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Interview mit Engelbert Plassmann


Zitiervorschlag
Kirsten Schlebbe (Interviewerin), "Interview mit Engelbert Plassmann". LIBREAS. Library Ideas, 34 ().


KS: Vielen Dank, Herr Prof. Plassmann, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben. Sie haben zunächst Philosophie und katholische Theologie studiert, anschließend ein Studium der Rechtswissenschaft abgeschlossen und später auch bei Paul Mikat an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät promoviert. Im Anschluss haben Sie die Referendarausbildung für den Höheren Bibliotheksdienst absolviert. Wie kam es denn zu dem Wechsel in den bibliothekarischen Bereich?

EP: Das will ich gerne schildern. Nach dem Ende des Studiums der Theologie, das mir Freude gemacht hat und von dem ich bis heute zehre, konnte ich mich nicht entschließen, in den kirchlichen Dienst zu treten. Ich bin immer gerne Mitglied der christlichen Glaubensgemeinschaft gewesen, aber beruflich in den kirchlichen Dienst gehen, das wollte ich nicht. Also habe ich dann mit 25 Jahren ganz von vorne mit Rechtswissenschaft angefangen, aus der Überlegung heraus, dass dieses Studium mir später viele Möglichkeiten bietet und die Überlegung sollte sich nicht als falsch erweisen.

Nach der ersten juristischen Staatsprüfung in Würzburg habe ich dann an meiner Promotion aus dem Gebiet der Rechtsgeschichte gearbeitet. Und schon in dieser Promotion, das sieht man am Titel der Arbeit, habe ich meine beiden Studienfächer miteinander verbunden. Es war eine Arbeit zur Geschichte des Staatskirchenrechts, in Deutschland immer ein interessantes Thema. Die Promotion habe ich 1967 in Bochum an der damals neu gegründeten Universität abgeschlossen, 1968 ist die Dissertation als Verlagspublikation erschienen. Als ich das hinter mir hatte, wollte ich nicht auf einen typischen Justizberuf zugehen, also Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder dergleichen werden. Eher schon Verwaltungsbeamter. Und just zu diesem Zeitpunkt las ich in einer juristischen Fachzeitschrift einen Artikel mit der Überschrift Die seltenen Berufe für Juristen. Bei diesen Berufen waren genannt: Der höhere Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken, der höhere Archivdienst, der höhere Bankdienst in der Deutschen Bundesbank, der höhere auswärtige Dienst sowie der Steuerberater und der Wirtschaftsprüfer.

Einige kamen für mich nicht in Frage, da wäre eine vorherige Banklehre nötig gewesen. Aber der höhere Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken sprach mich ungemein an. Damals war für die Zulassung zum Referendardienst noch die Promotion in einem wissenschaftlichen Fach erforderlich, gleichgültig in welchem. Das habe ich mir nicht zweimal durchgelesen, sondern mir gesagt: Wofür hast du dir schließlich die Mühe gemacht? Ich besuchte Günther Pflug, den ersten Leiter, Gründungsdirektor der UB Bochum, später – bis zu seiner Pensionierung 1988 – Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und einer der bekanntesten Bibliothekare des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Wir verstanden uns sofort und haben uns eine halbe Stunde lang gut unterhalten. Danach war ich umgehend Wissenschaftliche Hilfskraft bei ihm und kurze Zeit später Bibliotheksreferendar, mit einer zweijährigen Ausbildung. Nach der Prüfung, die eine Zweite Staatsprüfung war, so wie bei den Juristen oder Gymnasiallehrern, habe ich in Bochum mit der praktischen Arbeit in der Bibliothek angefangen. So bin ich zum Bibliothekswesen gekommen. Es hat also vor allem mit dem genannten Aufsatz zu tun, der mir durch eine Fügung des Himmels genau im richtigen Moment beschert worden ist.

KS: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie bereits bei Ihrer Promotion Ihre Studienfächer miteinander verbunden haben. Haben Ihre Studienabschlüsse in Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft auch Ihre Forschung und Lehre in der Bibliothekswissenschaft beeinflusst?

EP: Ja, und zwar in hohem Maße. Wenn ich zuerst auf die Forschung zu sprechen komme, braucht man sich eigentlich nur meine persönliche Bibliographie anzusehen, da wird man eine ganze Menge von Beiträgen finden, welche deutlich belegen, dass ich meine früheren Studiengänge in der Forschung weitergeführt habe. Ich möchte ausdrücklich darauf zu sprechen kommen, dass ich meine Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu dem Thema Bibliotheksgeschichte und Verfassungsgeschichte gehalten habe. Ich bin ein Freund solcher interdisziplinären Verbindungen. Im Jahr darauf habe ich noch einmal eine öffentliche Vorlesung im Senatssaal der Universität gehalten, mit dem Thema Eine Reichsbibliothek?. Damals wurde viel über die Aufgaben der Deutschen Bibliothek, heute Deutsche Nationalbibliothek, diskutiert. Ob diese nicht erweitert werden sollten. Die DNB sammelt ja nur die deutsche Literatur oder auf Deutschland bezogene Literatur. Daher war die Frage: Sollte man es nicht machen, wie es in anderen Ländern ist, in Frankreich mit der Bibliothèque Nationale und in vielen anderen Ländern auch? Zu diesem Thema habe ich damals Stellung genommen. Dazu vielleicht einen Satz: Ich bin der Meinung, dass das bei uns in Deutschland, so wie es sich historisch entwickelt hat, ganz gut läuft mit der Deutschen Nationalbibliothek einerseits – die haben wir jetzt sogar an zwei Standorten, das hängt mit der neuesten deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen – aber dazu eben die beiden großen wissenschaftlichen Allgemeinbibliotheken: die Bayerische Staatsbibliothek und hier unsere Staatsbibliothek zu Berlin.

Auch meine Beiträge im Lexikon des gesamten Buchwesens beantworten Ihre Frage. Dort steht eine ganze Portion von Artikeln, die mit Patentwesen, Loseblattsammlungen und dergleichen zu tun haben. Da ist die Rechtswissenschaft erkennbar. Auch etliche Rezensionen von Büchern, die zu juristischen Bibliographien geschrieben worden sind.

Das gilt in entsprechendem Maße auch für mein anderes Studienfach, die Theologie. Die zahlreichen Exkursionen, die ich mit Studenten gemacht habe, haben sich immer auf Bibliotheken aller historischen Zeiten bezogen, einschließlich der Besuche in bedeutenden Bibliotheken der Gegenwart. Auch das 18. Jahrhundert hatten wir viel. Auf dem Programm standen zahlreiche Klosterbibliotheken, die 1803 der Säkularisation zum Opfer gefallen sind. Auch darüber habe ich einen öffentlichen Vortrag hier gehalten, der in der blauen Schriftenreihe veröffentlicht worden ist. Über die Exkursionen habe ich auch in den Fachzeitschriften eine ganze Reihe von Berichten veröffentlicht. Und die wären ohne den Hintergrund des Theologiestudiums nicht so geschrieben worden und ich hätte es auch den Studenten nicht in dem Maße nahebringen können, wie mir das nun möglich war. Soviel zu der Frage, ob meine Studienfächer die Forschung beeinflusst haben.

Die Lehre haben sie natürlich auch beeinflusst. Wie ich glaube, ebenfalls in hohem Maße. Und zwar lässt sich das in den alten Vorlesungsverzeichnissen, in denen ich geblättert habe, gut nachvollziehen. So habe ich regelmäßig, seit dem Beginn meiner Lehrtätigkeit in Köln 1976, das Fach Rechtskunde für Bibliothekare unterrichtet, ein nicht unwichtiges Fach. Ein Bibliothekar muss wissen: Was ist im juristischen Sinn der Träger einer Bibliothek? Eine Gemeinde, der Staat (das Land, gegebenenfalls der Bund)? Eine Stiftung, eine kirchliche Einrichtung, eine freie Einrichtung und so weiter? Welche rechtlichen Befugnisse gibt es? Welche Anstellungsverhältnisse? Dann rechtliche Dinge wie die Ablieferung von Dissertationen oder Pflichtablieferungen an die Nationalbibliothek und an regionale Bibliotheken. Das Gebiet habe ich immer vertreten, eigentlich jedes Semester. Da hat sich mein früheres Jurastudium mit aller Deutlichkeit bemerkbar gemacht. Ich glaube im Übrigen, dass die Studenten es auch in anderen Vorlesungen bemerken konnten. Zum Beispiel in der häufig gehaltenen Vorlesung Einführung in das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland (eigentlich das, was in meinen drei dicken Büchern aufbereitet ist), da habe ich immer Wert auf die rechtlichen Zusammenhänge gelegt. Ich kenne eine ganze Reihe von Bibliothekaren, jedenfalls in meiner Generation, in der älteren, aber auch in der jüngeren Generation, die die Bibliothek zu sehr aus einer Innensicht betrachten und darüber oft versäumen, über den Träger und die rechtlichen Rahmenbedingungen nachzudenken, denen die Bibliothek unterliegt. Die Bibliothek kommt aus den Beamten- und Angestelltenverhältnissen, den rechtlichen, ja nicht raus. Und sie kommt auch aus den Regeln für den Kauf von Büchern nicht raus und so weiter und so fort.

Was die Theologie angeht, so hat natürlich auch sie ihren Niederschlag in der Lehre gefunden, soweit es die Bibliotheksgeschichte angeht. Die überragende Bedeutung der Kirche für die Entwicklung unserer ganzen Schriftkultur, jedenfalls im romanisch-germanischen Bereich Europas: Was haben wir den schreibenden Mönchen des Mittelalters zu verdanken, die uns keineswegs nur die Heilige Schrift, sondern auch wichtige Teile der weltlichen Literatur, die Schriften der griechischen und römischen Dichter, Philosophen und Rechtsgelehrten überliefert haben! Unsere ganze Kultur ist ja nicht zu denken ohne das. Und dann die Bedeutung der kirchlichen Einrichtungen bis ins 18. Jahrhundert einschließlich, bis die Säkularisation einen tiefen Einschnitt gemacht hat. Aber immerhin nur so, dass heute bestimmte Bibliotheken, vor allem die Staatsbibliothek in München, einen Schatz an älterer Literatur hütet, der genau auf diese Tradition zurückgeht. Das sind Dinge, die natürlich auch in meine Vorlesungen eingeflossen sind. Soviel zu dieser Frage. Ich habe mich durchaus um die geistigen Verknüpfungen bemüht, weil ich es immer als sinnvoll angesehen und mir gesagt habe: Wenn du schon diese Voraussetzungen und Kenntnisse hast, dann gib sie auch weiter.

KS: Wenn wir nun auf Ihre berufliche Entwicklung zu sprechen kommen: Nach dem Abschluss der Referendarausbildung haben Sie einige Jahre in der Bibliothekspraxis gearbeitet, auch auf leitenden Positionen. Wie hat sich das entwickelt und wie kam es schließlich zum Wechsel in den Hochschulbereich?

EP: Ja, das ging ziemlich schnell. Nun war ich ja schon relativ alt geworden [lacht], ich war schon Mitte 30, als ich dann schließlich anfing nach all diesen Vorentscheidungen und Vorbereitungen. Ich war einige Jahre in Bochum als Referent der Abteilung Erwerbung und Koordinierung, also letztlich für die Anschaffung der Bücher zuständig. Die Fachreferenten machten die Vorschläge, ich war Leiter der Stelle, die für den Kontakt zum Buchhandel zuständig war. Ich hatte mehrere Mitarbeiterinnen, Diplom-Bibliothekarinnen in der Vorakzession, die die üblichen Prüfungen machten und mir das dann vorlegten. Ferner in der Akzession, der Abteilung, die die eingehenden Bücher bearbeitete, und – ganz wichtig – in der Zeitschriftenstelle, wo mit größter Sorgfalt die zwölfmal, 24-mal oder sechsmal im Jahr kommenden Neueingänge der einzelnen Hefte zu verzeichnen waren – das alles war mein Zuständigkeitsbereich, den ich mit Vergnügen wahrgenommen habe. Der Kontakt mit den Buchhändlern und Verlegern hat Spaß gemacht, auch bin ich regelmäßig zur Buchmesse gefahren. Es war leider nur eine relativ kurze Zeit.

Zum Teil gleichzeitig, weil es keine Bibliothekare gab – zwar Stellen (!), aber keine Bibliothekare – hatte ich den Aufbau der Fachhochschulbibliothek Bochum zu leisten. 1971 wurde in den westdeutschen Ländern generell die Fachhochschule als neuer Hochschultypus eingeführt und aus verschiedenen Vorgängereinrichtungen heraus gebildet– Ingenieurschulen, höheren Fachschulen für Wirtschaft, Sozialarbeit und so weiter. Die neuen Fachhochschulen wurden, jedenfalls in Nordrhein-Westfalen, wo ich es erlebt habe, gut mit Mitteln zur Ersteinrichtung versehen. Damals war im Wissenschaftsministerium in Düsseldorf ein Referent für das Bibliothekswesen zuständig, der auch in Berlin gut bekannt ist: Dr. Antonius Jammers, später Generaldirektor der Staatsbibliothek. Als Referent für das Bibliotheks- und Dokumentationswesen im Ministerium hat Jammers es mit viel Geschick erreicht, dass auch die Bibliotheken der neuen Fachhochschulen wirklich gut ausgestattet wurden. Soweit ich mich dank der Kontakte mit Kollegen in anderen Bundesländern erinnere, beneideten die uns darum, wie wir unsere Fachhochschulbibliotheken aufbauen konnten: mit Mitteln, die ihnen geradezu opulent erschienen. Kurz und gut, ich hatte zeitweise neben meiner Arbeit an der UB die FHB Bochum aufzubauen. Mit dem Rektor und dem Kanzler, die damals ganz neu an der Fachhochschule waren und sich auch erst einfinden mussten, hatte ich glänzenden Kontakt. Beide unterstützten mich, merkten auch, dass ich Rückenwind aus dem Ministerium hatte und nutzten das.

Soweit meine Tätigkeiten in der bibliothekarischen Praxis im engeren Sinne.

Ein weiterer wichtiger Abschnitt gehört noch dazu. 1973 wurde ich ins Wissenschaftsministerium berufen. Jammers brauchte damals dringend Unterstützung; es war ja die Zeit, in der die vielen neuen Hochschulen gegründet wurden. In Nordrhein-Westfalen waren das 1972 die Gesamthochschulen Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal, fünf Hochschulen, die sich rasch entwickelten. Schon 1971 waren, wie erwähnt, die Fachhochschulen gegründet worden, in Nordrhein-Westfalen die stattliche Anzahl von zehn derartigen Einrichtungen.

An dieser Stelle kam mir mein vorgängiges Jurastudium zustatten. Als Jurist arbeitet man sich in einem Ministerium wesentlich schneller ein als jemand, der diese Voraussetzung nicht mitbringt. Ich hatte schon erwähnt, dass ich für mich keinen typischen Justizberuf wollte, höherer Verwaltungsbeamter wollte ich aber durchaus werden. Und so einer war ich nun, und zwar für drei Jahre. Ich war gerne im Ministerium. Man konnte vieles auf den Weg bringen, was man von einer einzelnen Bibliothek aus überhaupt nicht kann.

Das fand nach drei Jahren ein Ende. Ich wollte wieder in die bibliothekarische Arbeit im engeren Sinne zurück. Da gab es einen klaren Schnitt, den das Ministerium, ohne es zu wollen, mir nahelegte. Als nämlich drei Jahre vorbei waren und die Mehrarbeit im Bibliotheksreferat erledigt war, sagte sich der Staatssekretär wohl: Ach, jetzt ziehen wir den da ab, wir brauchen dringend an einer anderen Stelle Verstärkung. Und was war diese Stelle? Das Referat für die Vergabe von Studienplätzen! Es gab in Dortmund die Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen (ZVS), die es heute noch gibt. Und das dafür zuständige Referat im Ministerium brauchte, weil der Ansturm auf die Hochschulen begonnen hatte, Verstärkung. Auf eine Arbeit in diesem Referat hatte ich, um das ganz banal auszudrücken, null Bock. Aber wirklich null. Mich mit Widerspruchsbescheiden gegen Entscheidungen der Dortmunder Stelle zu beschäftigen, warum der Mediziner nicht drangekommen ist, aber ein anderer… also nein. Doch konnte ich nicht einfach NEIN sagen. Ich war ja Beamter des Ministeriums und der Staatssekretär hat natürlich ein Direktionsrecht. Aber welch eine Fügung des Himmels kam mir zu Hilfe!

In Köln war im Studiengang Bibliothekswesen, dem einzigen in Nordrhein-Westfalen, eine Dozentenstelle zu besetzen. Und ein Kollege, dessen Name auch in Berlin, auch am IBI gut bekannt ist, Paul Kaegbein, war damals gerade neuer Leiter in Köln geworden, wollte mich haben und machte das im Ministerium deutlich. Nebenbei bemerkt: Es handelte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht um die spätere Fachhochschule für Bibliotheks- und Dokumentationswesen, sondern um deren Vorgängereinrichtung, das Bibliothekar-Lehrinstitut des Landes Nordrhein-Westfalen. Kaegbein kannte mich aus der Planungsgruppe Bibliothekswesen im Hochschulbereich Nordrhein-Westfalen beim Ministerium und war auf die Idee gekommen, ich könnte in Köln passen. Kurz und gut, ich wurde nach Köln berufen und damit war das Schreckgespenst Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen verschwunden [lacht].

So ist es gekommen, dass ich im Hochschulbereich gelandet bin. Die Arbeit in der Lehre machte mir bald, das heißt nach einer gewissen Zeit, großen Spaß. Erst neulich habe ich in den Unterlagen geblättert, die ich mir damals zur Vorbereitung auf meine ersten Vorlesungen zusammengestellt habe. Das war nicht so ohne. Es dauert ja eine Weile, bis man Routine hat.

Zum Thema Arbeit in der Bibliothekspraxis gab es noch ein Zwischenspiel, das nicht unwichtig war und gut ein Jahr dauerte. 1976, als der Wechsel in die Lehre schon bevorstand, wurde ich vom Ministerium an das Hochschulbibliothekszentrum des Landes NRW (HBZ) delegiert. Dessen erster Direktor war im Jahre 1973 Günther Pflug geworden. Als das HBZ eigentlich noch nicht voll in Gang gekommen war, wurde Günther Pflug 1976 zum Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main berufen. Die ehrenvolle Berufung konnte und wollte Pflug natürlich nicht ablehnen, doch für das Ministerium in Düsseldorf war guter Rat teuer. Jammers fand keinen, der die Aufgabe am HBZ zu übernehmen bereit gewesen wäre, obwohl es um eine gut dotierte Stelle ging: B2 und damit über Professoren- oder Oberstudiendirektoren-Gehältern liegend.

So delegierte das Ministerium mich nach Köln auf die vakant gewordene Stelle. Ich habe damals dem Staatssekretär ausdrücklich gesagt, dass ich die Aufgabe am HBZ nicht als Daueraufgabe betrachte; Jammers wusste das sowieso. Ich war mir bewusst, dass meine Stärke nicht in dem Bereich liegt, den das HBZ zu betreuen hat. Die Weiterentwicklung der frühen Datenverarbeitung und der ganz frühen Informationstechnik war meine Sache nicht. Jeder sollte sich selbst richtig einschätzen und mir war klar, dass meine Möglichkeiten woanders liegen. So habe ich betont, dass ich die Aufgabe einstweilen übernehme, weil ich mich als Beamter dazu verpflichtet fühle und weil ich in der Lage bin, die dort anfallenden Verwaltungsaufgaben zu erfüllen. Das Ganze zog sich dann immerhin über 15 Monate hin. Dann hatte das Ministerium in der Person des Kollegen Dr. Peter Rau einen guten Nachfolger für Pflug gefunden und ich konnte mich in Köln ganz der Lehre widmen.

Ich fasse zusammen: Universitätsbibliothek Bochum, Fachhochschulbibliothek Bochum (nebenamtliche Leitung), Wissenschaftsministerium in Düsseldorf, Hochschulbibliothekszentrum in Köln (kommissarische Leitung). Soweit die Praxiserfahrung, die ich von 1977 an in die Lehre einbringen konnte.

KS: 1995 wurden Sie dann auf die Professur für Bibliothekswissenschaft an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

EP: Ja, da ist eigentlich die Weltgeschichte ursächlich, genauer und etwas bescheidener gesagt, die Vereinigung Deutschlands. So habe ich wiederholt formuliert, und zwar mit Bedacht; es gibt Fügungen, die man ergreifen kann und soll. Im Jahre 1989, im Frühjahr wohlgemerkt, war ich zum Vorsitzenden des Vereins Deutscher Bibliothekare gewählt worden. Die wenigsten werden wohl geahnt haben, was sich im Laufe dieses Jahres noch ereignen sollte, speziell am 9. November. Und dann kamen die Ereignisse und ich war nun Vorsitzender des Vereins. Ich habe mir gesagt: Daraus erwächst dir eine Verpflichtung, du musst jetzt umgehend auf der anderen Seite der niedergegangenen Mauer Kontakte zu den dortigen Kollegen knüpfen. Das ist auch gelungen, unter Mithilfe der weiteren Vorstandsmitglieder. Natürlich erstreckten sich die Kontakte auf Kollegen Ost, die einige Zeit später nicht mehr im Amt waren, und auf Strukturen Ost, die noch im Jahre 1990 zerfielen. Immerhin gab es bereits im Februar 1990, als man noch nicht wusste, dass Deutschland schon im Oktober desselben Jahres vereinigt sein würde, eine größere Versammlung in Warnemünde. Die Vorstände der Verbände West fuhren dorthin, wir wollten den Kollegen entgegenkommen.

Spätestens in Warnemünde stellten wir fest, dass wir allesamt ahnungslose Wessis waren. Ich vermute, dass die Kollegen im Osten weit mehr Ahnung von unseren Verhältnissen hatten als umgekehrt. Folgendes Beispiel: Am 4. und 5. November 1989 fand eine turnusmäßige Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der bibliothekarischen Ausbildungsstätten statt, und zwar in den Räumen der Bayerischen Bibliotheksschule in München. Der Kollege Rupert Hacker warf die Frage auf: Was machen wir denn mit den Kolleginnen und Kollegen, die aus dem anderen Teil Deutschlands über die Botschaften in Budapest und Prag hierher gekommen sind? Unter den vielen Menschen, welche die Bundesrepublik auf diesem Wege erreicht hatten, gab es natürlich auch Bibliothekare. Kein Mensch im Westen wusste, wie man die Kollegen, wenn man sie anstellen wollte, tariflich eingruppieren sollte. In der Bayerischen Bibliotheksschule saßen zehn oder zwölf Personen, samt und sonders kundige und interessierte Kollegen mit vielen Kontakten, die einander ratlos ansahen. Keiner konnte die Frage beantworten. Ja, wozu bilden die denn in Leipzig aus? Wozu bilden die in Sondershausen aus? Wozu an der Humboldt-Universität? Keiner wusste es. Es wurde die Aufgabe gestellt, jeder sollte sich, so gut es geht, kundig machen. Das ging schon bald besser als erwartet, weil sich einige Tage später die Mauer öffnete.

Dies vorausgeschickt war ich von Anfang an durch den VDB-Vorsitz und durch die Arbeitsgemeinschaft der bibliothekarischen Ausbildungsstätten ziemlich eng in die Themen einbezogen, die mit der Vereinigung Deutschlands zusammenhingen. Das führte unter anderem dazu, dass ich im Frühjahr 1990 einen Besuch in Dresden in dem neu gebildeten Ministerium machte, nachdem die ersten Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern stattgefunden und die Landtage und Landesregierungen sich konstituiert hatten. Die Reise habe ich als VDB-Vorsitzender unternommen, um festzustellen, wer auf Regierungsebene für die Bibliotheken zuständig ist und um sodann die notwendigen Kontakte zu knüpfen und Informationen auszutauschen. In Dresden empfing mich Herr Dr. Rosenkranz, mit dem ich mich sofort gut verstanden habe. Wir hörten einander aufmerksam zu. Nach dem eingehenden Gespräch (und einem kurzen Gang durch die immer noch nach dem Zweiten Weltkrieg aussehende Stadt) reiste ich wieder nach Hause. In der Folgezeit habe ich auch das zuständige Ministerium des Landes Sachsen-Anhalt aufgesucht (wegen Sondershausen) und die zuständige Senatsverwaltung in Berlin (wegen der HU), natürlich auch die betreffen Ausbildungsstätten selber.

Im Lauf des Jahres 1991, ein Jahr nach meinem Besuch in Dresden, erreichte mich der Ruf, als Gründungsdekan für den geisteswissenschaftlichen Fachbereich der neuen Fachhochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) nach Leipzig zu kommen. An eine solche Entwicklung hatte ich 1990 nicht gedacht, aber es kam so und ging natürlich letztlich auf meinen Besuch in Dresden zurück. Das Ministerium suchte einen Gründungsdekan aus einem westlichen Bundesland, weil es bei der Neustrukturierung der bibliothekarischen Studien viele Dinge zu regeln galt, die man in der allgemein westlichen, also nicht nur westdeutschen, sondern auch französischen, englischen, kurzum in der ganzen westlichen Welt üblichen Form der Hochschulorganisation durchführen wollte. Dass ich die Aufgabe bewältigen könnte, nahm man in Dresden vielleicht auch deshalb an, weil ich vier Jahre lang Rektor der Fachhochschule für Bibliotheks- und Dokumentationswesen in Köln gewesen war (1986–1990). Ich habe es nicht bereut, den Ruf angenommen zu haben. Die Jahre in Leipzig sollten die schönsten meiner beruflichen Laufbahn werden, die interessantesten wurden es eh. Auf die gewissen Abstriche, die ich in der Erinnerung an meine Humboldt-Zeit zu machen habe, komme ich später noch zu sprechen [lacht].

Wie die einheimischen Kollegen von den drei Vorgängereinrichtungen in Leipzig mitgezogen haben, war wunderbar, obwohl sich alle im Klaren sein mussten, wie unsicher ihre berufliche Zukunft aussah. Die Einrichtungen, aus denen der neue Fachbereich an der künftigen HTWK hervorgehen sollte, waren die Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler, die für Öffentliche Bibiotheken und Buchhandel ausbildete; die Fachschule für Wissenschaftliches Bibliothekswesen (ÖB und WB waren in der DDR strikt getrennt); die Fachschule für Museologen. Für den ganzen Fachbereich waren 18 Stellen für hauptamtlich Lehrende vorgesehen, etwa 50 Lehrer hatte es an den drei Vorgängereinrichtungen gegeben – die übliche personelle Überbesetzung der DDR. Die letzteren waren zum größeren Teil nicht promoviert und wussten, dass sie nur geringe Chancen hatten, auf eine der wenigen Hochschullehrerstellen übernommen zu werden.

In dieser Lage gab es für mich beziehungsweise für die Gründungs- und Berufungskommission eine gewisse Entspannung aus politischen Gründen. Das Ministerium in Dresden hat mir nämlich alsbald vermittelt, dass ich mich um die politische Seite der Sache nicht zu kümmern habe, also um die Frage, wer von jenen 50 Mitarbeitern bei der Stasi mitgemacht hat und so weiter. Das hat das Ministerium selbst übernommen und mir fiel ein Stein vom Herzen. Natürlich bemerkte ich nach einer gewissen Zeit, wo in Leipzig der politische Hase lief, habe mich dann aber bemüht, daraus nichts zu machen. Im Übrigen bemerkte ich in den vielen persönlichen Gesprächen schon, welche Kollegen fachlich wirklich gut und politisch unbelastet waren. Die Promovierten hatten ein Prae, das war klar und konnte nicht anders sein. Letztlich hat die Gründungs- und Berufungskommission, deren Vorsitzender ich war, über die Berufungen entschieden. Sie hat ihre heikle Aufgabe gut gelöst und die Hochschule auf die Beine gebracht. Der neue Fachbereich bekam bald Zuspruch; ich kann mich genau erinnern, wie die ersten Studenten aus Bayern kamen [lacht].

Über die Entwicklung des Fachbereichs habe ich die Fachwelt ausführlich informiert, in einem ZfBB-Heft nach dem anderen. Kollege Lehmann, damals Generaldirektor der Deutschen Bibliothek und Redaktor der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, sagte mal zu mir: Herr Plassmann, als Sie beim fünften oder sechsten Beitrag waren, da dachte ich – so lobenswert die Berichte sind – irgendwann muss dieser Fortsetzungsroman doch mal ein Ende haben! Dieses Wort gebrauchte er [lacht]. Ich konnte ihm nur antworten: Wenn Sie meine Beiträge noch ein paar mal aufnehmen, findet die Sache einen guten Abschluss. Er hat es noch ein paar mal geduldet, so sind insgesamt zehn derartige Berichte erschienen. Damit ist alles nachvollziehbar, was wir damals in Leipzig gemacht haben. Ich hatte erstklassige Hilfe durch Prof. Christian Uhlig, der als Gründungsprofessor für den Studiengang Buchhandel gekommen war. Aus meiner früheren Arbeit in Bochum war mir der Buchhandel nicht unbekannt, doch war mir klar, dass meine Kenntnisse auf dem Gebiet bei Weitem nicht ausreichten, um diesen Studiengang voranzubringen und in der akademischen Welt so zu platzieren, wie er es verdiente. Christian Uhlig, gelernter Buchhändler und Volkswirt, war akademischer Direktor an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete in der Entwicklungspolitik, hatte aber seine Vergangenheit keineswegs vergessen. Jedenfalls war er umstandslos bereit, als Gründungsprofessor nach Leipzig zu kommen. Noch andere Namen sind zu nennen. Vor allem Gottfried Rost von der Deutschen Bücherei, Mitglied meiner Kommission, und Thorsten Seela haben mir durch Rat und Tat so gut zur Seite gestanden, dass ich die Klippen und Untiefen des Umwandlungsprozesses weit besser umschiffen konnte, als es ohne ihre Hilfe möglich gewesen wäre.

Langer Rede kurzer Sinn: Meine Arbeit in Leipzig bleibt mir in sehr schöner Erinnerung. An die Zeit als Gründungsdekan, vom Ministerium ernannt, schloss sich noch eine kurze Zeit als gewählter Dekan an, die ich allerdings nicht mehr zu Ende geführt habe.

Es erschien nämlich schon bald eine Stellenausschreibung der Humboldt-Universität. Gesucht wurde ein C-4-Professor für das Institut für Bibliothekswissenschaft. Ich glaubte, dass die Stellenbeschreibung genau auf meine bisherigen Arbeiten passte und bewarb mich. Die Berufungskommission hatte aber, wie ich feststellen musste, kein Interesse an meiner Bewerbung. Ich hörte nichts von der Kommission, erfuhr aber von meinem an der Humboldt studierenden Schwiegersohn von einem Aushang, der besagte, dass zwei Probevorträge im Institut für Bibliothekswissenschaft gehalten würden, der eine von Pamela Spence Richards aus den USA, der andere von einem Kollegen aus Österreich; zwei Probevorträge und nicht, wie üblich, drei. Da wusste ich Bescheid und zog, um mir eine förmliche Absage zu ersparen, meine Bewerbung zurück.

Derweil wollte das Rektorat der HTWK mich auf Dauer in Leipzig halten, auch das Ministerium in Dresden signalisierte mir diese Absicht. Doch war ich der Meinung, dass das Kollegium in Leipzig seine Sache gut alleine machen würde und keinen Professor aus dem Westen mehr brauchte. So kehrte ich zum Sommersemester 1995 nach Köln zurück, wo ich den hieran sehr interessierten Studenten neben dem normalen Stoff vieles von dem, was sich in den östlichen Bundesländern tat, sozusagen live vermitteln konnte.

Dann kam es doch zur Berufung an die Humboldt. Ein denkwürdiger Anruf von Walther Umstätter im Frühjahr 1995: Sitzt du auf einem Stuhl? Meine Antwort: Ja, ich sitze auf einem Stuhl. Er habe mir etwas Wichtiges mitzuteilen, fuhr der Kollege fort. Würdest du doch nach Berlin kommen? Ich erwiderte: Ja, ich würde schon nach Berlin kommen, ich bin nicht beleidigt oder dergleichen; wenn ihr mich wirklich haben wollt, komme ich. Nur eins: Nochmal bewerben werde ich mich nicht. Und Umstätter hat es geschafft, meine Berufung an die Humboldt-Universität zu erreichen, auch ohne dass ich mich erneut beworben hätte. In den drei Jahren in Leipzig hatte ich Spaß daran gehabt, Neues auf den Weg zu bringen und freute mich nun, das auch in Berlin zu versuchen.

KS: Dort lag zu diesem Zeitpunkt die Zusammenlegung der Institute von HU und FU noch nicht lange zurück. Welche Auswirkungen hatte diese Situation, wie haben Sie die Atmosphäre am IBI damals wahrgenommen?

EP: Um es rundheraus zu sagen: Die Atmosphäre hätte besser sein können [lacht]. Es wäre ja fast ein Wunder gewesen, wenn es anders gewesen wäre. Es kamen drei sehr verschiedenartige Gruppen von Personen im Lehrkörper zusammen: Erstens Humboldt alt, zweitens FU und drittens die Neuberufenen, die von woanders hergekommen waren. Diese drei Gruppen hatten jeweils ganz unterschiedliche Vorgeschichten. Wobei ich den Unterschied zwischen den Neuberufenen aus den westlichen Bundesländern und den FU-Leuten als größer wahrgenommen habe als den Unterschied zwischen den Kollegen West und Ost. Das alte West-Berlin war in einem Maße ein Fall für sich, wie man sich das heute kaum noch vorstellen kann.

Zu Mauerzeiten bin ich sehr oft in Berlin (West) gewesen, und, von zwei Ausnahmen abgesehen, immer mit dem Flugzeug gereist. Wenn Sitzungen von Vertretern bestimmter Sparten wie zum Beispiel der bibliothekarischen Ausbildungsstätten aus verschiedenen Bundesländern stattfanden, so wurden diese natürlich nach Hannover, Stuttgart oder Düsseldorf anberaumt, aber auch oft – jedenfalls öfter als man denken könnte – nach Berlin (West). Das lag daran, dass Ministerien im Westen Dienstreisen nach Berlin mit dem Flugzeug zahlten, weil Berlin unterstützt werden sollte. Ich nahm dann in Düsseldorf morgens das erste Flugzeug und kam abends mit dem letzten zurück. So kam ich öfter nach Berlin und war mir klar, dass Berlin – auch im engeren Bereich des Bibliothekswesens – etwas Besonderes ist.

An der FU kam noch Folgendes hinzu. Die dortige bibliothekarische Ausbildung bestand aus zwei disparaten Teilen, erstens einem relativ wenig genutzten universitären Studiengang, den man nur in Kombination mit anderen Fächern studieren konnte, und zweitens einem eigentlichen Fachhochschulstudiengang (Diplom-Studiengang), der nur sechs Semester dauerte und in ÖB und WB aufgeteilt war. Deren Studenten bekamen alle einen Abschluss, wie man ihn in den alten Bundesländern an der Fachhochschule bekam. Und die Absolventen wurden an den Bibliotheken auch entsprechend eingestellt. Die Regelung stammte letztlich aus der Zeit der Begeisterung für die Gesamthochschule, an der universitäre und FH-Studiengänge möglichst eng miteinander verzahnt werden sollten. Dass das aus vielen Gründen, auf die wir hier nicht eingehen können, dann nicht so gekommen ist, steht auf einem anderen Blatt. An der FU hatte es sich aber erhalten und damit war die FU in unserem Kreise der bibliothekarischen Ausbildungsstätten ein Unicum. Beinahe hätte ich gesagt, ein Unicum et Curiosum, aber gut, so war das. Ein wirkliches Unicum et Curiosum an der FU bestand darin, dass es in dem sechsköpfigen hauptamtlichen Lehrkörper nicht eine einzige Frau gab, obwohl in Berlin (West) genauso wie überall sonst in West und Ost 85 bis 90 % Studentinnen eingeschrieben waren. In Köln, Leipzig und an anderen Orten bestand damals längst ein Viertel oder ein Drittel des hauptamtlichen Lehrkörpers aus Frauen.

Nachdem das FU-Institut 1994 an die Humboldt transferiert worden war, bestanden die disparaten Studiengänge zunächst an der HU weiter. Die FU-Kollegen wussten von früher, dass ich, so wie die meisten Kollegen aus den westlichen Bundesländern, diesen Zustand suboptimal fand. So begegneten die FU-Kollegen den aus den alten Bundesländern Gekommenen mit Vorbehalten; zwei FU-Kollegen nehme ich ausdrücklich aus, die haben mich kollegial und sehr freundlich empfangen. Um es aus meiner Sicht offen zu sagen: Ich habe das Konzept der verschiedenartigen Studiengänge nach außen mit vertreten, war mir aber klar darüber, dass die Humboldt-Universität das nicht auf Dauer mittragen würde. Und dass es sich zum Nachteil unseres Instituts auswirken würde, wenn wir die von der FU mitgebrachte Extrawurst an der HU unbedingt hätten beibehalten wollen.

KS: Wie haben sich denn die Ausrichtung und auch die Fachidentität am Institut während Ihrer Zeit dort entwickelt?

EP: Als die FH-äquivalenten Studiengänge schließlich ausgelaufen waren und wir uns auf die universitären Studiengänge konzentrieren konnten, brach eine gute Zeit am IBI an. Erstens war es eine wunderbare Studentengeneration, zweitens nenne ich diese Jahre, die ich hier erlebt habe, immer die Zeit der Re-Akademisierung des Studiengangs. Dabei setze ich voraus, dass es in der DDR nicht das gegeben hat, was wir unter einem akademischen Studiengang verstehen. Hervorragende Einzelleistungen, wie zum Beispiel von Horst Kunze, möchte ich davon ausnehmen. Aber die Strukturen als Ganzes waren eigentlich nicht akademisch. Die Freiheit des einzelnen, der Instituts- und Fakultätsräte und so weiter gab es in der DDR so nicht. Kurzum, die Re-Akademisierung war eine schöne Periode der Institutsgeschichte; in dem Vorwort Gruß und Dank in der Festschrift für Konrad Umlauf habe ich das festgehalten.

Mit den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende und den ersten Jahren danach verbinde ich die Durchführung einer wachsenden Zahl von Promotionsverfahren und die Erfindung des Promovendenkollegs, dem sich Konrad Umlauf umgehend und mit hohem Einsatz anschloss. Die Promotionsanwärter lernten sich dort gegenseitig kennen, kamen mit mehreren Professoren persönlich ins Gespräch und das in aller Ruhe, einen Freitagnachmittag und einen Sonnabendvormittag lang. Kurz nachdem wir damit angefangen hatten, las ich in einer hochschulpolitischen Zeitschrift: Der Wissenschaftsrat empfiehlt die Einrichtung von Promovendenkollegs. Wir hatten also den richtigen Weg eingeschlagen. Zweitens verbinde ich mit jener Zeit die Neustrukturierung und Weiterführung des aus der DDR übernommenen Fernstudiums, im Zusammenhang damit die Kooperation mit der Universität Koblenz-Landau. Drittens trat das Institut mit öffentlichen Vorträgen von allgemeinerem Interesse hervor, im Zusammenhang damit ist die Einführung des Berliner bibliothekswissenschaftlichen Kolloquiums zu nennen, das geradezu ein Markenzeichen des Instituts wurde. Viertens ist das Erscheinen größerer Monographien von Institutsangehörigen zu nennen; auf diesem Felde haben mehrere Kollegen sich um das fachliche Ansehen des Instituts große Verdienste erworben, es war der Kern der Re-Akademisierung. Hier fällt der Unterschied zur DDR frappant auf. Aus dem Institut kamen zur DDR-Zeit Lehrbriefe, in denen das praktische Wissen des Bibliothekars (auf schlechtem Papier) tradiert wurde. Ich habe mir die neulich nochmal durchgesehen, man kann nur den Kopf schütteln. Die Begründung der blauen Schriftenreihe des Instituts ist ein weiteres sichtbares Zeichen des wiedererwachten wissenschaftlichen Lebens. Im Jahre 2000 erschien der erste Band und nach einer allerdings merkwürdigen Lücke von 2008 bis 2014 sind wir nun, so scheint mir, bei Band 28. Mit einer eigenen Schriftenreihe zeigt ein Institut nach außen hin nicht nur, welche Nachwuchsleute kommen, wenn dort zum Beispiel Dissertationen veröffentlicht werden, sondern es zeigt auch ein Stück seines eigenen Profils. Last but not least ist auf die Durchführung zahlreicher Exkursionen mit Studenten des Instituts hinzuweisen, und auf das Anknüpfen persönlicher Kontakte in auswärtigen und ausländischen Bibliotheken.

Das 200. Jubiläum der Humboldt-Universität, insbesondere die seinerzeit erschienene voluminöse Festschrift, hat die erfreuliche Entwicklung vieler Fächer einer weiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Der Beitrag zu unserem Fach ist demgegenüber eine herbe Enttäuschung. In Band 6 der Festschrift beschreiben zwei hiesige Kollegen die Entwicklung des Instituts seit 1995 so, dass man das Institut nicht wiedererkennt. Schon die Überschrift Die Bibliothekswissenschaften in Berlin (im Plural!) ist falsch, es gibt doch nicht mehrere Bibliothekswissenschaften! Und die Einrichtung heißt Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (im Singular!). Das ist das eine. Das andere: Nichts von dem, was ich vorhin aus lebendiger Erinnerung über das wiedererwachte akademische Leben an unserem Institut geschildert habe, kommt in dem Beitrag vor, aber auch gar nichts. Für die Zeit von 1995 bis 2010 (Erscheinungsjahr der Festschrift) werden einige formelle Dinge erwähnt, wie Wahlen abliefen, wer berufen wurde und dergleichen. So wird auch mein Name erwähnt, nur einmal und so nebenher, dazu mit einer abfällig gemeinten Wendung über mein vorgerücktes Lebensalter; es sollte wohl zum Ausdruck gebracht werden: Von dem kann ja nichts mehr kommen. Übrigens ist selbst dies unrichtig angegeben, da steht nämlich: der 59-jährige. Ich war aber schon 60 [lacht]. Die Namen von Umstätter und Umlauf werden überhaupt nicht genannt. Gerade diese beiden Kollegen haben viel und nachhaltig zu der geschilderten erfreulichen Entwicklung, zur Re-Akademisierung beigetragen.

Der Beitrag in der Festschrift stellt eine Verfälschung der Geschichte dar und ist daher ein Ärgernis. Das hat unser Institut nicht verdient. Ich bin dankbar, dass ich das dort gezeichnete schiefe Bild in diesem Interview zurechtrücken konnte.

Zu dem von Ihnen angeschnittenen Thema Fachidentität gehört natürlich auch das Dauerthema Printbuch beziehungsweise Printbibliothek und Digitalbuch beziehungsweise Digitalbibliothek. Der (vermeintliche) Gegensatz spielte vor 20 Jahren noch nicht die provokante Rolle, die ihm heute vielfach zugeteilt wird. Darum habe ich hier die damalige Re-Akademisierung hervorgehoben. Die war nach der DDR-Zeit eigentlich das wichtigere.

KS: Sie haben während Ihrer Zeit am Institut zahlreiche Lehrveranstaltungen gehalten und Projekte durchgeführt. Gibt es Veranstaltungen oder Projekte, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

EP: Ja. Leider ist die Webseite zu dem Projekt Das Buch und sein Haus zurzeit nicht zugänglich. Das hängt damit zusammen, dass sie dringend einer Bearbeitung bedurfte; ich habe eine Reihe von Fotos neu aufgenommen und mich auch entschieden, die Gesamtstruktur ein wenig zu verändern, hoffe aber, dass die Seite bald wieder freigeschaltet werden kann. Die Präsentation des Projekts, an dem mir viel lag und liegt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit meinen Exkursionen. Die waren so eine Art Alleinstellungsmerkmal von mir. Innerhalb von Deutschland gab es, soweit ich das aus dem Kopf sagen kann, drei oder vier Exkursionen zu Bibliotheken im Rheinland und im Ruhrgebiet, vier Exkursionen zu Bibliotheken in Bayern, zwei oder drei Exkursionen zu Bibliotheken in Baden-Württemberg. Eine Exkursion haben wir zu Bibliotheken im Elsass gemacht, wo wir von den französischen Kollegen übrigens besonders freundlich empfangen und geführt wurden (durchweg in deutscher Sprache). Und dann drei Exkursionen nach Polen, davon eine unter Einschluss von Litauen. Eine nach Tschechien und Österreich. In meiner Kölner Zeit hatte ich viele andere organisiert, infolge der politischen Bedingungen in Europa damals vornehmlich in die Niederlande, nach Belgien und Luxemburg. Bewusst habe ich die highlights in London und Paris, die British Library und die Bibliothèque Nationale ausgelassen – in der Erwägung, dass die jüngeren Kollegen ohnehin mal dahin kommen, aber zum Beispiel ins Elsass, nach Colmar oder Schlettstadt (Sélestat) nicht so leicht. Oder nach Polen, nach Lublin oder Posen.

In fast jedem Semester an der HU habe ich die Exkursionen zu deutschen und ausländischen Bibliotheken unternommen, darüber hinaus auch die üblichen Berlin-Exkursionen. Aus allen sind Fotos für das Projekt Das Buch und sein Haus hervorgegangen. Bei den Studenten fanden die Angebote stets guten Zuspruch. Ich erinnere mich an volle Omnibusse mit 30 oder 35 Studenten. Für die Studenten wurde das eigene Studienfach viel anschaulicher und lebendiger, darüber hinaus lernten sie sich untereinander besser kennen als an der Universität; Ergebnis unter anderem: ein Ehepaar [lacht].

KS: Gegen Ende der 1990er Jahre steuerte das Institut auf eine Krise zu, die Schließung drohte. Wie haben Sie diese Entwicklungen wahrgenommen?

EP: Das habe ich natürlich mit tiefer Trauer wahrgenommen. Umso mehr mit Trauer, als ich das Schicksal des Lehrstuhls Kaegbein noch lebhaft in Erinnerung hatte. Dieser war in der alten Bundesrepublik der einzige Lehrstuhl für Bibliothekswissenschaft auf Universitätsebene, wenn ich vom Sonderfall FU absehe. Kaegbein ist im Jahre 1990 emeritiert worden. Ich war viele Jahre hindurch Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln, auch dadurch mit Kaegbein verbunden, und habe die Festrede gehalten. Damals, im Juli 1990, stand die Vereinigung Deutschlands bevor und für uns Bibliothekare die Aussicht auf Erneuerung des Studiengangs an der HU. Dass der Kölner Vorgang sich just zehn Jahre später an der HU wiederholen würde, damit hatte ich allerdings nicht gerechnet. Schon gar nicht damit, dass ich selber dann in der Rolle von Kaegbein sein würde: Mit der Pensionierung des Professors wird der Studiengang geschlossen. Umso trauriger hat es mich gestimmt.

Über die Entscheidungen des politischen Senats und des Abgeordnetenhauses will ich nicht richten. Insgesamt kann ich höchstens sagen, dass diese politischen Gremien nach meiner Auffassung die Bildungspolitik generell etwas hintanstellen. Man braucht ja nur aktuell den Tagesspiegel aufzuschlagen und liest von der Lehrer-Misere in Berlin. Das ist vielleicht ein Fall für sich, doch will ich es wenigstens andeuten. Wie aber der Akademische Senat und das Präsidium der Humboldt-Universität die politischen Entscheidungen umgesetzt haben und nun ausgerechnet ein Fach, das in Deutschland allein gestellt ist, schließen wollen, da hört mein Verständnis auf. Prof. Mlynek, damals Präsident der HU, will ich keinen persönlichen Vorwurf machen. Da ist sicherlich vieles im Hintergrund geschehen, wovon ich nichts weiß. Aber insgesamt muss ich schon sagen: Die Idee, den Studiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu schließen, war irritierend.

KS: Zum Glück ist es ja letztendlich nicht dazu gekommen, die Schließung konnte abgewendet werden. Was hat denn aus Ihrer Sicht zur Rettung des Instituts in den 2000er Jahren geführt?

EP: Ich möchte hier deutlich die Studenten hervorheben. Die haben mit großer Geduld und starkem Impetus die sechs Jahre überstanden, bis schließlich der US-Professor kam [lacht]. Ich sehe die Studenten noch drüben in der BibLounge sitzen und Pläne schmieden. Immer wieder fiel ihnen etwas Neues ein. Wenn ich sie heute sehen würde, dann würden mir wohl ihre Namen wieder einfallen. Viele von ihnen sind auf meinen Exkursionen dabei gewesen. Ich weiß nicht, was bis zur Berufung von Michael Seadle im Hintergrund gelaufen ist, dazu kann ich nicht viel sagen. Natürlich haben die Kollegen und auch ich selbst noch vieles zur Überbrückung der Übergangszeit getan. Die heikle Lage des Instituts war für mich ein kräftiger Anstoß dazu, als Emeritus weiter Vorlesungen zu halten, mich auch weiter an Prüfungen zu beteiligen, am Promovendenkolleg mitzuarbeiten und so weiter. Ich möchte meine eigene Rolle nicht übermäßig hervorkehren, zumal ich meine Mitarbeit nach einigen Jahren zurückfahren musste. Spätestens 2003 bemerkte ich, dass ich durch die rasenden Fortschritte der Informationstechnik bedingt nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher. So habe ich mich von diesem Jahre an auf das Gebiet der Bibliotheksgeschichte zurückgezogen.

KS: Wie Sie selbst beschreiben, haben Sie sich 2000 in einen sehr aktiven Ruhestand verabschiedet, aber auch weiterhin Forschungs-, Lehr und Prüfungstätigkeit an der Humboldt-Universität wahrgenommen. Wie würden Sie die Entwicklung des Instituts in den letzten 18 Jahren aus Ihrer Sicht beschreiben?

EP: Sicherlich hat das Institut den Schritt von der Print- zur Digitalbibliothek gemacht. Dafür steht der Name Michael Seadle eindeutig. Und das war notwendig und richtig. Es war an allen Studienstätten notwendig und richtig. Zum akademischen Leben, wie ich es für die 1990er Jahre geschildert habe, kann ich jedoch für die spätere Phase keine genauere Einschätzung bieten.

KS: Das Institut feiert im kommenden Wintersemester 2018/19 sein 90-jähriges Bestehen. Was wünschen Sie dem IBI zum 90. Geburtstag?

EP: Das will ich gerne beantworten. Ich wünsche dem Institut, dass seine Angehörigen auch in Zukunft so umsichtig, so weitsichtig und auch so tolerant sind, dass sie keine falschen Gegensätze zwischen verschiedenen Themenfeldern aufkommen lassen, dass sie vielmehr weiterhin das Wort UND sagen können. Um es genauer zu sagen: Digitalbibliothek UND Printbibliothek, Öffentliche Bibliotheken UND Wissenschaftliche Bibliotheken, für die Dozenten: Fachstudium UND bibliothekarische Ausbildung, Theorie UND Praxis – als früherer Fachhochschullehrer sage ich das Letztere mit Nachdruck. Auf diesen Feldern, die man sicherlich noch ergänzen könnte, sollte immer das Wort UND seinen Platz haben. Dieses Wort bedeutet ja: Wir wollen Inklusion, nicht Exklusion. Vielen herzlichen Dank!

KS: Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Prof. Plassmann.


Prof. Dr. em. Engelbert Plassmann war unter anderem Professor an der FH Köln und Gründungsdekan des Fachbereichs Buch und Museum der FH jetzt HTWK Leipzig und schließlich von 1995 bis 2000 Professor am damaligen Institut für Bibliothekswissenschaft (IB) und bis 2009 unter anderem am IB und IBI noch in der Lehre aktiv.

Kirsten Schlebbe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat 2015 ihr Masterstudium am Institut abgeschlossen. 2016 begann sie ihre Promotion zum digitalen Informationsverhalten von Klein- und Vorschulkindern bei Prof. Dr. Elke Greifeneder. Seit 2016 betreut sie das Berliner Bibliothekswissenschaftliche Kolloquium.