialisieren für Bibliotheken?
. schuerer@hgb-leipzig.de