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Ein Weg zum Kurator: Die École Nationale des Chartes


Zitiervorschlag
Anne Christophe, "Ein Weg zum Kurator: Die École Nationale des Chartes. ". LIBREAS. Library Ideas, 4 ().


Diese kurze Einführung in das Studium an der École Nationale des Chartes in Paris soll kein objektiver Bericht sein, sondern die persönlichen Erfahrungen einer Studierenden der École wiedergeben.

Die École Nationale des Chartes wurde 1821 gegründet und hat sich zum Ziel gesetzt, zukünftige Kuratoren – ob für Archive, Bibliotheken oder Museen – auf ihren Beruf vorzubereiten.

Sie befindet sich in einem der älteren Gebäude der Sorbonne in Paris, das selbst einiges an interessantem Erbe birgt: Die Vorlesungen und Seminare finden noch immer in einem Raum aus dem 19. Jahrhundert mit alten Holzbänken und -tischen statt. Das Eingangsgebäude ist im wahrsten Sinne des Wortes mit Büchern bestückt, was für die typische ‚chartiste’-Atmosphäre sorgt.

Das, was neue Studierende zuerst lernen, ist natürlich, die hohen Leitern zu besteigen und all die Literatur auszugraben, die sie brauchen können.

Gegenwärtig ist die École Nationale des Chartes eine kleine Einrichtung mit nur 25 Studierenden pro Jahr, die ein 4-jähriges Studium beginnen.
Bewerber müssen die Aufnahmetests bestehen, nachdem sie wenigstens 2 Jahre lang einen Vorbereitungskurs [
Fn1] in Paris, Dijon, Strasbourg, Rennes oder Toulouse besucht haben, der auf französische Geschichte spezialisiert ist. Es gibt zwei Aufnahmeprüfungen: A und B. Normalerweise gelangen die Studierenden mit dem bestandenen A-Test an die École, der hauptsächlich aus einem Latein-Test und einem Test in Mittelalterlicher und Moderner Geschichte besteht. Der B-Test hingegen wurde vor nicht allzu langer Zeit eingeführt und basiert auf modernen Sprachen sowie Neuer und Neuester Geschichte.
Nur etwa 8 Bewerber pro Jahr bestehen den B-Test. Außerdem gelingt es mindestens einem oder zwei ausländischen Studierenden pro Jahr, eine Zusage zu erhalten. Die französischen Studierenden haben dann Beamtenstatus. Dies bedeutet, dass sie eine Vergütung bekommen und sich für mindestens 10 Jahre an die Arbeit im Dienste des französischen Staates binden.

Weil die École vorwiegend zukünftige Bibliotheks- und Archivkuratoren ausbilden will, behandeln die Kurse hauptsächlich den Umgang mit Dokumentenquellen, besonders mit den altertümlichen.
Wie ein altes Klischee besagt, lieben die ’chartistes’ angeblich die besonders schmutzigen, verfallenen und unlesbaren Dokumente. In ihrem ersten Studienjahr lernen sie alles über Paläographie, Romanische Philologie, Mittelalterliches Latein, Buchgeschichte, Archivwissenschaften, Kunstgeschichte und Archäologie.

Danach sind sie in ihrer Kurswahl frei – entsprechend ihrer Zukunftspläne und persönlichen Interessen. Im letzten Studienjahr an der École besuchen sie ein Seminar, um sich mit dem Begriff „Kulturerbe“ auseinander zu setzen. Daher belegen viele Studierende die Kurse in Kunstgeschichte, obwohl nur wenige von ihnen Kuratoren im Bereich Museum werden wollen, was auf die relativ kleine Zahl an verfügbaren Stellen zurückzuführen ist. Eine kleine Zahl der Absolventen entschließt sich auch, an Schulen oder Universitäten zu lehren, insbesondere die Fächer Geschichte, Kunstgeschichte, Französisch oder Klassische Philologie.

Während des Studiums an der École schreiben die ’chartistes’ eine Promotionsarbeit im Fach Geschichte. Diese sogenannte ‘thèse d’École des Chartes’ ist in der Tat sehr speziell und weder mit einer britischen noch einer französischen Doktorarbeit wirklich vergleichbar. Die Studierenden wählen ein eigenes Thema, wobei die Arbeit sowohl die rein historische Analyse als auch die Bearbeitung eines alten Textes umfassen kann. Begleitende Kurse vermitteln hierzu bibliographische Fähigkeiten, Kenntnisse in Informatik, Statistik und Kartographie. Die Studierenden können außerdem einige hunderttausend Bände nutzen, die ihnen in der Institutsbibliothek zur Verfügung stehen. Die Bibliothek existiert seit 1840 und ist spezialisiert auf Mittelalterliche Geschichte, Bibliographie, französische historische Quellen sowie Lateinische und Romanische Philologie. Leider ist der Bestand an Literatur zur Neueren Geschichte eher gering. Die Bibliothek hat jedoch einen großen Vorteil: Da der Bestand einen begrenzten Nutzerkreis hat, kann sie einen großen Teil davon zur freien Verfügung anbieten.
Die Bibliothek spielt eine sehr wichtige Rolle für die Studierenden, da es möglich ist, sehr viele Medien auszuleihen. Natürlich bedarf es einer Erlaubnis für die Benutzung von seltenen Dokumenten wie Rara und Stiche, die in den Buchgeschichtsseminaren verwendet werden.

Im zweiten Studienjahr beginnen die Studierenden mit der Arbeit an ihrer Promotion, die innerhalb von zwei Jahren fertiggestellt werden muss. Sie bekommen Rat und Anleitung von jeweils einem Betreuer der École sowie der Universität. Eine weitere Verbindung zwischen den beiden Institutionen besteht für gewöhnlich in der Vorbereitung eines Masters an der Universität als Bestandteil der ‘thèse d’École’. Früher schlossen die Studierenden mit der ‘thèse d’École’ ab, inzwischen beenden immer mehr Studierende das Studium an der Universität mit einer entsprechenden Doktorarbeit. Es ist schwierig, eine Vorstellung davon zu vermitteln , wie lang die ‘thèse d’École’ gewöhnlich ist, denn sie kann zwischen 400 Seiten (140.000 Wörter) und bis zu 1.000 Seiten (350.000 Wörter) – bei den Unerschrockeneren und Eloquenteren – zählen!

Für mich besteht der größte Vorteil dieser Erfahrung darin, dass sie es den Studierenden, die hauptsächlich in Archiven und Bibliotheken arbeiten wollen, ermöglicht, die Kehrseite der Medaille zu betrachten, d.h. sich in der Position des Wissenschaftlers zu erfahren, denen man später im Berufsleben einmal hilfreich zur Seite stehen will. Es hilft, die Arbeit von beiden Seiten zu betrachten und damit Verständigungsschwierigkeiten, die zwischen Wissenschaftlern und Praktikern bestehen können, zu verhindern.

Ebenso bemerkenswert finde ich, dass zukünftigen Archivaren und Bibliothekaren ohne Unterschiede dasselbe Grundwissen vermittelt werden soll (einmal abgesehen von den zukünftigen Forschern, die darauf vorbereitet werden, mit historischen Quellen umzugehen). Für die Bibliothekarstätigkeit sind die ‘chartistes’ wahrscheinlich was den Umgang mit historischen Quellen, die zu ihrem Arbeitsgebiet gehören, angeht, besser vorbereitet, so dass sie letztlich in jeder Bibliothek arbeiten können. Darüber hinaus gibt es Bestrebungen zu einem interdisziplinären Kurs, besonders seit Historiker, Kunsthistoriker, Archäologen sowie Museums-, Archiv- und Bibliothekskuratoren dazu tendieren, in sehr in sich geschlossenen Welten zu arbeiten. Wenngleich ich diese Spezialisierung sehr schätze, finde ich doch, dass eine größere Kooperation zwischen den einzelnen Gruppen außerordentlich nützlich wäre.

Dennoch bietet einzig die École, wie Sie vielleicht bemerkt haben, die Vermittlung eines ausgesprochen theoretischen Hintergrunds. Das ist auch der Grund, warum die Studierenden mehr Zugangsprüfungen ablegen müssen. Die ersten beiden wichtigsten sind die „Institut National du Patrimoine“(INP)-Prüfung für Archiv- und Museumskuratoren und die „École Nationale Supérieure des Sciences de l’Information et des Bibliothèques“(ENSSIB)-Prüfung für Bibliothekskuratoren.
Diese beiden Institute beschäftigen sich mit allen praktischen, konkreten Aspekten der auszubildenden Berufszweige. Obwohl auch die École ein Diplom vergibt, erlaubt dieses den Absolventen nicht ohne Weiteres, in einen Beruf einzusteigen (ausgenommen wissenschaftliche Berufe am Centre National de la Recherche Scientifique, CNRS). Die École versucht gegenwärtig, Lösungen für den übermäßig großen Anteil an theoretischen Lehrinhalten zu finden. Trotz eines ständigen Blicks zurück ist die die Institution auf dem Wege zu Veränderungen, die sich aus den gegenwärtig vorhandenen Bedingungen ergeben.

Betrachtet man das Problem, so sind einige pragmatische Schritte längst vollzogen, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich persönlich mit Kuratoren zu treffen und eine Idee davon zu bekommen, wie die künftige Berufstätigkeit aussehen könnte. Exkursionen zu verschiedenen Institutionen werden organisiert, darunter etwa die Öffentliche Bibliothek von Versailles, die Bibliothèque „duc d’Aumale’s“ in Chantilly und das Abteilungsarchiv von Manche in der Normandie.
Andere Projekte sind die Studien alter Bücher in berühmten Pariser Buchläden (wie Bérès, der inzwischen geschlossen wurde) oder seltener und alter Bücher der Sammlungen wichtiger Bibliotheken (wie der Bibliothèque Sainte-Geneviève, der Bibliothèque de l’Arsenal und der Sammlungen der Nationalbibliothek).
Im dritten Studienjahr katalogisieren die Studierenden alte Bücher in Abstimmung mit Bibliotheken. Am Ende des ersten Studienjahres haben sie ein Praxistraining in kleinen Gruppen: Sie verbringen eine Woche in Archiven, Bibliotheken und Museen. Dies führt zu positiven Effekten, wenn auch der Wirkungsbereich noch als zu eng befunden wird.

Als Konsequenz daraus wurden noch weitere Schritte unternommen. Die Studierenden werden ermutigt, während des ersten Studienjahres parallel Praktika zu absolvieren. Ihnen wird empfohlen, wenigstens einen Monat in einer Institution ihrer Wahl zu arbeiten, um Praxiserfahrungen zu sammeln.

Am Ende des zweiten Jahres haben sie die Möglichkeit, einen weiteren Monat in einer europäischen Institution zu arbeiten, wofür sie finanzielle Zuschüsse bekommen. Z.B. wurde eine Partnerschaft zwischen der École und russischen Bibliotheken für zwei Jahre aufgebaut, in dessen Rahmen also auch russische Bibliothekare für einige Monate an die École kommen. Diese Praktika erweisen sich als äußerst hilfreich, jedoch werden sie das Problem der zu umfangreichen Theorievermittlung nicht ganz lösen können. Betrachtet werden muss z.B. die sehr kurze Zeitbemessung, die allerdings daraus resultiert, dass die Studierenden aufgrund ihrer Arbeit an der ’thèse d’École’ nicht mehr Zeit in Bibliotheken und Archiven verbringen können.

Es gibt einige weitere positive Veränderungen. So erlaubt es die europäische „licence [Fn2] -master-doctorate thesis“ Studierenden der Universitäten ein Studium an der École aufzunehmen. Die meisten von ihnen studieren Geschichte, Kunstgeschichte, Französisch oder Klassiker und ihre an der École absolvierten Kurse werden ihnen für ihr Studium an der Universität angerechnet. In Zukunft wird es, dank der global-nationalen Reform zu Gunsten eines nach Semestern strukturierten Studiums für die ‘chartistes’ möglich sein, im Rahmen des ERASMUS-Austausches im Ausland zu studieren. Dies wiederum ermöglicht es ihnen, das Thema für ihre ‘thèse d’École’ auch auf ausländische Archive zugeschnitten zu wählen, was u.U. wesentlich passender ist und gewiss die Spannbreite der durchgeführten Projekte erweitert.

Leider bleiben einige Probleme bis heute ungelöst, und nicht alle Veränderungen haben zu positiven Effekten für die École geführt. Der französische Staat versucht gegenwärtig, die Zahl der im Beamtenstatus tätigen Kuratoren aus ökonomischen Gründen zu reduzieren. Wachsender Druck lastet auf den Positionen, der nun zum Hauptargument wurde, um den ‘chartistes’ die Aufnahmeprüfungen an INP und ENSSIB „schmackhaft“ zu machen. Selbst wenn sämtliche ‘chartistes’ durch die Prüfungen fallen würden, kämen sie dennoch weitaus leichter zu diesem Studium als andere: Diejenigen ‘chartistes’, die Bibliothekare werden wollen, müssen sich nicht auf schriftliche Prüfungen vorbereiten und nur für den mündlichen Teil lernen; auch ist eine Anzahl von Stellen für sie reserviert. Zukünftige Archivare genießen weitere Vorteile: Die École bietet den einzigen direkten Ausbildungsweg für Archivkuratoren [Fn3] an, so dass deren Monopolstellung zunehmend kritisiert wird. Diese Kontroverse sollte ernst genommen werden, könnte sie doch die Zukunft der École in Frage stellen. In der nächsten Zeit werden sich die ‘chartistes’ jedoch zu keiner gefährdeten Spezies entwickeln und die „Museumsexemplare“ befinden sich noch immer hinter dem Schreibtisch und nicht hinter Glas!

Zum Schluss hoffe ich, dass dieser kurzer Überblick eine Vorstellung von der École vermitteln kann, die in Frankreich, nicht den einzigen Weg darstellt, um Kurator zu werden, jedoch zweifellos die älteste und eine wohl ganz besondere Ausbildungsstätte ist.

Für weitere Auskünfte :
- Website des l’Ecole :
www.enc.sorbonne.fr
- Website der Bibliothek mit Online-Katalog:
http://bibliotheque.enc.sorbonne.fr

Footnotes

[Fn 1]
Der Begriff ‘Classe préparatoire’ meint sog. ‘post-Baccalauréat’-Kurse, die ausgewählte Studierende des Grundstudiums auf die Aufnahmeprüfungen der ‘French Grandes Écoles’ vorbereitet. Diese Schulen sind hochgradig wettbewerbsfähige, interdisziplinäre und staatlich finanzierte Einrichtungen, die in Partnerschaft mit den französischen Universitäten arbeiten und Weiterbildungskurse, mit denen man sich spezialisieren kann, anbieten. (
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[Fn 2]
Die französische Entsprechung für ‘degree’. (
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[Fn 3]
Wer bereits längere Zeit als Archivar tätig ist, kann durch eine Promotion ebenfalls Kurator werden. (
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Anne Christophe ist Studentin an der Ècole nationale des Chartes in Paris (élève de troisième année).