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doi:10.18452/23806 (edoc HU Berlin)

Die Ethik des Digitalisierens: Fragen zum Umgang mit Materialien aus kolonialen Kontexten in der Massendigitalisierung


Zitiervorschlag
Matthias Harbeck, "Die Ethik des Digitalisierens: Fragen zum Umgang mit Materialien aus kolonialen Kontexten in der Massendigitalisierung". LIBREAS. Library Ideas, 40 ().


Digitalisierung wirkt auf den ersten Blick wie der Versuch eines antikolonialen Projektes, geht sie doch oftmals mit dem Ruf nach einer breiteren Zugänglichmachung via Open Access einher: Material, das vorher einer privilegierten Elite vorbehalten war, ist nun grenzüberschreitend in aller Welt digital und kostenlos verfügbar. Es fallen keine teuren Reisekosten mehr an, um Unikate in Spezialbibliotheken einzusehen. Die FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, Reusable) unterstreichen diesen Anspruch, der Sichtbarkeit und Verbreitung von Wissen zu dienen – viele Infrastruktureinrichtungen orientieren sich mittlerweile an ihnen. Es bleibt aber zu hinterfragen, ob die digitale Form wirklich allen einen besseren Zugang ermöglicht: Digitalisierung setzt eine leistungsfähige digitale Infrastruktur auf Rezipient*innenseite voraus, damit der Zugriff auf die Ressourcen tatsächlich vereinfacht wird. Auch muss ein Wissen um die Angebote sowie die Fähigkeiten diese zu navigieren, zu verstehen (und Sprachbarrieren zu überwinden) und zu benutzen bei allen potentiellen Nutzenden vorhanden sein, damit sich die Angebote nicht wieder nur an privilegierte Gruppen richten. Um Sprachbarrieren zu überwinden, würde dies Metadaten (Schlagwörter, Beschreibungen) voraussetzen, die in breit genutzten Wissenschaftssprachen recherchierbar sind. Und selbst wenn diese Grundvoraussetzungen einer Nutzung der Digitalisate gegeben wäre, bleibt bei Materialien aus kolonialen Kontexten1 die Frage, ob dann das ihnen innewohnende koloniale Machtgefüge durch die neuen Zugriffsmöglichkeiten tatsächlich aufgelöst, oder nicht doch eher durch die Publikation teils rassistischer, aber in jedem Fall durch ihren Zeitgeist beeinflusster Materialien in anderer, also digitaler Form reproduziert wird. Damit könnte es zu einer antagonistischen Gegenüberstellung der FAIR-Prinzipien mit den sogenannten CARE-Prinzipien (Collective Benefit, Authority to Control, Responsibility, Ethics) kommen, bei der indigene Rechte an den eigenen Daten (auch denen, die von anderen über sie erhoben wurden) und auch die Hoheit darüber dem freien Zugang entgegengesetzt werden.2 Der folgende Artikel möchte dieses Spannungsverhältnis am Beispiel von Materialien aus kolonialen Kontexten verdeutlichen und zur Diskussion stellen, ob und inwieweit ethische Vorbehalte in der Massendigitalisierung dieser Ressourcen berücksichtigt werden können/sollten.

Bevor aber tiefer in die Materie der Digitalisierung eingegangen wird, möchte ich kurz klarstellen, dass im Kontext dieses Artikels Digitalisierung die Umwandlung oder Konvertierung von gedruckten/analogen Materialien in eine digitale Form bedeutet. Obwohl dies Auswirkungen auf das Informationsverhalten in der Gesellschaft im Allgemeinen hat, werde ich die Frage der Digitalisierung als gesellschaftliche Revolution auf einer größeren Ebene nicht berühren, abgesehen von den direkten Auswirkungen, die ehemals analoge Materialien entwickeln, wenn sie in eine (vermeintlich) leichter zugängliche und verbreitungsfähige digitale Form umgewandelt werden.

Seit Jahren digitalisieren vor allem Bibliotheken und Archive Texte und Dokumente, um ihren Nutzenden Informationen digital und damit zeit- und ortsunabhängig zur Verfügung zu stellen, oft im Zusammenhang mit der Open-Access/Open-Science-Bewegung oder einfach als Teil der sogenannten Bestandserhaltung zur Schonung der fragilen Materialien in der Benutzung (der Schritt der Digitalisierung ist in diesem Zusammenhang eingebettet in Fragen der Langzeitarchivierung, um wirklich langfristig eine Bestandserhaltung zu gewährleisten).

Ein frühes prominentes Beispiel war die Digitalisierung von Quellen aus dem spanischen Archivo General de Indias zum Gedenken an Christoph Kolumbus’ Begegnung mit der sogenannten Neuen Welt anlässlich der 500-Jahr-Feier dieses historischen Moments im Jahr 1992.3 Angesichts der Digitalisierungsstandards der 2010/20er-Jahre verfehlen die meisten dieser frühen Digitalisate alle heutigen Anforderungen und sind für gegenwärtige Recherchierende kaum nutzbar – sie sind mit einer Auflösung von maximal 100 dpi, in schwarz/weiß digitalisiert und oftmals ohne flächendeckende Texterkennung erzeugt worden. Seither wurde die Digitalisierung aus technischer Sicht um ein Vielfaches verbessert: Es wurden formale Standards etabliert (Mindestauflösung von 300 dpi, Präsentationsformat PDF, Archivierungsformat TIFF, Nachweis von Farbschemata und einer Mindest-Farbbitrate von 24-Bit, Metadatenerfassung und Metadatenformate).4 Dadurch wurden die Auflösung und die Texterkennung OCR (Optical Character Recognition) deutlich verbessert und letztere befindet sich stetig in der Weiterentwicklung. Der Vergleich von damals mit heute zeigt, dass die Voraussetzungen, unter denen digitalisiert wird, nicht fixiert, sondern im ständigen Wandel begriffen sind. Dieser Wandel muss nicht auf technische Aspekte beschränkt sein. Wenn sich ethische Standards ändern, könnten auch diese Einfluss auf die Parameter zukünftiger Digitalisierungsprojekte haben.

Im Zuge der Open-Access-Bewegung ist die Massendigitalisierung für jede größere wissenschaftliche Bibliothek und viele Spezialbibliotheken zu einer Selbstverständlichkeit geworden – auch für den Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie (FID SKA). Der Fachinformationsdienst digitalisiert ethnologische Werke aus einem Veröffentlichungszeitraum von über 200 Jahren, um Forschenden mit (meist) ethnologischem Hintergrund historische und manchmal auch neuere Materialien zur Verfügung zu stellen, die sonst nicht so leicht zugänglich sind. Diese Digitalisierung wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mittlerweile im dritten Projekt und in der Förderlinie Digitalisierung und Erschließung (Programm Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme, LIS) gefördert. Sie hat primär das Ziel, der deutschsprachigen Forschung Material möglichst einfach zugänglich zu machen. Eine der Auflagen dieser DFG-Förderung beinhaltet die Forderung, das in solchen Projekten digitalisierte Material möglichst umfassend (maximal fünf Prozent können ausgenommen werden) frei im Internet anzubieten.5

Diese Verfahrensweise führt bei dem überwiegend ethnologischen Material, das im FID SKA digitalisiert wird, zu einigen Fragen:

  1. Wenn das Ziel der Digitalisierung ist, dass möglichst freier Zugang zu dem Wissen entsteht, wie gewährleisten wir, dass zum Beispiel die Länder und Regionen, in denen die Forschungen stattfanden, über die Digitalisierung Bescheid wissen und diese nutzen können? Wie können sprachliche Barrieren überwunden werden? Wie kann eine Informationspolitik aussehen, die über das eigene Land hinausgeht?

  2. Das Material, das zum Beispiel in kolonialen Kontexten entstanden ist, bildet vielfach die Denkmuster, Einstellungen und Wissensordnungen seiner Zeit, mit all seinen Rassismen, machtpolitischen Verwerfungen und verletzenden Übergriffen ab. Die Transformation in eine digitale Form überführt Unrecht beziehungsweise ethisch Fragwürdiges in ein noch besser sichtbares Format und macht es – gerade unter der Prämisse des freien Zugriffs und des oftmals vertretenen Anspruchs auf Open Access – einfach multiplizierbar. Die ethischen Implikationen einer solchen Transformation werden von den digitalisierenden Einrichtungen erst allmählich diskutiert.

  3. Das auf diese Weise zumindest im sogenannten Globalen Norden meist einfacher zugängliche Material ist in der neuen Form leicht reproduzierbar, multiplizierbar und aus seinem Kontext entnehmbar. Möchte und sollte man als Einrichtung unkontrollierten Zugriff gewähren oder haben die Einrichtungen eine ethische und didaktische Verantwortung, Präsentation und Zugriff zu regulieren und zu kontextualisieren?

Und wie können sogenannte Herkunftsgesellschaften beziehungsweise der Globale Süden sowie die Bedürfnisse der Forschung bei diesen Entscheidungen und Diskussionen einbezogen werden, um hier nicht wieder koloniale Strukturen der Wissensordnung neu zu beleben? Für den Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie ist dies eine neue Leitfrage, mit der sich das laufende Digitalisierungsprojekt auseinandersetzen muss.

2013 wurde mit Finanzierung durch die DFG mit der Digitalisierung am damaligen Sondersammelgebiet Volks- und Völkerkunde, dem Vorgängerprojekt des FID SKA, begonnen. Der Fokus lag dabei zunächst – in Absprache mit unserem wissenschaftlichen Beirat – auf deutschsprachigen ethnologischen Periodika. Unser Ziel war es, nicht nur historische Materialien zu digitalisieren, sondern in die nahe Vergangenheit zu reichen, um den gesamten Zeitraum der ethnologischen Forschung abzudecken. Durch Vereinbarungen mit Verlagen und der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) gelang es uns sogenannte Moving Walls (von zwei bis fünf Jahren) zu verhandeln und damit Materialien bis fast in die Gegenwart digitalisieren zu können. Zu den ältesten Titeln in diesem Bestand gehören die frühen Jahrgänge der Zeitschriften Zeitschrift für Ethnologie6 (ab 1869) und Globus : illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde7 (ab 1862). Das Korpus wurde in einem zweiten Projekt ab 2016 um weitere Zeitschriftentitel – vor allem auch aus den Museen – erweitert, und Anfang 2021 ist das dritte Projekt gestartet, das diesmal Monographien von 1800 bis 1920 und DDR-Dissertationen zu ethnologischen Themen umfasst. Mit allen drei Projekten werden wir nach Abschluss eine Zeitspanne von 1800 bis in die frühen 2020er-Jahre abdecken. Im dritten Projekt war mit der Beantragung auch die Frage nach dem Umgang mit Materialien aus kolonialen Kontexten aufgeworfen.

Da viele dieser digitalisierten Materialien im FID SKA und auch in anderen Institutionen (Museen, Bibliotheken, Archiven) aus kolonialen Kontexten stammen, spiegeln die Sprache und der Inhalt tendenziell deren Zeitgeist wider. Diskriminierende Sprache und entmenschlichende oder sonstige (aus heutiger Sicht) unethische Darstellungen sind häufig vertreten. Bei vielen Abbildungen kennen wir die Umstände ihrer Entstehung schlichtweg nicht. Innerhalb eines Projektes zur Massendigitalisierung ist eine umfassende Recherche einzelner Personen, Abbildungen und Forschungskontexte nicht möglich, weswegen diese Entstehungsumstände bis auf Weiteres unbekannt bleiben, wenn sie nicht in den Bildunterschriften explizit genannt (und damit in die Metadaten übernommen) werden. Ein paar Beispiele solcher Materialien illustrieren unterschiedlich problematische Kontexte, die in den Digitalisaten auftreten können. Da wir die Bilder nicht unnötig reproduzieren möchten, verlinke ich auf die Digitalisate bei digi.evifa.de:

Beispiel 1: https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/110/

B. (1926): Unter den Ocainas-Indianern. Mit zwei Abbildungen auf Tafel 16, in: Der Erdball 1, 2, 1926, S. 70–71. Tafel 16 Abb. 1. Schmuckbemalung der Ocainasweiber. […] Abb. 2. Schluß des großen Tanzes bei den Ocainasmädchen. Erst wenn der Tanz vorbei ist, mischen sich die Männer unter die jungen Mädchen. Die Tafelseite ist beschriftet mit dem Hinweis: Zu: Domville, Unter Wilden am Amazones.

Beispiel 2: https://digi.evifa.de/viewer/image/BV046142989/45/

Boas, Franz (1927): Primitive art. Oslo: H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), S. 45. Plate II. Andaman Islander.

Beispiel 3: https://digi.evifa.de/viewer/image/BV047081776/52/

Frizzi, Ernst (1914): Ein Beitrag zur Ethnologie von Bougainville und Buka mit spezieller Berücksichtigung der Nasioi. Leipzig und Berlin: B.G. Teubner, S. 44. Fig. 65. Nasioimann mit Ziernarben an Brust und Armen.

Beispiel 4: https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/248/

Schlee Pascha (1926): Die Frau im Islam. Mit 8 Abbildungen auf Tafelseite 33–35, in: Der Erdball 1, 5, Tafel 34. Abb.4. Die Türkin vor der Zeit der Republik. Abb. 5. Mohammedanische Negerin. Abb. 6. Die Türkin jetzt.

Beispiel 5: https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/60/

Sieber, J. (1926): Vorstellungen der Bantu- und Sudan-Neger über die Ursachen der Krankheiten. Hierzu Tafelseite VII und VIII mit 6 Abbildungen, in: Der Erdball, 1, 1, S. Tafelseite VIII. Tafelseite VIII 1. Wute-Häuptling Meosi mit einem Teil seiner Familie. (Die kleinen, aufgeweckten schwarzen Buben wurden auf der Missions-Station verbunden.). 2. Physiognomien einer Träger-Karawane. (Wute-, Bafia-, Bati- und Banén-Leute.). 3. Torwächter und Sprechtrommel am Eingang des Königspalastes in Bamum. 4. Haarschmuck von Tikar-Frauen. (Hervortretende Kropfbildung)

In ihrer Präsentation der Anderen als überwiegend Nackte – zum Teil gepaart mit Unterschriften wie Unter Wilden oder wie bei Boas’ Werk im Zusammenspiel mit dem Werktitel Primitive Art – wird die Assoziation der zivilisatorischen Unterlegenheit geweckt. Darstellungen biologistischer Körpervermessungen (Physiognomien), die Subjekte zu Objekten degradieren und die Etablierung (oder Reaktivierung) von Stereotypen (wie bei der islamischen Frau durch feste Typen, die vorgestellt werden) sind weitere, wiederkehrende Elemente bei diesen bildlichen Darstellungen. Auch die Frage, wie freiwillig die jeweilige Fotografie in Kauf genommen oder vielleicht sogar befürwortet wurde, lässt sich anhand des Bildmaterials selten erschließen.8 Für sich genommen ist das Bildmaterial oft nicht verständlich, im Kontext des freien Zugangs im Internet wird dies problematisch, da die Forschungszusammenhänge – gerade bei Tafelseiten – oftmals für Lai*innen nicht ersichtlich sind.

Verbunden mit den allgemeinen Fragen der freien Bereitstellung dieser Ressourcen auf unseren Servern sind Fragen der Nutzung dieser Materialien für die Öffentlichkeitsarbeit und in der Informationspolitik zu den Materialien: Für unsere Webseite www.evifa.de haben wir Public-Domain-Abbildungen aus unserem eigenen Digitalisierungsprojekt zur Illustration der Seite verwendet.

Zunächst wurden dabei auch Bilder verwendet, auf denen Menschen abgebildet sind. Im Zuge der internen Diskussion um den Gebrauch und Kontext der Bilder wurden fast alle ersetzt, da die Umstände der Herstellung dieser Motive unklar waren. Gab es eine Einwilligung? Wurde die Einwilligung freiwillig gegeben?

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Werbung für unsere Digitalisierungsbemühungen über Twitter: Über den RSS-Feed unseres Digitalisierungsservers spiegeln wir automatisch die Titelseiten unserer Digitalisate auf unserem Twitter-Account @fid_evifa (https://twitter.com/fid_evifa).

Beispiele wären hier die Coverabbildungen von zwei Werken Ludwig Wilsers: Rassen und Völker. Leipzig [1912?] und Das Hakenkreuz nach Ursprung, Vorkommen und Bedeutung. Zeitz 1917.

Diese Beispiele lösten eine interne Diskussion über das Spannungsverhältnis von Mehrwerten der Informationspolitik gegenüber ethischen Vorbehalten aus – die Debatte soll mit den Zielgruppen des FID SKA fortgeführt und eine stringente Strategie entwickelt werden. Denn die Umwandlung dieser Materialien von physischen Gegenständen in ein digitales, offen zugängliches Format erweitert die möglichen Verbreitungswege, ihre potenzielle Reichweite und die Chancen, aus dem Zusammenhang gerissen zu werden. Einzelbilder und Cover per Social Media zu verbreiten, kann diese Entkontextualisierung noch verstärken. Generell kann jede*r aber auch aus den Digitalisaten selbst die meist frei zugänglichen Bilder (oder Textzitate) verwenden und sie aus dem Kontext reißen, vielleicht sogar aus unethischen Gründen. Auf jedem dieser Bilder könnten tabuisierte Rituale und Gegenstände abgebildet sein.9 Ohne einen klaren Hinweis in den Metadaten oder auf den Bildern selbst würde es einen erheblichen Zeit- und Rechercheaufwand erfordern, solche schwierigen Darstellungen zu identifizieren.

Viele Digitalisierungsprojekte in den Geisteswissenschaften stehen vor der Frage, ob es verantwortungsvoll ist, alles in eine digitale Form zu überführen UND diese digitalen Objekte offen und barrierefrei im Internet anzubieten. Seit ungefähr zwei Jahren wird diese Frage auch stärker öffentlich diskutiert. Für den FID SKA hatte dies die Konsequenz, dass wir mit dem letzten Digitalisierungsantrag bei der DFG (das Projekt begann im Januar 2021, wurde aber im Januar 2020 eingereicht und 2019 konzipiert) diese Frage aufgriffen. Die meisten Massendigitalisierungsprojekte, die auf Drittmittel angewiesen sind, werden nur finanziert, wenn fast alles offen zugänglich ist, fast keines dieser Projekte hat Forschungsteile integriert. Das wichtigste Förderprogramm in diesem Zusammenhang – Digitalisierung und Erschließung der DFG – umfasst in der Regel keine Forschungsteile und keinen eingeschränkten Zugang, Offenheit ist hier die Maxime – schließlich wird es mit Steuergeldern finanziert. Ein Dialog mit Förderprogrammen über alternative Lösungen muss erst noch initiiert werden. Immerhin konnten zwei kontextualisierende Workshops in den Förderantrag integriert werden und es ist als Erfolg zu verbuchen, dass die Gremien der Deutschen Forschungsgemeinschaft dem Vorhaben zustimmen, diese Fragen zu diskutieren.

Der Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie hat das Thema im Panel Everything open for everyone? How Open Science is challenging and expanding ethnographic research practices beim 15. Kongress der Internationalen Gesellschaft für Ethnologie und Folklore (SIEF) mit einem Vortrag zu Access or ethics? Digitization of imperial times materials and its consequences eingebracht und hat es in zwei eigenen Workshops am 8. Juli 2021 – einer mit Forschenden und einer mit Bibliothekar*innen und Digitalisierenden – wieder aufgenommen. Dies sollen erste Schritte sein, um auf verschiedene Communitys – auch die Forschenden in den Herkunftsgesellschaften – zuzugehen und eine Policy im Umgang mit diesen ethischen Problemfeldern im Digitalisierungsprozess zu entwickeln. Die Positionen können dabei sehr unterschiedlich sein und es wird spannend zu sehen sein, wie diese übereingebracht werden können: Im Rahmen der Workshops gab es recht unterschiedliche Stimmen, auch aus den Herkunftsgesellschaften. Einerseits wurde neben einer angemessenen Kontextualisierung angemahnt, die Materialien umfassend in den Regionen bekannt zu machen. Dieses Anliegen wurde mit der Frage verbunden, wie dieses Material für jene auffind- und nutzbar gemacht werden könnte, die kein Deutsch lesen können. Andererseits wurde aber auch auf Inhalte verwiesen, die durch ihre bloße Sichtbarkeit im Netz lokale Verantwortliche in Erklärungsnöte und soziale Bedrängnis brächten. Gemeinsame Projekte zur inhaltlichen Erschließung mittels verknüpfter, kontrollierter Vokabulare und gemeinsame Sichtungen des Materials im Vorwege einer Digitalisierung wären hier mögliche Wege der kritisch-konstruktiven Zusammenarbeit. Die europäischen Forschenden, die am SIEF-Panel teilnahmen, sahen die Offenheit wesentlich kritischer und plädierten eher für eine restriktivere Digitalisierungspolitik. Einen Ausgleich dieser Positionen zu finden, ist eine anstehende Aufgabe des FID SKA. Und bestenfalls ergibt sich aus diesen Aktivitäten auch ein Dialog mit den Fördereinrichtungen über neue Wege der Digitalisierung, die ethische Fragen und Standards diskutieren und berücksichtigen.

Quellen

B. (1926): Unter den Ocainas-Indianern. Mit zwei Abbildungen auf Tafel 16, in: Der Erdball 1, 2, 1926, S. 70–71. https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/90/ (Werks-URN: https://digi.evifa.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:11-d-4738180).

Boas, Franz: Primitive art. Oslo: H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) 1927. https://digi.evifa.de/viewer/image/BV046142989/5/ (Werks-URN: https://digi.evifa.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:11-d-6493742).

Frizzi, Ernst: Ein Beitrag zur Ethnologie von Bougainville und Buka mit spezieller Berücksichtigung der Nasioi. Leipzig und Berlin: B.G. Teubner, 1914. https://digi.evifa.de/viewer/image/BV047081776/7/

Schlee Pascha: Die Frau im Islam. Mit 8 Abbildungen auf Tafelseite 33–35, in: Der Erdball 1, 5, 1926, S. 161–164. https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/207/ (Werks-URN: https://digi.evifa.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:11-d-6648200).

Sieber, J.: Vorstellungen der Bantu- und Sudan-Neger über die Ursachen der Krankheiten. Hierzu Tafelseite VII und VIII mit 6 Abbildungen, in: Der Erdball, 1, 1, 1926, S. 32–36. https://digi.evifa.de/viewer/image/DE-11-002121697/42/ (Werks-URN: https://digi.evifa.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:11-d-4738180).

Wilser, Ludwig: Rassen und Völker. Leipzig [1912?]

Wilser, Ludwig: Das Hakenkreuz nach Ursprung, Vorkommen und Bedeutung. Zeitz 1917.

Literaturverzeichnis

Ahrndt, Wiebke; Czech, Hans-Jörg; Fine, Jonathan; Förster, Larissa; Geißdorf, Michael; Glaubrecht, Matthias et al. (Hg.) (2018): Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Deutscher Museumsbund. Berlin: Deutscher Museumsbund e. V. Online verfügbar unter https://www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2018/05/dmb-leitfaden-kolonialismus.pdf, zuletzt geprüft am 28.06.2021.

DFG (2021): Merkblatt und ergänzender Leitfaden. Digitalisierung und Erschließung. DFG-Vordruck 12.15, auf: http://www.dfg.de/formulare/12_15/12_15_de.pdf, zuletzt geprüft am 24.06.2021.

DFG-Praxisregeln Digitalisierung [12/16]. Online verfügbar unter http://www.dfg.de/formulare/12_151/12_151_de.pdf, zuletzt geprüft am 24.06.2021.

Global Indigenous Data Alliance (2021): CARE Principles of Indigenous Data Governance — Global Indigenous Data Alliance. Online verfügbar unter https://www.gida-global.org/care, zuletzt aktualisiert am 24.06.2021, zuletzt geprüft am 24.06.2021.

Harbeck, Matthias; Strickert, Moritz (2020): Freiwilligkeit und Zwang. Eine Diskussion im Kontext der frühen ethnologischen Fotografie. Visual History. Online verfügbar unter https://visual-history.de/2020/09/28/freiwilligkeit-und-zwang/, zuletzt geprüft am 28.06.2021.

Hohls, Rüdiger (2018): Digital Humanities und digitale Geschichtswissenschaften. Clio-online. Online verfügbar unter https://guides.clio-online.de/guides/arbeitsformen-und-techniken/digital-humanities/2018, zuletzt aktualisiert am 26.05.2021, zuletzt geprüft am 17.06.2021.

Poser, Alexis von; Baumann, Bianca (Hg.) (2016): Heikles Erbe. Koloniale Spuren bis in die Gegenwart. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. Dresden: Sandstein Verlag. Online verfügbar unter http://verlag.sandstein.de/reader/98-250_HeiklesErbe, zuletzt geprüft am 08.05.2019.


  1. Dabei sind koloniale Kontexte explizit offengehalten und unterliegen weder einem Zeitschnitt noch einer regionalen Fokussierung (zum Beispiel auf ehemalige deutsche Kolonien). Eine kurze Begriffsdefinition, der ich mich anschließe, findet sich bei Ahrndt et al. 2018, S. 11–15, dabei insbesondere S. 14f.↩︎

  2. Vergleiche zu den CARE-Prinzipien: Global Indigenous Data Alliance 2021.↩︎

  3. Hohls 2018.↩︎

  4. DFG-Praxisregeln Digitalisierung [12/16], 6ff.↩︎

  5. DFG 2021, S. 6.↩︎

  6. ZDB-ID: 201359-9.↩︎

  7. ZDB-ID: 217030-9.↩︎

  8. Zur Freiwilligkeit siehe die Diskussion bei Harbeck und Strickert 2020.↩︎

  9. Vergleiche zu dem Komplex der Schwierigkeit der Abbildung solcher Materialien den Sammelband Heikles Erbe von von Poser und Baumann 2016.↩︎


Matthias Harbeck studierte Geschichte, Politik und Ethnologie in Hamburg und Leiden sowie Bibliotheks- und Informationswissenschaften in Berlin. Seit 2009 ist er Fachreferent an der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2016 leitet er den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie.