Ort: Berlin Flughafen Schönefeld. Zeit: Sonntag, 24. Februar 2013, 6:00 Uhr. Die Sonne ist noch lange nicht aufgegangen. Im künstlichen Licht der Außenbeleuchtung des Flughafens sieht man Schnee liegen. 15 Studierende des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin überwinden zu studierendenunfreundlicher Zeit übermüdet die Sicherheitskontrolle des Flughafens. Ziel ist Mailand, Italien. Das Land, über das einst Goethe schrieb::
”Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl?“ [Fn 01]
Ort: Der Mailänder Flughafen Malpensa, Italien. Zeit: Sonntag, 24. Februar 2013, 08:50 Uhr. Das Licht ist trübe. Es liegt Schnee. Schon wieder, oder immer noch. Goethe ist vergessen.
Unsere Exkursionswoche zu den Bibliotheken Mailands und Bolognas beginnt. Eine Woche, in der wir mehr als sonst in einem Semester von Bibliotheken, Archiven, Kultur, Sparen und ”dem Italiener“ lernen (den es ja so gar nicht gibt, im Folgenden aus Platzgründen aber trotzdem so genannt wird).
Trotz des Sonderpreises (erste Ersparnis) ist unser Hostel Colours [Fn 02] sauber und gut ausgestattet, wenn auch nicht so farbenfroh wie der Name vermuten lässt. Unser Wunsch nach einem typisch italienischen Mittagessen offenbart sich im italienischen Mailand zunächst als exotisch, da offenbar alle umliegenden Restaurants von Asiaten betrieben werden. Gastrokenner und Herbergsvater Umberto reserviert uns einen Tisch in einem seiner liebsten Restaurants, das unser Vorstellung vom italienischen Restaurant gerecht werden soll. Wir landen in einem von Asiaten geführten Lokal, das neben chinesischem auch traditionell italienisches Essen führt. ”Der Italiener“ bestellt mittags gerne ein Menu fisso, das sich aus Pasta im ersten Gang und gegrilltem Fleisch, Käse o. ä. mit Beilage als Hauptgericht zusammensetzt. ”Der Italiener“, der ja auch wenig (und wenn, dann nur extrem süß) frühstückt und kaum Zwischenmahlzeiten außer dem gelegentlichen Caff einzunehmen scheint, bewältigt dieses Menü mühelos; wir sind nach der Vorspeise bereits mehr als satt. Die ersten Köpfe beginnen auf den Tisch zu sinken, woran der für deutsche Verhältnisse sehr gute Hauswein nicht unschuldig ist.
Der anhaltende Dauerschnee trübt zunächst unser dolce vita-Empfinden, aber einzelne Gruppenmitglieder lassen sich trotz Grau gut an der Farbe ihrer Regenschirme ausmachen (Pink!). Durch den Griesel sieht am Pferdehintern einer Reiterstatue vorbei der Dom grau und schmutzig aus. Wir sind in Bella Italia angekommen.
Die letzte Ersparnis des Tages ist ein hart erhandelter freier Eintritt in die Pinacoteca di Brera [Fn 03] für Studierende der Kultur und Kunst (wir). Nach einer Reise durch die Renaissance endet der Abend eher ruhig bei einem Glas Vino rosso.
Montagmorgen mag sich ”der Italiener“ gewundert haben, als er eine Gruppe vermeintlicher Touristen durch die engen Gassen Mailands hetzen sah. Wieso heißt aber auch die Kirche, die an einem völlig anderem Ort liegt, genauso wie unsere erste Bibliothek? Drei Gruppenmitglieder weniger und einige Minuten später sind wir nicht zuletzt wegen der originellen Beschilderung doch pünktlich am richtigen Ort und werden von Don Buzzi in der berühmten Biblioteca Ambrosiana [Fn 04] herzlich empfangen, in der sich Bibliothek, Studium und Museeum vereinen. Ein Bibliothekar der im Jahre 1602 gegründeten Bibliothek hat es sogar bis zum Papst geschafft! [Fn 05] Eigentlich ist das Museum Montags geschlossen, aber wir als spezielle Gäste bekommen eine Privatführung. Endlich wieder vollzählig bestaunen wir die 400 ausgehängten Gemälde der Galerie (Gesamtbestand 2.000) [Fn 06]. „Viel zu tun gibt es“, so Don Buzzi. Recht hat er, bei Unmengen an alten Büchern, Gemälden und anderen Kunstwerken, die erforscht und erhalten werden wollen. Zu jedem Gemälde gibt es eine Geschichte zu erzählen, so zum Beispiel die Skizze zum Fresco „Die Schule von Athen“ von Rafael, die bei Napoleon „Urlaub“ gemacht hat, im Laufe der Jahrhunderte aber wieder den Heimweg gefunden hat. Ganz zufällig treffen wir sogar die Chef-Restauratorin des berühmten letzten Abendmahls von Leonardo da Vinci (eine Ehre!) an der lebensgetreuen Kopie desselben, die kurz nach dem Original präventiv angefertigt wurde. Hinter dem Leonardo gewidmeten Raum verbirgt sich der erste, wunderschöne Raum voller alter Bücher (die Bibliophilen sind selig!). Mehr und mehr dringen wir in das Labyrinth der Räumlichkeiten ein, mit einem Abstecher in den Keller, wo sich der Safe für die ganz besonderen Kostbarkeiten verbirgt sowie hinter einer unscheinbaren Tür eine alte Römerstraße, was nicht ungewöhnlich für Italien ist. Das Highlight ist ein ungeplanter Abstecher in das Handschriftenmagazin, den uns der Leiter der Handschriftenabteilung ermöglicht, wo sich 36.000 Codices, viele aus dem griechischen und arabischen Raum, befinden, die weit über die Grenzen Italiens hinaus berühmt sind.
Es geht auch anders. Die Università degli Studi di Milano, [Fn 07] an der Bibliothekswissenschaft gelehrt wird, vermittelt einen weniger ruhmreichen Eindruck des italienischen Bibliothekssystems. Träger und Funktion der Bibliotheken passen nicht immer zusammen, durch eine Reform nach der Vereinigung Italiens wurden die Bibliotheken zwischen zwei Ministerien aufgeteilt, eines für Kulturgüter, eines für Bildung und Forschung. Neun Nationalbibliotheken (vergleichbar unseren Landesbibliotheken),vier haben das Pflichtexemplarrecht inne, zwei davon ”Biblioteca nazionale centrale (Rom, Florenz)“, weisen auf ein dezentrales, föderalistisches Bibliothekssystem hin. Im Allgemeinen ist die Finanzierung der Bibliotheken von staatlicher Seite eher unzureichend. Italien hat einfach zu viel Kunst und Kultur! Digitalisierungsprojekte und Open Access werden im Vergleich zu Deutschland eher vernachlässigt. Auch etwas Vergleichbares zu unseren Nationallizenzen gibt es nicht. Lizenzen müssen von jeder Bildungseinrichtung gesondert erworben werden und sind auch nur für Mitglieder derselben zugänglich.
Dienstagmorgen geht es mit 300 km/h in einem Schnellzug nach Bologna, die Stadt die ”la dotta“ [Fn 08] genannt wird. Auch dort – Schneeberge in den Straßen. Es versteht sich, dass unser erster Besuch einer traditionsreichen Bibliothek gilt, die im Gebäude der ersten urkundlich erwähnten Universität Europas residiert, der Biblioteca Comunale dell'Archiginnasio [Fn 09]. Beeindruckenderweise hat diese Bibliothek so viele Bücher, dass ein Flügel des Gebäudes abgesackt ist und sich deutliche Risse im Boden abzeichnen. Übrigens müssen wir den Mythos um Spaghetti Bolognese aufdecken. ”Der Bologneser“ mag Bolognese, nennt es aber ragu und würde niemals Hartweizennudeln dazu genießen.
Die Biblioteca Salaborsa, [Fn 10] unser zweites Ziel in Bologna, ist eine der wenigen wirklich modernen Stadtbibliotheken, die noch zu einer Zeit eingerichtet wurde, als für Bildung mehr Geld zur Verfügung stand (2001, vor der ersten Finanzkrise). Das ist auch spürbar. Das Gebäude ist liebevoll restauriert, nachdem es eine bewegte Geschichte hinter sich hat als Markt-, Box- und Basketballhalle, Bank und natürlich mit den obligatorischen Römerruinen im Keller ausgestattetist, die durch einen leider recht zerkratzen Plexiglasboden im Innenhof sichtbar sind. Besonders die Abteilung für die 0-3jährigen mit der Leseförderung, dem Tobeplatz und Angeboten für junge Eltern sowie die Kinder- und Jugendabteilung sind sehr liebevoll und mit viel Herz eingerichtet. Die Wände wurden zum Teil von berühmten Kinderbuchillustratoren gestaltet, die sich jährlich zur Kinderbuchmesse in Bologna treffen. [Fn 11] Für die Älteren gibt es kostenloses WLAN und ein reichhaltiges Angebot an internationalen Zeitungen, das so gut genutzt wird, dass die Plätze knapp sind und die Nutzertoiletten überwacht werden. Zum Abschluss gibt es einige freie Stunden, um die Stadt mit ihren endlosen überdachten Gehwegen zu erkunden und das erste gelato des Jahres zu essen. ”Der Italiener“ genießt sein Eis übrigens nur im Sommer als Erfrischung.
Wieder zurück in Mailand, besichtigen wir am Mittwoch das Archivio Storico Civico Biblioteca Trivulziana [Fn 12] im Castello Sforcesco. Hier sehen wir die mit am reichsten illustrierten Bücher, dürfen diese jedoch nicht anfassen. Eines der Schätzchen, die wir durch die Lupe betrachten dürfen, findet sich nach der Fahrt tatsächlich in dem Bildband ”Meisterwerke der Buchmalerei“ wieder! [Fn 13] Beeindruckend für deutsche Archivare ist vielleicht, dass hier sich jeder Besucher statistisch gesehen seines persönlichen Betreuers erfreut. Servicewüste Italien? Weit gefehlt!
Als Studierende von Kulturgütern haben wir die Ehre bei freiem Eintritt - rechtzeitig vorgebucht - Leonardos da Vincis L'ultima Cena im Original zu sehen. 20 Minuten Betrachtungszeit wurden uns Donnerstagmorgen gewährt, nicht viel, aber wie viele Menschen können schon von sich behaupten das Original betrachtet zu haben? Beflügelt schaffen wir es sogar, zu erneut erhandelten vergünstigten Eintrittspreisen, die 250 Stufen zum Dach des Doms hinauf und wieder hinunter zu laufen, um pünktlich die Biblioteca Nazionale Braidense [Fn 14] besuchen zu können. Eine von vielen Nationalbibliotheken, aber die einzige Bibliothek, in der wir die Bücher anfassen dürfen!
Am Nachmittag fahren wir raus, nach Rozzano - dahin, wo ”der Mailänder“ wirklich wohnt, in eine der wenigen Bibliotheken ohne Handschriften und Rara. Dafür geleitet uns ein freundlicher Polizist bis zur Eingangstür der Biblioteca Civica beziehungsweise der Biblioteca dei Ragazzi. In einem umgebauten ehemaligen Patrizierstall ist die Hauptbibliothek untergebracht, in der dazugehörigen alten Mühle die Kinderbibliothek. Eine der wenigen Führungen, in denen wir unsere Informationen nicht unmittelbar in Deutsch oder Englisch erhalten. Dank einer sehr freundlichen sprachkundigen Praktikantin klappt aber auch über zwei Ecken die Kommunikation (persönliches Highlight des Bücherfetischisten: eine Kiste mit ausgemusterten Büchern auf Englisch, die zu verschenken waren: Yay! Geschenkte Bücher!). Zurück im Hostel und auf zur Feier des letzten Abends. In einem von unseren Begleiterinnen ausgiebig auf Qualität getesteten Lokal, ”bei Anthony“, lassen wir uns die klassische italienische Küche schmecken. Wieder ein sparsam ausgehandeltes Komplettangebot beschert uns Pasta, Fleisch- und Pommesberge, verschiedene Nachspeisen sowie flaschenweise Hauswein. Wer danach geht, statt watschelnd sich stöhnend den Bauch zu halten, hat was falsch gemacht.
Letzter Tag, letzte Bibliothek. Die Biblioteca di Scienze della storia e della Documentazione Storica [Fn 15] begrüßt uns mit Caffè und Gebäck. Die Gastfreundschaft geht sogar so weit, dass einem Rarum, das zur Digitalisierung bestimmt war, der Einband abgenommen wurde, nur damit wir es besser sehen konnten. Wir hoffen, die Kostbarkeit landete danach nicht im Müll. Google Books hatte es jedenfalls noch nicht digitalisiert. Nach einem letzten Nachmittag mit ”dem Italiener” nehmen wir einen verspäteten Flieger zurück nach Berlin. Home, sweet home.
Was aber nehmen wir von so einer sechstägigen Exkursion mit? Zusammenfassend ist wohl wissenswert, dass ”der Italiener” viele für uns seltsam erscheinende Angewohnheiten hat und man generell schon im Tabacchi Briefmarken bekommt, nur eben nicht in jedem und nicht zu den selben Preisen und auf keinen Fall in einer Postfiliale. Unsere Angst vor der Guardia di Finanza erwies sich als unbegründet, niemand kontrollierte unsere gesammelten, archivierten und verfügbar gemachten scontrini (Kassenzettel). Wir freuen uns jedoch sehr auf unseren ersten Uniabschluss, denn bereits mit dem Bachelor ist ”der Italiener” Dottore. Und wir auch!
Anmerkung: Ein besonderer Dank geht an das Mailänder Goethe-Institut, das bei der Vorbereitung und Herstellung der Kontakte der Exkursion geholfen hat.
Fußnoten
[01] Goethe, Johann Wolfgang von: Mignon [zurück]
[02] http://www.hostelcolours.com/ (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[03] http://www.brera.beniculturali.it/ (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[04] http://www.ambrosiana.eu/jsp/index.jsp (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[05] gemeint ist Achille Ratti, der später als Pius XI den päpstlichen Thron bestieg [zurück]
[06] Zahlenangaben ohne Literaturhinweis sind unseren Vortragsnotizen entnommen [zurück]
[07] http://www.unimi.it/ENG/ (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[08] die Gelehrte [zurück]
[09] http://www.archiginnasio.it/english/english_index.html (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[10] http://www.bibliotecasalaborsa.it/home.php (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[11] http://www.bookfair.bolognafiere.it/home/878.html (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[12] http://www.comune.milano.it/dseserver/WebCity/documenti.nsf/weball/0FA205BBBD7D40B2C1256BCF004547E0?opendocument (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[13] Für Interessierte: Lucan: De bello Pharsalio, illustriert von Niccolo da Bologna [zurück]
[14] http://www.braidense.it/ (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
[15] http://www.sba.unimi.it/Biblioteche/storia/2006.html (zuletzt am 26.04.2013 geöffnet) [zurück]
Judith Feist und Stephanie van de Sandt studieren an der Humboldt-Universität zu Berlin Bibliotheks- und Informationswissenschaft.