Das Hereinbrechen von Unheil aller Art über Bibliotheken ist kein gerade seltener Topos. Mit Feuer, Wasser, Raub und ideologisch verbrämtem Aussonderungswahn als Zutaten, dürfte kaum ein belletristischer Autor um eine eingängig-eindringliche Geschichte verlegen sein. Auch dem Verfasser wissenschaftlicher Texte dient das Bild vom zerstörten Büchertempel mit schöner Regelmäßigkeit als griffige Metapher für den Verlust von Wissen, Erinnerung, kulturellem Gedächtnis.
Dass man aus dem genannten Thema
trotz aller Abgegriffenheit noch immer etwas machen kann, beweist
der 1977 in Weißenfels geborene Autor und Germanist Frank
Fischer in seiner lesenswerten Kürzesterzählung „Die
Zerstörung der Leipziger Stadtbibliothek im Jahr 2003“.
Freilich, Fischer greift nicht ganz so tief in den Topf der Zerstörung,
dass er für sein Prosastück gleich eine ganze Bibliothek
abbrennen ließe. Bei ihm sind es subtilere Beschädigungsmechanismen,
die einen Bibliotheksbestand im wörtlichen wie im übertragenen
Sinne bedrohen: Schwante den Mitarbeitern
der Stadtbibliothek Leipzig lange Zeit nichts Böses, müssen
diese eines Tages durch Zufall bemerken, dass ein ansehnlicher Teil
der von ihnen verwalteten Druckschriften mit „Eingriffe[n]
in die Buchgestalt“ verunziert worden ist. Diese „Eingriffe“
reichen von „abgeschnittenen Eselsohren“ über „Filzstiftschmierereien“
und „ausgestanzten Seitenzahlen“ bis zu Randbemerkungen,
die den gedruckten Text einmal verächtlich, dann wieder gelehrt
kommentieren.
Da die Beschädigungen, wie eine erste flüchtige Inventur ergibt, offenbar systematisch und planmäßig erfolgen, wendet sich die Bibliotheksleitung Hilfe suchend an Michael Kammrath, Kriminalrat des höheren Dienstes und durch ein bibliophiles Hobby für die Aufklärung des bewussten „Falls“ prädestiniert. Tatsächlich gelingt es Kammrath, den „Filzstift-Delinquenten“, einen dreißigjährigen Studierenden der Germanistik und Philosophie namens Christoph Z. zu überführen.
Während man sich in der Stadtbibliothek
nach der Festnahme des Übeltäters wieder in Sicherheit
glaubt und zwei studentische Hilfskräfte einstellt, um die
von Z. verunstalteten Bücher aus dem Bestand zu filtern, schalten
sich nun Medien und Leipziger Kulturoffiziöse ein: Vom „Buchterroristen“
Z. ist da die Rede und auch das Heinewort lässt sich auf diesen
münzen: „Wo man Bücher beschmiert, beschmiert man
am Ende auch Menschen.“
In der Stadtbibliothek dagegen hat man indessen schon ganz andere
Sorgen, als solche um den Ruf der Literaturstadt Leipzig; stellt
sich doch nun heraus, dass das Beispiel des Bücherschmierers
Z. nicht nur zahlreiche Schaulustige, sondern auch eine Reihe von
Nachahmungstätern auf den Plan gerufen hat…
Um es gleich vorweg zu sagen: Der Rezensent lehnt Buchzerstörungsaktionen in der Realität natürlich ab, ganz gleich ob diese nun von mutwilligen Lesern oder (was leider auch passieren kann) von ideenlosen Bibliothekaren selbst vorgenommen werden. Fischers Buch kann er gleichwohl nur empfehlen, nicht zuletzt weil es dem Autor gelingt, aus einem wenig originellen Topos eine kunstfertige Geschichte zu machen. Diese ist zugleich hoch komprimiert, denn jener Plot, den Fischer als fiktive Reportage auf knapp 19 Seiten zuspitzt, hätte unzweifelhaft auch einen ganz unterhaltsamen Roman hergeben können.
Obwohl, vielleicht aber auch gerade
weil Fischer die Form einer sachlich distanziert geschriebenen Reportage
wählt (und auch konsequent durchhält), gelingt es ihm,
den Blick des Lesers auf absurde Details und Verschrobenheiten von
Literatur- und Bibliotheksbetrieb zu lenken. Zwischen den Zeilen
lässt der Autor auch deutlich erkennen, dass er weiß,
wie es um den bibliothekarischen Zeitgeist bestellt ist: „Die
Regale sind immer noch vor allem mit Büchern gefüllt,
der Ausleihschwerpunkt der Nutzer liege aber inzwischen bei Videos
und CDs, berichtet Elisabeth Christ. Sie arbeitet an der Informationstheke
in der ersten Etage, eine gemütliche Frau in ihren Fünfzigern,
die fast ein bisschen stolz nachschickt, dass es aufgrund der hohen
Nachfrage seit kurzem auch DVDs auszuleihen gebe. Über Bücher
scheint sie sich nicht mehr so zwanglos freuen zu können.“
heißt es etwa am Beginn der Reportageerzählung.
Was Fischers Text darüber hinaus reizvoll macht, ist jene intellektuelle
Schnitzeljagd, auf die der Verunstalter Z. seinen Verfolger Kammrath
führt und die ein wenig an die rätselhaften Jagden in
Georg Kleins Roman „Barbar Rosa“[Fn1]
erinnert.
So lässt Fischer – selber wie sein Held Germanist – Z. eben nicht bloß Bücher irgendwie beschmieren, sondern mit eine Reihe intertextueller Anspielungen auf andere Bibliothekswerke versehen. Aus diesen Anspielungen wiederum kann dann gegebenenfalls auch auf die nächsten seiner gedruckten Opfer geschlossen werden. Was so entsteht, ist ein planvoller Hypertext der Zerstörung; zugleich aber auch ein Netz, in dem sich der Zerstörer zwangsläufig irgendwann selbst einmal verfangen muss.
Ganz gleich ob man das Bändchen nun als hintergründige Bibliothekssatire, einfallsreichen Minikrimi oder medienphilosophischen Denkanstoß interpretieren möchte, lesenswert ist es auf jeden Fall.
Fußnoten
Frank Fischer, gelesen von Mensch und Gürteltier in Berlin Mitte
Christof Capellaro studiert Bibliothekswissenschaft und Mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Tutor am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft.