> > > LIBREAS. Library Ideas # 31

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Entspannt euch!

Ein Kommentar zur Emotionalität in aktuellen bibliothekarischen Debatten


Zitiervorschlag
Susanne Brandt, "Entspannt euch!. Ein Kommentar zur Emotionalität in aktuellen bibliothekarischen Debatten". LIBREAS. Library Ideas, 31 ().


Über Entscheidungen und Äußerungen zu Bibliotheken kann man streiten – öffentlich und leidenschaftlich. Im Juli 2016 hat ein Schild an der Eingangstür der Stadtbücherei Nordenham die Gemüter erregt, eine lange Kette von Facebook-Kommentaren ausgelöst1 und den Medien reichlich Futter für das Sommerloch geliefert. In Heft 10/2016 der Zeitschrift BuB2 wurden schließlich wichtige Aspekte der Diskussion als Pro & Contra dargestellt – hier nun deutlich begründeter und sachlicher. In der unmittelbaren Reaktion auf das Schild Achtung – sie betreten eine Pokémon freie Zone wurden andere Töne angeschlagen: Mehrheitlich erregt, höhnisch, warnend, verärgert…

Ein halbes Jahr zuvor hatte in der Schweiz der Chef der ETH-Bibliothek Rafael Ball mit einem Interview unter der Überschrift Weg mit den Büchern3 für Aufruhr gesorgt, in dem er unter anderem auf die, seiner Meinung nach, schwindende Bedeutung von Gemeindebüchereien eingeht. Die Positionen scheinen konträr: Der eine hält Bücher in Bibliotheken für verzichtbar, der andere lässt die Bücher wo sie sind, will jedoch keine Pokémon-Spiele in der Bibliothek. Die Reaktionen auf diese öffentlichen Äußerungen sind in vergleichbarer Weise heftig, emotional aufgeladen und offenbar von ähnlichen Ängsten besetzt: Im Februar befürchteten viele mit der Abschaffung der Buchbestände das Ende der Bibliotheks- und Lesekultur. So heißt es in einem der Online-Kommentare, die sich an die Online-Veröffentlichung des Beitrags anschließen:

Wenn man den Chef der ETH-Bibliothek sagen hört,Weg mit den Büchern!, ist dann die höchste Zeit ihn von diesem Amte zu entlassen. (…) Schade, dass auch Herr Dr. Ball zum Opfer der computerisierten Technologie des Lesens gefallen ist. Auf jeden Fall, sind die im Artikel von Herrn Furger angeführten Aussagen irreführend und unverzeihlich: die fördern das Analphabetentum.4

Auch zu dieser Debatte gab es einige Tage später auf dem Portal des Schweizer Radio und Fernsehen einen sachlich gehaltenen Rückblick auf das erregte Echo.5

Im Juli dann wurde ebenso das Ende der Bibliotheken befürchtet, sobald dort nicht alles Digitale in seinen vielfältigen Spielarten ungehindert Platz finden kann und darf. Und manche nahmen das Pokémon-Verbot gleich als Anlass zur großen Rundum-Kritik – wie in folgendem Facebook-Kommentar-Beispiel:

Während in den USA die normale Storytime schon mit Pokémon Cosplay aufgelockert wird, töttern wir hier blöde rum. Macht mich aggressiv. Mindestens so aggressiv wie Lehrern, Eltern und Kollegen die Vorzüge von Graphic Novels und Comics zu erläutern.6

In beiden Debatten entwickelten sich im Verlauf der verzweigten Kommentarlinien und Medienechos allerlei Verkürzungen der ursprünglichen Aussagen, Missverständnisse, Anschuldigungen, Entrüstungen, Vorwürfe, Vermischungen von Themen, die wenig miteinander zu tun haben.

Warum werden beide Diskussionen um provokante Aussagen derart emotional geführt, in manchen Äußerungen auch deutlich herablassend, beleidigend und aggressiv im Ton?

Meine erste These dazu lautet:

In der einen wie der anderen Diskussion finden Untergangsszenarien, Ängste vor einem aus verschiedenen Gründen heraufbeschworenen Zurückbleiben oder gar Verschwinden der Bibliothek ihren Ausdruck. In beiden Diskussionen drückt sich für mich eine Verunsicherung oder Verärgerung aus, die den Ton und die Strategien der Verteidigung so scharf werden lässt.

Was dabei vermutlich alle wissen und erfahren: Das konkurrenzlose Merkmal bisheriger Bibliothekskonzepte, per Ausleihe etwas Stoffliches und damit etwas Standortbezogenes bereitzustellen, was sonst nur käuflich zu haben wäre, hat durch die mobile und in vielen Fällen quasi freie Verfügbarkeit digitaler Medien und Informationen einen anderen Stellenwert bekommen. Bei der Beantwortung vieler Alltagsfragen ist das Internet bibliotheksunabhängig längst die erste Wahl und ergänzt beziehungsweise ersetzt als Auskunfts- und Unterhaltungsmedium die bislang klassischen Ausleihangebote von Bibliotheken in vielen Bereichen. Das ist so und das wird sich weiter verstärken. Damit verbunden hat sich über soziale Netze eine Gewohnheit des Tauschens und Teilens entwickelt, die gegenüber dem klassischen Teilen per Ausleihe in mancher Hinsicht deutliche Vorteile durch mehr Mobilität, Partizipation und Flexibilität bietet. Diese gravierenden Veränderungen erleben all jene, die diese Entwicklung mit einer Erweiterung digitaler Angebote in Bibliotheken beantworten und begleiten ebenso wie all jene, die sich eher kritisch mit digitalen Trends auseinandersetzen, als fachliche wie emotionale Herausforderung, geht es doch um nichts geringeres als um eine gravierende Neuorientierung in der eigenen Arbeit und des von Menschen gestalteten Angebotes unter dem Druck einer immer noch dominanten, oft eher an den alten Aufgaben ausgerichteten Steigerungslogik und Erfolgserwartung seitens der Träger.

Bemerkenswert ist für mich, dass im Unterschied dazu im Buchhandel eher ein anderer Umgang mit dem medialen Wandel zu beobachten ist. Natürlich ist hier eine Vergleichbarkeit nur bedingt gegeben. Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang jedoch, dass offenbar gerade die Sortimenter mit deutlich erkennbarem, gern auch eigenwilligem Profil eher Erfolge zu verzeichnen haben als die großen Buchkaufhäuser. Auch für den stationären Buchhandel hat sich durch den bequemen Online-Vertrieb großer Anbieter eine massive Konkurrenzsituation ergeben. Also bietet er genau das, was es online eben nicht gibt: Atmosphäre, die Präsenz einer bewussten Auswahl, ein unverwechselbares Gesicht – und nicht selten den Mut, auch solche Themen zu inszenieren, die nicht überall zu finden sind. Daneben bleibt natürlich die Bestellmöglichkeit für alle anderen Dinge. Aber das, was den Menschen, die in der Buchhandlung arbeiten, am Herzen liegt – um hier bewusst eine emotionale Formulierung zu verwenden - darf auch sichtbar werden. Für viele Kunden scheint genau in dieser atmosphärischen und emotional-menschlichen Ausstrahlung der Reiz zu liegen: Offen und einladend präsentiert sich dieser Ort, aber nicht beliebig.

Auch bei den umstrittenen Standpunkten der oben zitierten bibliothekarischen Diskussionen haben Menschen, die für die Arbeit einer Einrichtung Verantwortung tragen, zum Ausdruck gebracht, was ihnen am Herzen liegt, haben neben allen sachlichen Argumenten, die dabei eine Rolle spielen, zugleich persönliche Einschätzungen und Ziele erkennen lassen.

Wer das tut, macht sich angreifbar. Was bei diesem Vergleich bemerkenswert ist: Schnell werden solche Positionen, die sich beim Beispiel aus Nordenham deutlich auf eine konkrete Einrichtung beziehen, als Angriff und Provokation für den gesamten Berufsstand und den gesellschaftlichen Auftrag gewertet.

Vor dem Hintergrund solcher Beobachtungen lautet meine zweite These, die sich vor allem auf die Äußerungen zu Nordenham von Fachkolleginnen und -kollegen bezieht:

Mit der mitunter so erregt bis aggressiv geprägten Streitkultur um den vermeintlich richtigen Zukunftskurs von Bibliotheken offenbart sich der alte Kampf gegen ein ungeliebtes Image, das viele im Zuge des digitalen Wandels nun endlich gegen ein modernes und cooles Image eintauschen möchten. Dieses oft als verstaubt abgewertete Image scheint noch immer ein wunder Punkt zu sein, und entsprechend empfindlich fallen viele Reaktionen auf Entscheidungen aus, die einer erhofften Aufwertung im Wege stehen könnten.

Plausibel erscheint mir diese These u.a. aufgrund von entsprechenden Äußerungen wie folgendes Beispiel aus der Facebook-Diskussion:

Ich denke, dass das daran liegt, dass durch eine solche Aktion ein veraltetes Bild von Bibliotheken wieder heraufbeschworen wird. Und es gibt so viele Bibliotheken, die sich alle Mühe geben, dieses Bild loszuwerden. Wenn dann ein solcher Post durch die sozialen Netzwerke geht, ist da die Befürchtung, dass das einen Rückschritt bedeutet und das ist dann natürlich sehr frustrierend7

Unklar und verschwommen bleibt bei so ausgedrückten Befürchtungen, welches neue Bild denn das alte und ungeliebte konkret ersetzen soll. Vielleicht macht das die Diskussion in vielen Teilen so aggressiv: Weil gegen etwas gekämpft wird, ohne eine umfassende Vision oder Zielvorstellung von dem zu haben, was das andere in allen seinen Dimensionen ausmacht. Zumindest scheint es in der Kürze der eifrigen Kurzkommentare schwer zu sein, von einer oberflächlichen Erregung zu einem fairen Diskurs über verschiedene Zukunftsmodelle zu gelangen.

Mag sein, dass Bibliotheken in der Zukunft kleiner werden, dass sie neue und veränderte Aufgaben in der Medienvermittlung übernehmen und weiter ausbauen, ihre Räumlichkeiten anders gestalten, mit diesen wie mit jenen Medien ihre Regale füllen. Mag sein, dass sie neue, anders messbare Qualitäten ausbilden, wenn sie sich mutiger und konsequenter einer Steigerungslogik widersetzen, die noch immer maßgeblich durch Ausleih- und Besucherzahlen gesteuert wird. Solange vor allem in öffentlichen Bibliotheken angespannt darum gerungen wird, wie digitale Angebote dort ihren Platz finden, solange diese Angebote nicht an einem erkennbaren Profil oder Ziel ausgerichtet werden, das eine Haltung deutlich macht und gern auch zur Diskussion stehen kann, solange ist es schwierig, wieder zu einer entspannteren Wahrnehmung von solidarisch zu verstehenden Aufgaben und mehrdimensionalen Visionen zurückzukehren.

Umso nötiger wäre es meines Erachtens, Besonnenheit und Respekt gerade auch dann im Spiel zu lassen, wenn Kollegen umstrittene Positionen beziehen und den Mut haben, diese öffentlich zu begründen, um damit das Weiterdenken in Bewegung bringen.

Meine dritte und letzte These an dieser Stelle lautet deshalb:

Ein fair und respektvoll geführter Diskurs könnte mehr in Bewegung bringen, als kurzzeitig auftauchende und wieder verschwindende Pokémons das tun. Der Diskurs könnte so vielleicht auch jene spielerische Komponente wiedergewinnen, die im beschriebenen Beispiel zwar mehrfach beschworen wurde, dem streckenweise sehr verbissen geführten Austausch aber gleichzeitig abhanden gekommen ist – und dem so genannten Spiel, um das es ging, wohl auch.

Denn wer mit dem Pokémon-Spiel die Vorstellung verbindet, Kinder so in die Bücherei zu locken, hat sich bereits vom Grundprinzip des zweckfrei Spielerischen verabschiedet. Wo ein Spiel mit eigennützigen Absichten verbunden wird, ist es im Grunde kein Spiel mehr, sondern Teil einer gezielten Werbestrategie, die dann auch als solche benannt werden sollte.

Gestritten wird hier also nach meinem Eindruck nicht um die Frage nach dem Recht auf Spiel in der Bibliothek, sondern um Imagegewinn, um das durchaus verständliche Interesse, im eigenen, vielleicht neu geschaffenen Berufsbild nicht verunsichert oder hinterfragt zu werden.

Deshalb:

Entspannt euch! Und wenn mal wieder darüber gestritten werden kann, was Mitarbeitende und Besucher in Bibliotheken tun dürfen, sollen, müssen oder auch nicht, lässt sich der Diskurs dann vielleicht spielerischer führen: mit Fantasie, Kreativität und Offenheit im Wechselspiel der verschiedenen Denkmöglichkeiten…

Mein Wunsch zum Schluss wäre, dass wieder mehr Mut und Respekt statt Abwertung und Ängstlichkeit Einzug halten mögen in unsere Fachdiskussionen. Denn mit Mut und Respekt lässt sich offener und kritischer wahrnehmen und einschätzen, wie und warum andere Kolleginnen und Kollegen an anderen Orten andere Entscheidungen treffen, andere Visionen haben und andere Profile ihrer Arbeit mit Leben und Ideen füllen.

Entspannt euch – und fürchtet euch nicht vor der Vielfalt!


Susanne Brandt, geb.1964 in Hamburg, Studium in Bibliothekswesen und Kulturwissenschaften, Qualifikation Rhythmisch-musikalische Erziehung und bibliotherapeutische Weiterbildung, seit 1995 zahlreiche Buchveröffentlichungen und Beiträge in Zeitschriften und Anthologien; ab 1987 Leiterin der Musikbibliothek in Cuxhaven, ab 2000 Bibliotheksleiterin in Westoverledingen/Ostfriesland, seit Juni 2011 Lektorin bei der Büchereizentrale Schleswig-Holstein in Flensburg.