Im Juni 2011 besuchte ich eher zufällig als geplant die 70. Madrider Buchmesse (Feria del Libro de Madrid – http://www.ferialibromadrid.com/). Sie fand wie jedes Jahr unter freiem Himmel im oberen Teil des Stadtparks "Jardines del Buen Retiro" statt und kommt nicht nur deswegen um einiges charmanter daher als das geschäftige Frankfurter Pendant. Bemerkenswert ist, dass nicht nur Verlage, sondern auch Buchhändler dort ausstellen und verkaufen, und zwar alle im gleichen Format. So reihen sich lediglich 4-8 Quadratmeter kleine, gleichförmige und allesamt cremefarbene Buden entlang einer mittelgroßen Allee, egal ob Großverlag oder Spartenbuchhändler. Die Besucher ziehen gemächlich daran vorbei und erholen sich vereinzelt vom gnadenlosen Sonnenschein unter den nahen Bäumen. So sah ich mich am Ende vor lauter Charme mit sechs spanischen Büchern nach Hause gehen, obwohl ich doch eigentlich nichts kaufen wollte, schließlich sollte ich noch weitere zwei Wochen mit dem Rucksack in Spanien unterwegs sein.
Eines der gegen jede Vernunft erstandenen Bücher entpuppte sich als äußerst unterhaltsame Lektüre: „Signatura 400” (das von der spanischen Nationalbibliothek mit der etwas langatmigen Signatur 821.133.1-31"19" nach Clasificación Decimal Universal erschlossen wird), geschrieben von einer jungen, französischen Bibliothekarin, die – wie könnte es auch anders sein – natürlich auch bildhübsch ist. So hätte sie ebenso gut für den legendären, mittlerweile schon dreieinhalb Jahre alten Artikel „A hipper crowd of sushers” der New York Times posieren können, der Bibliothekare als neue „hip crowd” identifiziert. Diese Sophie Divry aus Lyon nimmt in ihrer reizenden Novelle kein Blatt vor den Mund, erschafft darin eine nicht ganz so hippe und klischeefreie Figur einer mittelalten Bibliothekarin, die in einer Provinzbibliothek eines Morgens vor der Öffnungszeit überraschend einen schlafenden Nutzer in ihrem Bereich (Geografie, die 900) findet, den sie erst weckt, um ihm dann in einem das ganze Buch andauernden und an Intensität zunehmenden Monolog – getreu dem Motto stille Wasser sind tief – mal eben so alles zu sagen, was sie denkt. Zum Beispiel:
- über die Bibliothek („mein Direktor will jetzt auch noch ein Café in der Bibliothek aufmachen, warum macht er nicht gleich aus der Mediathek eine Diskothek?”, „in Bibliotheken einzutreten ähnelt einer mystischen Vision von Fülle”)
- über die Gründe, die Leute in Bibliotheken führen („sie kommen um Unordnung zu machen, sie kommen, weil sie sich alleine fühlen und sich an etwas festhalten müssen, sie kommen, weil sie verrückt sind – vor allem im Sommer –, oder im Winter nicht genug Geld für die Heizkosten haben”; „das Zusammenführen eines richtigen Buches mit dem richtigen Leser erzeugt Funken, ein Feuer, es kann Leben verändern”, „ich sag Ihnen wer nicht kommt: der weiße, reiche Mann zwischen 35 und 50 Jahren, und warum nicht?, weil er zu dieser Zeit zu den dominierenden Barbaren gehört”)
- über die Männer („mit denen habe ich abgeschlossen, zumal mit denen in der Provinz, die mit meiner delikaten und gebildeten Seele nicht zurecht kommen, weswegen ich mich lieber in die Welt der Bücher zurückziehe”, „aber da ist dieser eine Benutzer, der mit dem schönen Nacken, der arbeitsam und still ist, mich aber nicht anspricht”, „ja, er hat eine Blondine, die sich kürzlich sogar getraut hat mich etwas zu fragen, die habe ich ganz schön abblitzen lassen”)
- über ihre Berufswahl („ich gestehe, als ich angefangen habe zu studieren, dachte ich nicht, dass ich als Bibliothekarin enden würde”, „Bibliothekar zu sein ist ähnlich wie Arbeiter zu sein, ich bin die Taylorisierte der Kultur”)
- darüber was man mit seiner Zeit anfangen sollte und was nicht („es gibt einen Punkt in deinem Leben, an dem du dir überlegen musst, was du mit deiner Zeit anfangen willst”, „ich reise nicht mehr, es bringt nichts, denn du hast nie Zeit, das zu verarbeiten was du kennenlernst und ich mag es nicht, die Dinge nur halb zu kennen”, „was, soll ich jetzt etwa DVDs ausleihen?”)
- über Literatur („was für Literatur produziert eine Gesellschaft in der es weder Kriege, noch Epidemien noch Revolutionen gibt?, ich sag es Ihnen, dumme Romane über gute Mädchen und mutige Jungs, die sich in einander verlieben, sich verletzen, um dann den ganzen Tag herum zu heulen und um Vergebung zu bitten”, „bei der Auswahl von Literatur halte ich es wie mein Fleischer, immer schön das Fett vom gesunden Fleisch wegschneiden, keine Gnade mit schlechten Büchern”)
- über die Kultur („Kultur ist kein Genuss, sie ist ein permanenter Kraftaufwand des Menschen, um seinem niederträchtigen Zustand des subzivilisierten Primaten zu entfliehen”)
- über Amerikaner („was sonst ist ein Amerikaner als ein Europäer, der das Schiff zurück verpasst hat?”)
Diese Auszüge sind nur als kleine Kostprobe der Themen zu verstehen, welche sich die gesellschaftskritische Bibliothekarin und scharfe Beobachterin ihrer Nutzer leidenschaftlich von der Seele redet. Dabei erklärt sie nebenher auch den Aufbau der Universellen Dezimalklassifikation, auf die der Titel des Buches anspielt. Die Signatur 400 ist darin nämlich nicht belegt, was sie als grobe Tölpelei empfindet, da sie die ungeklärte Frage ganz schwindelig macht, welcher Teil des menschlichen Wissens jemals dort Einzug erhalten wird. So ist dieses unbedingt zur deutschen Übersetzung empfohlene Debüt eine kurzweilige und äußerst frische Festschrift an die Literatur und die Bibliotheken. Das schmale Buch ist dabei keineswegs nur für die üblichen Bibliophilen interessant, sondern dürfte all jenen ein Schmunzeln entlocken, denen die besondere Atmosphäre des Ortes Bibliothek mit seiner latenten Serendipität am Herzen liegt. Gewidmet ist es übrigens von der Autorin ganz charmant all denjenigen, die leichter einen Platz in einer Bibliothek finden, als in der Gesellschaft.
Maria-Inti Metzendorf