> > > LIBREAS. Library Ideas # 20

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Rezension zu: Early Printed Books As Material Objects. Proceedings of the conference organized by the IFLA Rare Books and Manuscripts Section Munich, 19–21 August 2009. Ed. by Bettina Wagner and Marcia Reed. Berlin: de Gruyter, 2009. (IFLA publications. 149). ISBN 978-3-11-025324-5. XII, 367 S., Abb. € 99,95.


Zitiervorschlag
Oliver Duntze, "Rezension zu: Early Printed Books As Material Objects. Proceedings of the conference organized by the IFLA Rare Books and Manuscripts Section Munich, 19–21 August 2009. Ed. by Bettina Wagner and Marcia Reed. Berlin: de Gruyter, 2009. (IFLA publications. 149). ISBN 978-3-11-025324-5. XII, 367 S., Abb. € 99,95.. ". LIBREAS. Library Ideas, 20 ().


Die Erforschung des Buchdrucks im 15. und 16. Jahrhundert hat in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt an dem für die Gegenwart diagnostizierten „Medienwechsel” vom Buchdruck zu den elektronischen Medien. Zum einen erscheint vor dieser Folie die „Medienrevolution” des 15. Jahrhunderts – die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern – als historischer Vorläufer, dessen Erforschung auch Erkenntnisse zu den Strukturen und Folgen der gegenwärtigen Veränderungen verspricht. [Fn 1] Zum anderen führen die Bemühungen um eine breit angelegte Digitalisierung gerade im Bereich der frühen Druckgeschichte zu einer bislang ungekannten Verfügbarkeit der Primärquellen buchgeschichtlicher Forschung. Die groß angelegten bibliothekarischen Digitalisierungsprojekte, aber auch kommerzielle Projekte wie GoogleBooks, führen dazu, dass inzwischen ein großer Teil des gedruckten Kulturgutes der Frühen Neuzeit digital zugänglich ist. Im Bereich der Inkunabeln liegen derzeit (Januar 2012) knapp 10.000 von circa 28.000 insgesamt im 15. Jahrhundert erschienenen Ausgaben digitalisiert vor, davon viele in mehreren Exemplaren. Für das 16. Jahrhundert liegt der Anteil der digitalisierten Drucke deutlich niedriger, doch sind hier beinahe täglich signifikante Zunahmen zu verzeichnen. Gemeinsam mit der digitalen Verfügbarkeit buchgeschichtlich relevanter Bibliographien (GW, ISTC, VD16, VD17) und Datenbanken (EBDB, Piccard-online) steht ein kaum zu unterschätzender Quellenfundus bereit.

Diese Situation spiegelt sich auch in den Aufsätzen des vorliegenden Bandes. Er versammelt die Beiträge einer im August 2009 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München abgehaltenen „pre-conference” zur Konferenz der International Federation of Library Associations (IFLA) in Mailand. Die Vorkonferenz, die unter dem Motto „Early printed books as material objects” stand, fand zeitgleich mit der feierlichen Eröffnung der Ausstellung „Als die Lettern laufen lernten” der BSB München statt und bildete somit das wissenschaftliche Rahmenprogramm der Ausstellung.

 

Eingeleitet wird der Band durch ein Grußwort Rolf Griebels, als Generaldirektor der BSB München der Gastgeber der Veranstaltung, und einem einleitenden Vorwort von Bettina Wagner, Mitherausgeberin und Leiterin der Inkunabelabteilung der BSB. Es folgen sieben thematische Sektionen, die teils nach methodologischen, teils nach historiographischen Aspekten zusammengestellt sind.

Die erste Sektion ist explizit den Anfängen des Buchdrucks (bis circa 1460) gewidmet. Paul Needham behandelt an einigen Fallbeispielen das Problem der auflageninternen Varianz, also jenen Veränderungen, die durch Eingriffe während des Druckvorgangs entstanden sind. Die Beispiele, die Needham hier näher untersucht, sind der 31-zeilige Ablassbrief von 1554/55 (GW 6556), die ebenfalls auf 1454/55 datierte 42-zeilige Bibel („Gutenbergbibel”, GW 4201) und die 1462 von Johann Fust und Peter Schöffer gedruckte 48-zeilige Bibel (GW 4304). Für die Varianten in diesen Drucken kann Needham unterschiedliche Gründe aufzeigen, beispielsweise. die Aktualisierung von Jahreszahlen beim Ablassbrief, Korrekturen von Setzerfehlern oder nachträgliche Auflagenerhöhungen, die den Neusatz einzelner Lagen notwendig machten. Der anschließende Beitrag Eric Marshall Whites liefert einen Zensus der Fragmente der 42-zeiligen Bibel. White gruppiert die Fragmente anhand stilistischer Merkmale der Rubrikation und kann damit nachvollziehbar machen, welche der Fragmente aus demselben Exemplar stammen. Insbesondere für die Frage, wie viele Exemplare der B42 tatsächlich „überlebt” haben, ergeben sich hier neue Anhaltspunkte.

Auch die zweite Sektion behandelt überwiegend den Buchdruck der „ersten Generation”, allerdings aus dezidiert kunsthistorischer Perspektive. Die hier versammelten Aufsätze beschäftigen sich mit den verschiedenen Strategien der Drucker bei der Ausstattung ihrer Erzeugnisse mit Initialschmuck (Mayumi Ikeda), der internationalen Verflechtung des frühen Buchhandels, die sich unter anderem an der Ausstattung der Drucke nachweisen lässt (Lilian Armstrong) oder der Rolle von Klöstern bei der manuellen Dekoration von Druckwerken (Christine Beier).

In den beiden Aufsätzen der Sektion zur handschriftlichen Annotation von Drucken stellt zum einen Patricia J. Osmond einen Kommentar des italienischen Humanisten Pomponio Leto (1428-1498) zu den Werken des Sallust vor, der nur handschriftlich, in Form von mehreren weitgehend übereinstimmenden Kommentarapparaten in verschiedenen Sallust-Drucken sowie in der Abschrift eines bereits annotierten Druckexemplars, überliefert ist. Zum anderen stellt Armin Schlechter das kulturgeschichtlich überaus interessante Exemplar einer Ausgabe von Ciceros Epistolae ad familiares (GW 6821) der Heidelberger Universitätsbibliothek vor. Der Vorbesitzer der Inkunabel, Agostino Vespucci, war mehrfach als Schreiber für Leonardo da Vinci tätig und hat in seinen Büchern zahlreiche handschriftliche Anmerkungen hinterlassen. Auf die bekannteste dieser Marginalien hat Schlechter bereits 2005 hingewiesen: Eher beiläufig erwähnt Vespucci ein von Leonardo angefertigtes Portrait der Lisa del Giocondo – ein wichtiges Argument für die traditionelle, auf Giorgio Vasari zielende Identifizierung der „Mona Lisa”. [Fn 2]

Die daran anschließende Sektion versammelt drei Beiträge zur Einbandkunde der Inkunabelzeit. Claire Bolton wertet in ihrer Untersuchung zum Ulmer Drucker und Buchbinder Conrad Dinckmut ein Sample von 500 Einbänden der Ulmer Werkstatt mit statistischen Methoden aus. Sie kann dabei wichtige Anhaltspunkte für die Arbeitsweise Dinckmuts und die engen Verflechtungen seiner Buchbinderei zur Offizin des Ulmer Erstdruckers Johann Zainer, mit der Dinckmut offenbar eng kooperiert hat, herausarbeiten. In einem praxisbezogenen Artikel stellt Ulrike Marburger die in Kooperation mehrerer großer Sammlungen entstandene Einbanddatenbank (EBDB) vor, die sich inzwischen zu einer unersetzbaren Hilfe für die Einbandforschung entwickelt hat. Da in den USA derzeit noch kein mit der EBDB vergleichbares Instrument existiert, gibt Scott Husby in seinem Beitrag einen Einblick in ein Projekt, dessen Ziel ein Zensus der Inkunabeleinbände in amerikanischen Sammlungen ist.

Vier Aufsätze bilden die Sektion zum Thema Buchhandel und Provenienzforschung. Christina Dondi stellt ihr groß angelegtes Forschungsprojekt zum venezianischen Buchhandel vor, das methodisch auf eine statistische Auswertung der vom CERL gehosteten MEI-Datenbank (Material Evidence in Incunabula) zurückgreift. Angela Nuovo widmet sich dem Thema der italienischen Privatbibliotheken im 16. Jahrhundert, Raphaële Mouren zeichnet das Schicksal der Bibliothek des florentinischen Humanisten Piero Vettori (1499–1585) nach, und Michaela Scheibe beschäftigt sich mit dem Problem der Verzeichnung von Exemplarspezifika und Provenienzinformationen bibliothekarischen Online-Katalogen.

In der folgenden Sektion beschäftigen sich zwei Aufsätze von Kristian Jensen und Margaret Lane Ford mit dem Gebrauch von Inkunabeln seit dem 18. Jahrhundert. Jensen zeichnet nach, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts Inkunabeln zu begehrten Sammelobjekten avancierten und wie die damaligen Sammler nicht davor zurückschreckten, ihre Neuerwerbungen zu „verschönern”, zum Beispiel durch antikisierende Buchmalerei im Stil des 18. Jahrhunderts. Auch Fords Aufsatz zeichnet eine Praxis der „Verbesserung” von Inkunabeln nach, nämlich die Ergänzung von Defekten mit Blättern aus anderen Exemplaren. Die so entstehenden Mischexemplare – die ihrerseits wieder zu begehrten Sammelobjekten werden können – sind oft nur schwer zu erkennen, beispielsweise an stilistischen Variationen der handschriftlichen Buchillustration, einer ungewöhnlichen Verteilung der Wasserzeichen im Buchblock oder durch das Vorhandensein oder Fehlen handschriftlicher Annotationen auf einzelnen Seiten.

 

Die letzte Sektion des Bandes enthält schließlich zwei explizit methodologische Aufsätze. Wolfgang Undorf setzt sich anhand einiger Fallbeispiele aus der Schwedischen Nationalbibliothek überaus kritisch mit der Vorstellung eines Idealexemplars („ideal copy”) auseinander. Dabei kann Undorf zeigen, dass die Forderung der analytical bibliography, das ideale Exemplar einer Ausgabe zu beschreiben, häufig mit dezisionistischen Vorentscheidungen verbunden sind, die zu einer einseitigen Reduktion bibliographischer Mehrdeutigkeiten führen. Abschließend weist David Pearson nachdrücklich auf die Notwendigkeit eines „copy census”, also einer möglichst detaillierten Verzeichnung aller erhaltenen Exemplare und ihrer individuellen Spezifika, hin. Diese Forderung kann angesichts der in den vorangehenden Aufsätzen in unterschiedlicher Ausprägung aufgezeigten Möglichkeiten exemplarspezifischer Untersuchungen nur unterstrichen werden.

 

Im Anhang des Bandes finden sich Informationen zu den Autoren und ein umfangreicher Registerapparat. Dass der Band dabei außer einem Namens- und Ortsregister auch Informationen zu den erwähnten Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucken bietet – sowohl zu den einzelnen Exemplaren als nach Aufbewahrungsort geordnet, als auch zu den entsprechenden Nummern in den einschlägigen Bibliographien und größeren Bibliothekskatalogen (ISTC, VD16, VD17, Bod-Inc, BSB-Ink) –, ist ein hilfreiches Feature für den forschenden Zugriff. Die Ausstattung mit zahlreichen Abbildungen und die sorgfältige Gestaltung des Bandes runden den durchweg positiven Eindruck ab.

Insgesamt bietet der vorliegende Band einen eindrucksvollen Überblick über aktuelle Forschungsgebiete und -tendenzen im Bereich der Inkunabel- und Frühdruckforschung. Die Aufsätze bewegen sich überwiegend auf hohem wissenschaftlichem Niveau und bieten trotz ihrer zum Teil sehr spezialisierten Fragestellungen stets auch befruchtende Anregungen zur Methodik der Buchgeschichtsforschung.


Fußnoten

[1] Exemplarisch sei hier nur auf die einflussreiche Studie Michael Gieseckes verwiesen (Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991). Zur Metapher der Medienrevolution vgl. die Beiträge in: Revolutionsmedien – Medienrevolutionen. Hrsg. v. Sven Grampp u.a. Konstanz: UVK, 2008. [zurück]

[2] Armin Schlechter: Die edel kunst der truckerey. Ausgewählte Inkunabeln der Universitätsbibliothek Heidelberg. Heidelberg: Winter, 2005. (Schriften der Universitätsbibliothek Heidelberg. 6), S. 28. [zurück]


Oliver Patrick Bilbo Duntze ist promovierter Buchwissenschaftler. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Gesamtkatalog der Wiegendrucke an der Staatsbibliothek zu Berlin.