Anders als Museen, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit kolonialem Raubgut in ihren Sammlungen auseinandersetzen, haben sich Bibliotheken bislang nur wenig mit dem befasst, was mit dem Begriff Dekolonisierung
verbunden werden kann. Wir verstehen darunter die bewusste Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen und Einschreibungen kolonialer Muster in die Institution, ihre Organisation und ihre Arbeitsprozesse sowie der unrechtmäßigen Vereinnahmung von Kulturgütern. Dies mag daran liegen, dass beispielsweise geraubte Bücher im wissenschaftlichen Diskurs lange als Domäne der Provenienzforschung im Kontext der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen betrachtet wurden. Zudem gestaltet sich die Auseinandersetzung mit der oft unterschwelligen Reproduktion von Rassismen schwierig, da die entsprechenden Deutungs- und Abwertungsmuster stark – oft untrennbar – mit europäischen Denktraditionen verwoben sind und wissenschaftliche Herangehensweisen unmittelbar davon abgeleitet wurden, teils auch noch werden. Der bei der Dekolonisierung schwerste Schritt ist hier tatsächlich der erste Schritt, nämlich das Infragestellen des eigenen Denkens.
Die Relativierung und Dekonstruktion vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, das Aufbrechen und die kritische Differenzierung von Traditionen und das aktive Zurücktreten aus den eigenen Privilegien ist für Institutionen wie auch für Individuen eine Herausforderung, teils auch eine Zumutung. Mitunter legt sie eigene Verstrickungen frei. Es ist ein permanentes Konfrontiertwerden mit unangenehmen Wahrheiten. Zugleich ist der Schritt unumgänglich, und zwar bereits bevor der Anspruch erhoben wird, dass das westliche Verständnis von Humanität endlich eingelöst hätte, was seit der Aufklärung als Versprechen – nämlich allgemeine, gleiche und freie Menschlichkeit für alle – von Anfang an in ihm lag.
Die Herausforderung der Dekolonisierung liegt im umfassenden und unvermeidlich radikalen Anspruch dieses Ansatzes. Fragt man, welche Bereiche davon betroffen sind, so lautet die Antwort: alle.
Dekolonisierung und Bibliotheken
In Bibliotheken begegnen uns eurozentrische Geisteshaltungen in allen Tätigkeiten und Positionierungen, aber auch in den Strukturen, technischen Anwendungen und systemimmanenten Mechanismen. Dies lässt sich am Beispiel einer subjektiv angenommenen Überlegenheit des Eigenen und einer daraus resultierenden vermeintlichen Unterlegenheit des Anderen auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen Ausprägungen veranschaulichen: nämlich dem Bestandsaufbau. Ein einfacher Blick in einen Bibliothekskatalog offenbart, dass, aus unterschiedlichen Gründen, bevorzugt Literatur aus dem Globalen Norden
angekauft wird. Dies wird besonders dann gravierend, wenn sich diese Literatur mit Themen des Globalen Südens
befasst. Dazu kommt, dass Normdaten und Klassifikationen aus einer bestimmten Perspektive erschließen und damit diese zugleich stabilisierend fortsetzen.
Bereits das Erkennen der entsprechenden Problemstellen, die daraus resultieren, dass Institutionen und das Berufsbild über lange Strecken nicht divers genug waren, wäre ein erheblicher Fortschritt. In der Verknüpfung mit den Idealbildern westlicher Wissenschaft und Wissenskulturen positionierten sich Bibliotheken in epistemologischen Machtkämpfen eindeutig, unterstützten den Ausschluss nicht-hegemonialer Wissenstraditionen und -produktionen in Ordnungssystemen. Man will unterstellen, dass dies oft unwillkürlich und ohne Vorsatz geschah. Aber es geschah. Und der Vorsatz wird dann sichtbar, wenn auf der diskurspolitischen Ebene die Weigerung zum Beispiel der Verwendung integrativer Sprache offenbar wird.
Zu unserer Positionierung
Die Gestaltung dieser LIBREAS-Ausgabe fiel uns aus verschiedenen Gründen weniger leicht, als wir es gewohnt sind. Andererseits fügten sich einige glückliche Umstände ineinander.
Im Oktober 2020 traten unsere späteren Gastredakteurinnen Sandra Sparber und Gabriele Slezak mit uns in Kontakt und berichteten von einem Wiener Seminar am Institut für Afrikawissenschaften zum Thema Dekolonisieren von Bibliotheksbeständen, das bereits zum dritten Mal in Folge stattgefunden hatte. Wir äußerten Interesse an der Veröffentlichung einiger Seminarbeiträge und daraus entstand die Idee zu einem zweiten Schwerpunkt für die Ausgabe 39 (Roboter und Automatisierung) aufzurufen.1 Dieser Call for Papers sowie einige jetzt veröffentlichte Beiträge entstanden zudem im Kontext des zweisemestrigen LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, bei dem sich Redaktionsmitglieder mit sehr engagierten Studierenden dem Diskurs zu nähern versuchten und Fachexpertise einholten. Daraufhin erreichten uns sehr unterschiedliche Textangebote, die uns lange beschäftigten, sodass wir beschlossen eine eigene Schwerpunktausgabe zu entwickeln. Zahlreiche gemeinsame virtuelle Treffen mit Wien und mit Publizierenden der jetzigen Ausgabe sowie der im September 2021 auf dem LIBREAS-Blog veröffentlichte Call for Networking2 zeugen von unser aller Bemühen, unsere redaktionellen Tätigkeiten, Lehre, Diskursproblematisierung und Netzwerkarbeit unter einen Hut zu bekommen.
Die Erfahrung zeigt: zum einen steckt die Zusammenführung unterschiedlicher Initiativen, Forschungen und Debatten im deutschsprachigen Raum am Anfang. Dies ist sogar gravierender, als wir zunächst vermuteten. Dekolonisierung im Bibliothekswesen ist ein sich entfaltendes Diskursphänomen, das jedoch weitgehend auf dem Stand wechselseitiger Versicherung einer generellen Notwendigkeit bleibt. Initiativen außerhalb des Bibliothekswesens waren zugleich schwer für uns erreichbar. Im Ergebnis ist diese Ausgabe primär dem Versuch verpflichtet, einen ersten Überblick über diverse Zugänge und Ansatzpunkte zu verschaffen. Andererseits, und entscheidender, wurde uns als Redaktionsteam schnell bewusst, dass wir selbst einer vermeintlich homogenen Gruppe von weiß gelesenen, akademisierten Menschen im Bibliotheksumfeld angehören. Wir waren daher vor allem gefordert, uns mit den blinden Flecken der eigenen Wahrnehmung auseinanderzusetzen. Die theoretisch-reflexive Beschäftigung mit dem Thema reicht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Ja, sogar bereits die Tatsache, dass wir uns einfach so hinsetzen und anmaßen können, das Thema mit einem Stapel Bücher zu bearbeiten, ist ein Zeichen des Privilegs. Konsequenter wäre gewesen, sich jenseits der Literatur noch weiter mit Betroffenen und/oder Aktivist*innen auszutauschen. Auch hier bliebe die Frage: Wer spricht, wer übersetzt, wer setzt das Thema? Klar ist: Die Deutungshoheit zum Thema Dekolonisierung sollte eigentlich von anderen kommen, als von uns. Es ließ sich für dieses Mal kaum einlösen, weshalb die Ausgabe nur als ein Herantasten zu bewerten sein kann.
Wir sind also in einer Unlösbarkeit gefangen. Das zu akzeptieren, ist wahrscheinlich die erste Lektion, die das Thema Dekolonisierung für alle weiß gelesenen, akademisch qualifizierten Bibliotheks- und Informationswissenschaftler*innen bereithält. Zusammengenommen ist es das bisschen, was wir bis hierhin zum Diskurs beitragen können.
Diese Schwerpunktausgabe kann somit nur einen Versuch darstellen, den Bereich des kolonialen Erbes in Bibliotheken einer breiteren Debatte zugänglich zu machen. Sie soll dazu anregen, sich mit den Strukturen im eigenen bibliothekarischen Setting auseinanderzusetzen, vertraute Muster zu hinterfragen und neue Praktiken jenseits sozial (ab)wertender Dimensionen zu finden. Sehr gern laden wir ein, dazu auch fernab eines Schwerpunktes Beiträge im Themenkomplex Dekolonisierung für nächste Ausgaben beizutragen.
Zu den einzelnen Beiträgen
Einen Einblick, welche Auswirkungen Whiteness in einer rassifizierten und klassierenden Gesellschaft wie jener von Brasilien hat, gibt das von Valentina Gonçalves de Toledo geführte Interview mit der Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerin Franciéle Carneiro Garcês da Silva. Sie beschreibt, wie eine policy of whitening indigene(s) und afro-brasilianische(s) Wissen und Kultur nahezu traditionell verdrängt und unterdrückt. Für das Bibliothekswesen bedeutet diese Ignoranz gegenüber der Wissensproduktion ganzer Bevölkerungsgruppen und epistemischer Kulturen auch, dass eine im Globalen Norden
etablierte Wissenschaftskultur zum Maß aller Dinge wurde und weiterhin ist.
Mit Verweis auf ihre Dissertation The Privilege to Select
stellt Nora Schmidt Überlegungen zur Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa
an. Sie beschreibt diese Überlagerung lokaler Wissensproduktionssysteme des Globalen Südens
durch jene des Globalen Nordens
als Ausdruck von Kolonialität. Diese Fortschreibung der Dominanz des Globalen Nordens
führt im Bereich des Wissenschaftssystems zu Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen. Bibliotheken tragen aufgrund gängiger Praktiken wie etwa der Medienauswahl, dem Ranking von Ergebnissen in Suchmaschinen oder unreflektierter biblio- und szientometrischer Aktivitäten dazu bei. Abschließend stellt die Autorin eine Liste mit Vorschlägen konkreter Maßnahmen zur Dekolonialisierung von Bibliotheken zur Verfügung.
Der Text von Paula Herm bietet, basierend auf ihrer Masterarbeit von 2019, zuerst eine Einführung in das Thema Postkolonialität mit systemtheoretischer Sicht und bezieht dies dann auf Strukturen von Bibliotheken, Archiven und Museen im deutschsprachigen Raum. Dabei zeigt sie, dass es zwar Ansätze, aber noch keine breite Auseinandersetzung mit dem Thema gibt und deshalb auch noch keine wirkliche Praxis von Bibliotheken, sich dekolonial zu engagieren. Gleichzeitig ist eine solche Auseinandersetzung aber möglich.
Yvonne Schürer thematisiert, warum sie es als Bibliothekarin (in Sachsen) wichtig findet, sich überhaupt mit dem Dekolonialisieren
zu befassen. Der Beitrag zeigt auch, dass es immer möglich ist, die ersten Schritte zu tun und dafür nicht notwendig, gleich den gesamten theoretischen Überbau durchzuarbeiten.
Fragen nach der Ethik des Digitalisierens
stellt Matthias Harbeck. Er umreißt das Problem der Massendigitalisierung kolonialer Inhalte in Hinblick auf Zugänglichkeit beziehungsweise Barrieren und der möglichen Reproduktion von Machtverhältnissen. Der Autor beschreibt die Herangehensweise und Umsetzung in einem seit 2013 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Digitalisierungsprojekt durch den Fachinformationsdienst Sozial- und Kulturanthropologie.
Birgit Kramreither berichtet, wie die Fachbereichsbibliothek Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien in Aufklärungsprojekten wie Ausstellungen ihrer kolonialen Vergangenheit begegnet. In Hinblick auf die Aufarbeitung sensibler Materialien im Rahmen des Ethnographischen Datenarchivs (EDA) thematisiert sie etwa die Bedeutung digitaler Objekte auch im Kontext von Rückstellungen kolonialen Raubguts. Die Autorin führt auch vor Augen, wie notwendig ein verantwortungsvoller Umgang mit Metadaten ist, um Personen durch Offenlegung nicht einer Gefährdungssituation auszusetzen.
Moritz Strickert widmet sich den Problemen und Möglichkeiten kontrollierten Vokabulars am Beispiel der Gemeinsamen Normdatei (GND). Er hält fest, dass normierte Begriffe und ein nicht auf Universalität angelegter Anspruch, welcher zwangsläufig zu Lücken im Ordnungssystem führt, zu einem Mangel an Diversität und zu eingeschränkter Repräsentation führen. In Linked-Data-Ansätzen wie der Anschlussfähigkeit von community-generierten Vokabularen oder dem Mapping mit fremdsprachigen Erschließungsinstrumentarien, erkennt der Autor Möglichkeiten, eurozentrischen Ausprägungen der GND zumindest in Ansätzen entgegenzuwirken.
Gabriele Slezak et al. fassen die Aktivitäten der Wiener C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik zusammen. Dort beschäftigt man sich seit 2018 mit den eigenen kolonialen Beständen. Neben Seminaren an der Universität Wien (aus denen auch die Beiträge von Elisa Frei und Sandra Sparber hervorgingen) initiiert man Workshops zur Vermittlung kritischer Informationskompetenz für Schüler*innen und arbeitet mit Personen verschiedener Communitys zusammen.
2019 löste die Neuauflage des österreichischen Kinderbuchs Hatschi Bratschis Luftballon
eine auf Wien beschränkte Debatte in den sozialen Medien aus. Das 1904 erstmals erschienene Buch, das in Österreich als Klassiker gilt, basiert auf einer an sich rassistischen Erzählung mit entsprechenden Illustrationen. Elisa Frei hat die öffentliche Auseinandersetzung zum Anlass genommen und Interviews mit Bibliothekar*innen geführt. Sie wollte herausfinden, weshalb Bibliotheken die Neuauflage angekauft haben und welches Problembewusstsein und gegebenenfalls welche Strategien hinsichtlich rassistischer Inhalte bestehen.
Sandra Sparber verortet Dimensionen sozialer Abwertung in Form von Othering, dem Abgrenzen der vermeintlich eigenen Gruppe von anderen Personen(gruppen), auf drei Ebenen des Bibliotheksbestandes – nämlich innerhalb der Disziplin beziehungsweise dem Sammelgebiet, der Wissensordnung und der einzelnen Werke. Im Rahmen einer historischen Bestandsanalyse untersucht sie eine missionswissenschaftliche Sondersammlung und leitet daraus Handlungsempfehlungen für zukünftige Projekte ab.
La condition de la liberté n’est pas d’être gouverné par l’histoire, mais de la réécrire au (temps) présent.
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Ihre / Eure Redaktion LIBREAS und die Gastredakteurinnen Gabriele Slezak und Sandra Sparber
(Berlin, Hannover, Göttingen, Lausanne, München, Wien)
https://libreas.wordpress.com/2021/01/27/call-for-papers-libreas-ausgabe-39-2-schwerpunkt-dekolonisierung/↩︎
https://libreas.wordpress.com/2021/09/03/call-for-networking-einladung-zur-vernetzung-und-austausch-zum-thema-dekolonialisierung-und-antirassismus-in-wissenschaftlichen-bibliotheken/↩︎
Felwine Sarr ; Bénédicte Savoy: Restituer le patrimoine african. Paris: Philippe Rey / Seuil, 2018: 139.↩︎