Der Band fasst beispielhaft wichtige Themen aus dem Bereich von Informatik und Gesellschaft zusammen. Sie sind sowohl von InformatikerInnen als auch in interdisziplinärer Perspektive aus den Bereichen Jura, Technikgeschichte, Medienphilosophie und aus der Praxis geschrieben. Dabei sind einige Beiträge sehr allgemein gehalten, wie zum Beispiel Dirk Siefkes’ Plädoyer für die von Wolfgang Coy ins Leben gerufene Theorie der Informatik mittels seines Textes über informatische Muster, oder Marie-Theres Tinnefelds Beitrag zum Schutz der Menschenwürde als archimedischem Punkt einer Zivilgesellschaft. Andere wiederum sind sehr spezifisch herausgegriffen, wie Eric Töpfers Untersuchung zur Videoüberwachung, bei der zwar nationale Unterschiede interessant erscheinen, aber der Trend zur „angelsächsischen Mammutüberwachung” zu beobachten ist, oder Volker Grasmuck’s Beitrag zu DRM (digital rights management). Es gibt Technik-Historisches, wie Hans Dieter Helliges Untersuchung zur Entwicklung des Internet als Lernprozess, Theoretisch-Philosophisches wie Bernd Robbens Überlegungen zum Computer als Medium, und auch wieder sehr konkret Praktisches wie Dagmar Boedickers leider nur zu realistischen Fallbeispiele zu gröbsten Verstößen gegen den Datenschutz, Rikke Frank Joergensens Darstellung der UNO-Deklarationen zu Human Rights im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft und Hans-Jörg Kreowskis Plädoyer für das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. (FIfF).
Im Folgenden greife ich einige Texte aus dem Band heraus. Nach einer Einleitung durch den Herausgeber stellt Arno Rolf zum Thema Informatik und Gesellschaft Anforderung an ein breiteres Orientierungswissen (Mittelstraß 2001), in Ergänzung zum inzwischen kanonisierten informatischen Verfügungs- und Expertenwissen, welches es erlauben würde, die Wechselwirkungen zwischen Informatik und Gesellschaft in den Blick zu nehmen und zu systematisieren. Mittels eines 3-stufigen Schalenmodells ausgehend vom „soziotechnischen Kern”, der in sozialen Kontexten entstandenen Formalisierung, Algorithmisierung und Maschinisierung der Kopfarbeit qua Dekontextualisierung (Coy 1992, Nake, 1992) und ihrer Rekontextualiserung in alten und neuen Zusammenhängen, über die „Mikrokontexte”, in denen die mit IT beschäftigten und von ihr betroffenen Akteure sich in Arenen bewegen und handeln, und so reflexiv und rekursiv auf die von IT modulierten Strukturen einwirken, bis schließlich zu den „Makrokontexten”, den Organisationen, Wissenschafts- und Innovationsmilieus mit ihren Werten, Traditionen in globalen Zusammenhängen, entwickelt er daraus einen systemtheoretischen Orientierungsrahmen zum Verständnis der globalen Netzwerke mit dem Ziel, InformatikerInnen Orientierung und Gestaltungskompetenz zu ermöglichen.
In ihrem zweiten Beitrag in diesem Band legt Marie-Theres Tinnefeld, ausgehend von historischen Rechtskulturen, den Datenschutz als rechtskulturelle Leistung dar, sieht ihn jedoch massiv bedroht, nicht nur durch die offene Gesellschaft und aktive Gesetzesüberschreitungen, sondern auch durch die neuen technischen Möglichkeiten sowohl quantitativer als auch qualitativer Natur. Die Informations- und Bilderflut, verbunden mit den Möglichkeiten der Speicherung, Datenintegration, dem Data Mining und -Warehousing sowie den Überwachungsmöglichkeiten mittels RFID und Biometrie im Verein mit Videoüberwachung und neuen Möglichkeiten der Integration und Auswertung aller Arten von Daten, erzeuge eine neue informationelle Gewalt, welche der gebotenen öffentlichen Informationsaskese zuwider läuft und Rechtsgüter bedroht. Sie plädiert daher für eine dialogische Kultur zwischen Bürgern, Staat und Unternehmen, um grundlegende Datenschutzrechte trotz der Wünsche nach mehr Kontrolle im Interesse der Inneren Sicherheit (Anmerkung der Rezensentin: die wie bekannt durch den Überwachungsstaat nicht erfüllt wird, sondern vielmehr der Kontrolle aller Bürger dient) aufrecht zu erhalten.
Volker Grassmucks höchst spannender Beitrag zur Erfindung des DRM beschreibt ausführlich, wie angesichts der Widersprüche, die – eigentlich kostenlose – elektronische Kopie im Internet für wertbezogene Preise unmöglich machen, mittels DRM eine Lösung gefunden wurde, um aus ihnen dennoch enorme und unterschiedlich gestufte Gewinne zu ziehen. Doch das ist nicht das einzige Paradox, mit dem die Rechteinhaber kämpfen müssen. Das nächste ist die Tatsache, dass etwas, was beliebig verfügbar ist, verknappt werden, also Zugang ermöglicht werden muss, statt ihn – wie für die Preissteigerung nötig – zu verhindern. Grassmuck zeichnet die Überlegungen und Entscheidungen der Verwertungsgesellschaften und ihrer Akteure akribisch nach, zitiert, welche geschäftspolitischen Überlegungen und negativen Annahmen über InternetnutzerInnen – nämlich vor allem die, dass sie sämtlich unehrlich seien –, die Akteure der Verwertungsgesellschaften zur Erfindung der so genannten „trusted systems” geführt haben. Er zeigt auf, welche negativen Wirkungen die bisher entwickelten Systeme auf Systemsicherheit, Privatheit, Wahlfreiheit und Expropriation haben. Schließlich erwähnt er die politischen Probleme beim Versuch einer Durchsetzung globaler Lizenzen und die unterschiedlichen Widerstände, die dagegen in Europa, vor allem aus Frankreich aufgebracht werden. Dazu ist das letzte Wort nicht gesprochen, denn ebenfalls mächtige Gegner sind die Open Access Bewegungen.
Hans-Dieter Helliges Analyse der Entwicklung des Internet beschreibt dieselbe als Aggregation vielfältigster Erfindungen und Entwicklungen, die weder von Anfang an beabsichtigt noch vorhergesehen wurden. Die (geringen) TCP/IP Protokollfestlegungen standen in harter Konkurrenz zu den starreren europäischen OSI-Protokollen und haben sich gerade wegen ihrer Unvollständigkeit und Erweiterbarkeit letztlich durchgesetzt. Helliges sehr genaue und differenzierte Darstellung der Entwicklungswege des Internet zeigen deren Kontingenzen und soziotechnischen Bedingtheiten zwischen militärischen Anfängen, Firmeninteressen, studentischen Bedürfnissen und Einzelentwicklern. Die durch die auf Akteure zentrierte Technikgeschichtsschreibung nachträglich in die Welt gesetzten Heldenmythen deuteten die Geschichte aus Sicht der „Sieger”, unterschätzten die strukturellen Bedingungen, und blendeten Theorie- und Methodenprobleme bei der Verknüpfung der Einzelereignisse und Entwicklungsmomente aus. Stattdessen zeigt Hellige, dass die Leitbildfixierung der „heroischen” Entwickler durch immer neue Gruppen von Nutzern gemäß ihrer Nutzungsbedürfnisse überwunden wurde. Schließlich plädiert Eckhard Kanzow in seinem unkonventionellen Text „Zu lebenden und nicht lebenden Systemen – braucht die Infomedizin die Informatik?” für eine neue, auf eine ganzheitliche Alternativmedizin gerichtete Teildisziplin der Informatik, die Infomedizin. Er entwickelt zunächst die aus den Gender Studies bekannten Deutungen zur Entwicklung der Natur- und Technikwissenschaften, zieht dann die aus Konstruktivismus und Systemtheorie geholten Theorien der Selbstorganisation und Autopoiesis zur Überwindung der Trennung von Geist und Körper heran, um schließlich zu seinem eigentlichen Thema überzuleiten: Leben basierend auf Information. Dabei meint er mit Informationsflüssen nicht nur die durch Transmitter, Botenstoffe und elektrische Signale auf Nervenbahnen transportierte Information, sondern auch solche, die über mit Lichtgeschwindigkeit oszillierende Felder gesendet werden, wie sie in der Physik schon seit langem bekannt sind.
In Biologie und Medizin sind solche Theorien noch nicht allgemein anerkannt, sondern werden in der Alternativmedizin, etwa mit der Elektroakupunktur und den Bioresonanzmethoden vorwiegend diagnostisch, aber auch therapeutisch (Homöopathie) angewendet. Sie knüpfen zudem an alte asiatische Medizinrichtungen, wie die TCM, an, indem etwa die Messungen der Schwingungen an Meridianen vorgenommen werden können. Viele dieser in den westlichen Alternativansätzen entwickelten Erprobungen bedienen sich softwaregesteuerter Mess- und Behandlungsmethoden. Sie sind weder kanonisiert noch wissenschaftlich ausreichend erhärtet, was zum Teil auch an den Standardisierungsanforderungen der Schulmedizin und Pharmazie für Medikamente und Therapien liegen würde, welche sich individualisierten Medizinen wie der Homöopathie sperrten, da sie gleiche Ergebnisse über eine größere Population erfordern. Alternative Begründungen, Methoden, Therapien und Standardisierungen erhofft sich Kanzow nun von der Infomedizin.
Gegen Ende des Bandes sind die Stellungnahmen einer Anhörung zu Visionen für die Anforderungen an die Informatik im Jahr 2020 abgedruckt. Wie zutreffend sie sind, wird in gar nicht so ferner Zukunft festzustellen sein.
Am Ende steht ein aus den 1970-er Jahren stammender Text von Hans-Jörg Kreowski, welcher Zitate aus Konrad Zuses Buch „Der Computer – mein Lebenswerk” in ein fiktives Interview montiert. Er zeigt so etwas holzschnittartig, wie Zuses vermeintlich apolitische Haltung beim Versuch, während des Dritten Reiches die Entwicklung der Zuse Z2 zu finanzieren und sie für die Fernsteuerungsberechnungen der V2 zum Einsatz zu bringen, dem NS-Regime zuarbeitete. Der Text schließt sehr gut ergänzt mit selbstkritischen Zitaten von Galileo Galilei aus Berthold Brechts „Leben des Galilei”.
Da das Buch vom Jahre 2008 stammt, also 2006-7 geschrieben wurde, und sich in der Zwischenzeit Webanwendungen, Data Mining, die Integration der Medien, Cloud Computing, die sozialen Medien und der Internetkommerz sehr dynamisch weiter entwickelt haben und mit alledem Probleme der Sicherheit und des Schutzes von Persönlichkeitsrechten enorm zugenommen haben, wäre heute schon ein neues Buch zu schreiben, was dem FIfF empfohlen werden soll. Doch zeigt der Band exemplarisch, wie wichtig für die und innerhalb der Informatik ein ergänzender kritischer Blick auf ihre Theorien und Ziele, ihre Entwicklungen und Problemlösungen ist, um Sinnloses zu vermeiden und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden.