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Keine Rezepte. Versuch über das Scheitern in der Wissenschaft


Zitiervorschlag
Ben Kaden, "Keine Rezepte. Versuch über das Scheitern in der Wissenschaft. ". LIBREAS. Library Ideas, 20 ().


1. Die Agentur

Es gibt in Berlin-Mitte einen Ort einzigartiger Interdisziplinarität. Und das ist nicht etwa die Humboldt-Universität. Vielleicht einen Kilometer nördlich vom Hauptgebäude der Berliner Universität, vollintegrativ zwischen den Büros der Bild-Zeitung und der taz gelegen, besetzt die Arbeitsagentur Mitte einen halben Häuserblock. In diesem werden all diejenigen verwaltet, die in der Hauptstadt hochqualifiziert aber ohne Anstellungsverhältnis sind. Wer einen Hochschulabschluss hat, findet sich hier zusammen und der Warteraum im 3. Stock wird so schnell zum schweigenden Symposium von Theaterwissenschaftlern, Diplom-Biologinnen, sogar ein promovierter Mathematiker befindet sich im Raum. Es ist ein Kolleg der „Massenintellektualität” im Sinne Paolo Virnos. Vor dem Formular sind sie alle gleich. Wer mit Routine hier ist und alle Formulare im Griff hat, zeigt durch das jeweilige Lektüreobjekt, wohin er gern gehöre. Wenn er denn dürfte.

Nun ist es nicht überraschend, dass auch nach sehr gutem und erfolgreichem Abschluss nicht jeder wissenschaftlich ambitionierte Absolvent auch wirklich in der Wissenschaft beschäftigt werden kann. Die Gesellschaft benötigt weitaus weniger Wissenschaftler als Wissenschaftler als sie jedes Semester beurkundet auf den Arbeitsmarkt entlässt. Die Stellen sind rar und auch die Lebenszeit spielt eine Rolle: Eine gute Bekannte erzählt beim Abendessen von ihrem Partner, der nun endlich irgendwann in den Dreißigern für sich feststellen musste, dass es für ihn in den verbleibenden Jahren nichts mehr werden wird mit einer Stelle in der Wissenschaft. Er ist über das Warten, Hoffen, Bitten und Bangen mittlerweile zu alt geworden.

Im Prinzip reiht er sich damit in die Gruppe derer ein, die zu hochqualifiziert sind und mitunter auch zu intellektuell, um sich folgsam und unkritisch in die Kategorie Humankapital eingliedern zu lassen, mit einem aufwendigen Hochschulstudium, Leistungsbereitschaft, Gestaltungswillen und kritischer Urteilskraft ausgestattet in den akademischen Warteräumen der Bundesrepublik sitzen und in den Momenten, in denen sie sich nicht genügend abzulenken verstehen, merken, dass man sie so nicht braucht. Die deutschen Hochschulen produzieren Jahr für Jahr enorme Quantitäten überflüssiger akademischer Arbeitskraft. Man weiß das mittlerweile bereits im ersten Semester, aber man hofft doch, dass sich während des Studiums etwas findet, dass ein Netzwerk entsteht, dass man die entscheidende Fragestellung entdeckt, die wenigstens die befristete Anstellung sichert. Wer vergeblich hofft und an den unfreiwilligen Schweigesymposien bei der Arbeitsagentur teilnimmt, anstatt an den für ihn unbezahlbaren Fachkongressen der Community, zu der er einmal gehören wollte, hat selbst bei hohem systemischen Bewusstsein vor allem ein Gefühl: Dass er gescheitert ist.

2. Individuelles Scheitern

Natürlich spricht man nicht über das Scheitern. Schon gar nicht öffentlich. Gefühl ist Privatsache. Man sieht sich auch im engeren Bekanntenkreis der Ur-Lüge des Spätkapitalismus ausgesetzt, dass der, der wirklich arbeiten möchte, auch Arbeit findet. Tradiert wird sie vor allem von denen, die Arbeit haben, immer hatten und nie in diesem Zustand gefährdet waren. In der alten Bundesrepublik betrifft das ganze Kohorten und es sind genau diese Gruppen, die nach wie vor unangefochten die Schlüsselpositionen besetzen.

Für die Folgegenerationen stellt sich die Situation etwas anders da. Da auch der Wissenschaftsmarkt nach Angebot und Nachfrage strukturiert wird, jedoch das produzierte Angebot die Nachfrage in vielen Disziplinen übersteigt, kommt es in zahlreichen Disziplinen zu dem, was man als Angebotsüberschuss bezeichnet.

Will man mit einem Hochschulabschluss in die Bibliothekswissenschaft einsteigen, ist der Normalfall eine befristete halbe Projektstelle, und das noch nicht mal unbedingt im gewünschten Fach, sondern oft „irgendwo daneben”. Die andere Hälfte könnte man theoretisch für die Weiterqualifikation nutzen. Neben dem Mangel an einer sinnvollen Perspektive (siehe unten) sind auch die Arbeitspensa nicht zuletzt aufgrund der Struktur des Projektfördermarktes so ausgelegt, dass man nicht Teil-, sondern in der Regel Vollzeit arbeitet. Augenzwinkernd wird man von den Sachbearbeiten in der Hochschulverwaltung darauf hingewiesen, dass man das natürlich weder soll noch darf und wenn, dann auf eigene Verantwortung tut. Im Arbeitsalltag muss man aber schon beliebt sein, um mit Dienst nach arbeitsvertraglicher Vorschrift über die Runden zu kommen. Das jeweilige Projekt dürfte dagegen akut gefährdet sein.

Sicherlich kann man in der Wissenschaft stärker als in anderen Branchen darauf setzen, dass die Beschäftigten vielleicht erst in zweiter Linie über das Einkommen nachdenken. Die Volkswirtschaft sollte es aber doch, denn große Reserven, die im Ernstfall als finanzielles Netz funktionieren, lassen sich so nicht ansparen. Idealismus zahlt, genauso wenig wie Würde, keine Miete.

Allerdings sind solche Probleme aus den unmittelbaren Arbeitsverhältnissen zum privaten Problem der Betroffenen externalisiert. Und gern verweist man auch gern auf Branchen, in denen sich das Problem noch akuter darstellt. Es gibt durchaus Buchhändlerinnen, die Vollzeit arbeiten, aber noch lange nicht das Teilzeitgehalt eines wissenschaftlichen Mitarbeiters erhalten und daher nach Dienstschluss noch ein paar Stunden bei einer Gebäudereinigungsfirma zubringen. Und jeder hat jemanden im Bekanntenkreis, der mit altklugen Selber-Schuld-Phrasen seine Ratschläge oder Urteile verpackt und betont, dass sie mit dem Abitur-Durchschnitt doch auch Bankkauffrau oder eine Beamtenlaufbahn bei der Bundespolizei als Perspektive gehabt hätte. Jetzt ist die Tür freilich zu, das Rentenalter ein sich lang ankündigender Alptraum und jeder sowieso seines Glückes Schmied.

Solche Aussagen vergessen allerdings, dass ein Wirtschaftssystems, wie wir es leben, nur funktioniert, wenn auch manche als Amboss für das Glück der Anderen herhalten. Ob eine Beschäftigung als Grillwalker auf dem Berliner Alexanderplatz für den Hartz-IV-bezuschussten Komponisten tatsächlich der Schlüssel zum Wiedereinstieg in das feste Arbeitsleben und also zum Weg zu seinem Glück ist, kann sich jeder selbst fragen, wenn er sich demnächst auf dem Heimweg vom Büro die Bratwurst zum Sonderpreis holt. Das ‚System’ hat es insofern ganz gut, da alle Kritik an ihm spurlos abperlt.

Man kann es kürzer sagen: Die Gesellschaft in der wir leben honoriert Idealismus nur, wenn er bei Projektionsfiguren auftritt. Es ist schon erstaunlich, wie sehr wir Kleist gedenken und die, die sich heute in ähnlichen Lagen befinden, aburteilen. Würde zahlt vielleicht doch die Miete. Aber erst posthum für das Museum.

Wer sich aber als Individuum in der heutigen auch akademischen Arbeitswelt nicht selbst kommodifiziert (man nennt es auch Selbstvermarktung beziehungsweise Personal Branding [Fn 02]) benötigt schon eine gute Portion Glück, ausreichende Rücklagen und/oder wohlmeinende Unterstützer. Der Gedanke Petrarcas, das Ziel des Studiums sei nicht klug, sondern gut zu werden, wird gemeinhin nur noch belächelt. Das Ziel des Studiums, so scheint es, ist weder das eine noch das andere. Das Ziel des Studiums ist heute idealerweise, Kompetenzen zu vermitteln, das heißt Befähigungen, mit denen man sich nahtlos in die Anforderungen eines Arbeitsmarktes eingliedern kann. Selbst auf so honorigen Veranstaltungen wie Antrittsvorlesungen ist die brennendste Frage, wie ein Fach seine Curricula noch stärker auf die Bedürfnisse der Praxis ausrichten kann. Dass jemand nach dem Studium in der Wissenschaft Fuß zu fassen vermag, ist – jedenfalls in der Bibliothekswissenschaft – in diesen Szenarien nicht mehr vorgesehen. Systematische Personalentwicklung scheint es nicht zu geben. Irgendjemand wird sich schon finden, wenn man ausschreibt. Und oft, auch das ist ein mehr als offenes Geheimnis, weiß man schon zum Zeitpunkt der Ausschreibung, wer.

Wer den normalen Weg von extern mit normaler Bewerbung auf eine der knappen Ausschreibungen wählt, hat oft wenige Chancen. Das bedeutet natürlich, dass, wer einmal aus dem System gefallen ist, kaum wieder hinein findet. In der Bürokratie spätestens der Arbeitsagenturen wird man entsprechend nachsozialisiert und nach und nach nicht unbedingt zur Marke, wohl aber zur Handelsware auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt jenseits der Wissenschaft.

Die Begutachtung bei Einkauf der Arbeitskraft dient dort dem Gebrauchswert für einen Zweck und das, was sich als dafür untauglich oder zu teuer erweist, wird abgelehnt und in die private Sphäre ausgegliedert. Was vielleicht verkraftbar wäre, wenn es sichernde soziale Restzonen gäbe. Denn meistens zahlt Würde die Miete nicht einmal posthum. Und irgendwann schwindet dieser Raum.

Meist kommt man dann aber, das muss man auch sagen, irgendwo durch. Und sicher sind nicht alle, die in die Wissenschaft drängen, genialische Schöpfer und manch ein genialischer Schöpfer kann sich dank welch glücklicher Fügung auch immer solchen Gedanken völlig entziehen. Der Normalfall für die Generation der Nachwuchswissenschaftler, besonders in den Geisteswissenschaften – und die Bibliotheks- und Informationswissenschaft zählt an dieser Stelle unzweifelhaft dazu –, ist leider, dass sie chronisch wenigstens mit einem Bein in dem stehen, was man als Wissenschaftsprekariat bezeichnet. Sie sind hochgebildet und perspektivisch überflüssig.

3. Stigma (Individuum und Gesellschaft)

In der überaus aufschlussreichen aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Forschung & Lehre findet sich ein bemerkenswerter Artikel der im Career Center der Universität Hamburg arbeitenden Sport- und Bewegungswissenschaftlerin Nina Feltz zum „Scheitern als Chance”. [Fn 03] In diesem geht es exakt um die Einsicht, dass man sich mit dem Wunsch nach einer wissenschaftlichen Karriere etwas vermutlich Uneinlösbares vorgenommen hat. Sie nennt einige Beispiele für das Scheitern in der Wissenschaft:

„-Die nächste Qualifikationsstufe (Post-Doc.Stelle, Juniorprofessur, W2, W3) wird nicht erreicht.
- Lang erarbeitete Stipendien- oder Drittmittelanträge werden nicht bewilligt, aufwendig angefertigte Veröffentlichungen werden nicht angenommen.
- Das Erreichen der nächsten Qualifikationsstufe erfüllt nicht die eigenen Erwartungen. […]
- Personen gehen an eine Hochschule im Ausland mit dem Ziel, sich noch besser zu qualifizieren. Sie kehren nach einigen Jahren zurück und finden keine Stelle im deutschen Wissenschaftsbetrieb.
- Befristete Tätigkeiten auf Projekt- bzw. Drittmittelstellen sind erfolgreich, enden aber spätestens nach zwei oder drei Jahren. Der Wechsel von einer Vertretungsprofessur zur nächsten kann als Scheitern erlebt werden, wenn letztlich kein Ruf auf eine reguläre Professur erfolgt.”

Nina Feltz diagnostiziert nun ebenfalls, dass die Betroffenen die Ursache eher bei sich als in der Gesamtsituation suchen:

„Trotz teils widriger (vor allem auch finanzieller) Rahmenbedingungen erleben hochmotivierte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Melange subjektiver wie objektiver Faktoren als persönliches Scheitern und stehen damit häufig alleine da bzw. werden nicht adäquat beraten. Über das Scheitern wird nicht gesprochen.”

Natürlich nicht. Danach biegt die Autorin aber, nachdem sie betont, dass es keine Rezepte für eine sichere Karriereplanung gibt, in die hohle Gasse der marktreduzierten Beratungsprosa ab und empfiehlt so etwas wie die „rechtzeitige Marktanalyse”. „Eine nicht mehr gefragte methodische Ausrichtung” ist ein Warnsignal, an dem man ablesen kann, dass man für die Wissenschaftswelt nicht geeignet ist.

Scheitern als Chance zu begreifen entspricht eben nicht viel mehr als einer Kalenderweisheit und tröstet die Betroffenen genauso, wie die an jemanden gerichtet Aussage, der gerade seinen Partner verloren hat, dass andere Eltern ja auch schöne Kinder haben. Was Nina Feltz keine Silbe wert ist, ist der stigmatisierende Effekte des Scheiterns, der weniger von den Betroffenen, als von der Umwelt ausgeht. Dass jemand nicht erfolgreich ist, wird schon seinen Grund haben. Nicht Nina Feltz sagt dies, aber vielleicht die Schwiegereltern.

„Schließlich ist nicht der Lebenslauf gescheitert, sondern ein Ziel einer hochqualifizierten Person.”

Wer sich einmal im Vorstellungsgespräch demütigend erklären musste, wieso er sich auf eine Stelle bewirbt, die drei Gehaltsklassen unter seiner formalen Qualifikation eingruppiert ist, sieht das ganz sicher nicht so entspannt. Wer auf die Wissenschaft gesetzt hat und gescheitert ist, hat mitunter seine Probleme, sich in Routinen zu integrieren, bei denen Dienst Dienst und Schnaps Schnaps ist und in denen es hauptsächlich darum geht, das Brot für morgen zu finanzieren. Personalchefs wissen das natürlich und daher hat man auch bei solchen Stellen nicht immer den dicksten Stein im Brett. Eine Weile jedenfalls ist man sehr verblüfft, dass man trotz Höchstnoten im Abschluss, üppiger Publikationsliste und besten Empfehlungen nicht einmal für die Anstellungen auf einem Nebenschauplatz geeignet scheint. Was das für das Selbstwertgefühl bedeutet, weiß man vermutlich erst, wenn es einen selbst traf. André Gorz erklärt uns aber völlig nachvollziehbar, wieso dem so ist:

„Heute […] gelten im postfordistischen Unternehmen die technischen Kenntnisse und das professionelle Know-how nur in Verbindung mit einer bestimmten Geisteshaltung, nämlich einer uneingeschränkten Bereitschaft, sich unvorhergesehenen Umständen anzupassen und in Veränderungen zu fügen, kurz: nur in Verbindung mit jener charakterlichen Disposition, die die Angelsachsen eagerness nennen.” [Fn 04]

Es ist nicht unbedingt so, dass man das auch einlösen muss. Aber man muss es vermitteln:

„Die Ideologie, die das Sich-Verkaufen-Können zur höchsten Tugend erklärt, spielt hier eine entscheidende Rolle und trägt zur Entwicklung jenes »Persönlichkeitsmarktes« bei, der von C. Wright Mills schon Anfang der fünfziger Jahre beschrieben wurde.” [Fn 05]

Der Hut ist in Unternehmen nicht neu. In der öffentlichen Verwaltung und im Wissenschaftsbereich dagegen vergleichsweise schon, denn die Transformation dieser Institutionen nach postfordistischen Kriterien ist nicht nur ein vergleichsweise junges Phänomen, sondern zum Teil noch sehr unfertig.

Für die persönliche Situation in diesem Re-Engineerung unserer Arbeitswelt und -perspektiven bietet Nina Feltz leider keine Lösung, sondern nur die Einfalt der üblichen Coaching Prosa aus dem „Sorge Dich nicht, lebe”-Repertoire. Ihr Text ist glatt und völlig zutreffend und zeigt zugleich, wie überfordert das Wissenschaftssystem gegenüber den Realitäten ist. Die „Pyramide” der wissenschaftlichen Karriere ist tatsächlich ein Auslaufmodell. Die Alternative ist individuell aber nicht selten keine. Die eingeforderte Flexibilisierung setzt sich in der Regel aber nicht aus sinnstiftenden Alternativszenarien, sondern aus den Komponenten Befristung, Selbstausbeutung und Evaluationszyklen zusammen. Wer nicht mitspielt, ist draußen und wird es nur schwer schaffen, wieder einzusteigen.

Die Globalisierung verknüpft an dieser Stelle amerikanisches Erfolgsdenken mit teutonischer Rigorosität. Wolfgang Backert hat in einem internationalen Vergleich zu „Kulturen des Scheiterns” entsprechende Charakteristika herausgearbeitet. [Fn 06] Er untersucht dies zwar anhand des Scheiterns von Managern. Grundzüge sind aus eigener Erfahrung aber auch in nahezu allen anderen gesellschaftlichen Bereichen feststellbar. Für den kulturellen Umgang mit dem Scheitern in der Bundesrepublik stellt er fest:

„Der Vertrauensvorschuss, der den Akteuren gewährt wird, ist in der Regel nur ausreichend für einen einzigen Versuch, scheitert dieser, wird der Kredit langfristig entzogen, das Individuum im Wortsinne diskreditiert und sollte sich an exponierter Position besser ‚nicht mehr blicken lassen’: der soziale Tod für diesen Funktions- und Positionszusammenhang wird festgestellt und der für sozial tot erklärte sollte sich in seinem eigenen Interesse nicht als Wiedergänger erweisen. Einmal tot, immer tot.” (S. 68)

Dies erklärt eventuell auch die Tendenz, Versagen auf sozialer Ebene zu externalisieren und entweder andere Gründe für das Scheitern zu finden oder aber, sich aus Projekten frühzeitig wieder weg zu bewerben. Denn, dies ein oft gehörter Ratschlag, es wirkt besser, wenn man sich aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus bewirbt. Denn dort trägt man nicht den Stempel des Gescheitertseins. Wer sozial tot ist, hat in der Branche, in der er gescheitert und damit sozial gestorben ist, wiederaufzuerstehen.

In den USA wird dagegen traditionell ein Leitbild hochgehalten und das ist der Aufstieg, der Erfolg durch eigenes Engagement. [Fn 07] Als sozial tot gelten nicht diejenigen, die gescheitert sind, sondern diejenigen, die nicht wieder aufstehen. Wer es dagegen geschafft hat, wird rundum verehrt. Backert zitiert von Jonathan Cassell über die Fehlerkultur der digitalen Innovationsbranche in Amerika:

„Valley Culture doesn’t stigmatize those who have tried and failed in a start-up; everyone knows the risks are high. In Silicon Valley failure is success.”

Backert selbst merkt an, dass dies etwas überzogen daher kommt. Aber das Körnchen daran, was es zu berücksichtigen gilt, liegt im „normativen Zwang des ‚Strebens’ und ‚Bemühens’”. [Fn 08] Flexibel, zäh und Stehaufmännchen.

Dass sich daraus für die herrschenden Wissenschaftsvorstellungen in Deutschland Probleme und intrinsische Widersprüche ergeben, ist unvermeidlich: Der Wettbewerbsgedanke und die Ideologie des Strebens und Durchsetzens werden mit der tradiert heftigen, oft totalen Sanktion bei Versagen gekoppelt. Das nicht-konforme Handeln, der Mut zur Nische und zur Lücke ist im deutschen Wissenschaftssystem kaum angedacht. Die Wissenschaftsbürokratie bietet denn auch wenige Spielräume für Wagemut.

Ein häufig anzutreffendes Problem bei den an den Hochschulen auf analytisches Denken getrimmten Nachwuchswissenschaftlern liegt darin, dass sie auch analytisch über ihre eigene Lage nachzudenken befähigt sind. Sie wissen um ihr Versagen im System, um den sozialen Tod und um das Stigma, das ihnen anhaftet.

„Bedürftigkeit gilt als Schwäche, in fast allen Lebenslagen, und schwach zu sein als nicht gerade anziehend.” [Fn 09]

Weder für potentielle Lebensabschnittspartner noch für potentielle Berufslebensabschnittspartnerschaften. Erving Goffman beschrieb in seiner Stigmatheorie [Fn 10] sehr sorgfältig, was dies bedeutet. Der Begriff des Stigmas bedeutet, dass ein Individuum nicht vollständig sozial akzeptiert wird. Konkret heißt das, dass ein arbeitsloser (oder mitunter sogar ein emeritierter) Wissenschaftler innerhalb einer Fachcommunity erfahrungsgemäß anders wahrgenommen wird, ganz andere Teilhabemöglichkeiten bekommt, als jemand mit fester institutioneller Einbindung oder einem Lehrstuhl. Hinter der Wissenschaft steht natürlich eine soziale Ökonomie, bei der die Beteiligten abwiegen, was ihr Gegenüber an für ihre eigenen Handlungsziele relevanten Werten und Ressourcen besitzt. Solche Werte und Ressourcen bestimmen entscheidend über die soziale Identität. Ein arbeitsloser Fachkollege ist in der Regel in diesem Kontext unbedeutend. Je geringer die Hierarchie, desto prekärer die soziale Identität. Jedenfalls dann, wenn eine Diskrepanz (oder der „virtualen sozialen Identität” – Goffman) zwischen dem eigenen Anspruch (gleichberechtigtes Mitglied der Community) und Realität (der „aktualen sozialen Identität”) besteht. Es geht an dieser Stelle weniger um das Einkommen, das dank des bundesdeutschen Sozialversicherungssystems, wenn auch langfristig kaum zufriedenstellend, existenzsichernd doch eine Weile gegeben ist. Es geht vielmehr um den sozialen Status, auf dem sich die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen abbildet. Denn wenn der junge Kollege wirklich etwas vom Fach und der Community verstände, wäre er nicht in dieser sozialen Lage. Es wird schon seine Gründe haben…

Das Stigma bezeichnet also eine Differenz zwischen dem, was sein soll und dem, was ist. Und es bietet ein Zeichen, an dem sich dies ablesen lässt. Die während der akademischen Sozialisation den Nachwuchswissenschaftlern vermittelte Normvorstellung lautet nämlich: Sei fachlich kompetent, pass dich unseren Regeln an, sei wie wir Etablierten und dann nehmen wir dich vielleicht in unsere Gemeinschaft auf. Jede Qualifikationsarbeit ist die Fortsetzung von Initiationsriten mit rationalisierteren Mitteln.

Die stigmatisierte Person erkennt laut Goffman den Standpunkt der Normalen. Sie nimmt diese Werte, während des Studiums, als stabile Orientierungspunkte in sich auf. Und dann entwickelt es anhand dieses Idealbilds im Falle des Scheiterns eine Vorstellung seines Stigmas. Sie überblickt vielleicht nicht alle Ursachen und Gründe. Aber ihr ist bewusst, dass es Etablierte gibt und Außenseiter. Und sie weiß, in welche Kiste sie gehört. Im nächsten Schritt erlernt die Person, welche Konsequenzen daraus folgen.

Das Stigma der auf Viertelstellen marginalisierten oder ganz entkoppelten (systemisch) überflüssigen Nachwuchswissenschaftler liegt darin, dass sie nicht ordentlich beschäftigt sind. Interessanterweise betrifft die Situation eine sehr große Gruppe und je weiter man in der pyramidalen Hierarchie des Wissenschaftsbetriebs klettert, desto kleiner wird die Zahl der Auserwählten und desto größer die der Gescheiterten. Der Soziologe Albert O. Hirschman hat für organisationale Asymmetrien, bei denen Engagement und Enttäuschung nebeneinander blühen, zwei Reaktionsmöglichkeiten beschrieben: Exit und Voice. [Fn 11] Der Grund für die Stabilität dieser wissenschaftskulturellen Ausleseverfahren liegt in der ersten Variante: Bibliothekswissenschaftler ohne wissenschaftliche Perspektive haben gar keine Möglichkeit sich zu äußern und wechseln dann schnell, bevor sich nur noch etwas noch weniger Wünschenswertes findet, schon mal in die Verkaufsabteilung eines Wissenschaftsverlages. Der Beitrag Nina Feltz’ ist denn auch klar ein Plädoyer für die Abwanderungsoption. Der Schönheitsfehler im Szenario der Wissenschaft liegt nun darin, dass man die ganze Zeit auf die Selbstgestaltungskraft und Autonomie pocht, jedoch über genügend intrinsische Verfahren verfügt, möglicherweise stabilitätsgefährdende Stimmen und Stimmungen auszuschließen.

Das Stigma der in die Wissenschaftsgemeinschaft nicht auf- und folglich langfristig auch nicht ernst genommenen Akteure ist ihre institutionelle Stimmlosigkeit. Die Segregation über Nicht-Beschäftigung produziert das Stigma.

Und anders als andere zum Beispiel in körperlicher Hinsicht mit stigmatisierenden Merkmalen versehene Gruppen erfolgt unter den Wartenden bei der Arbeitsagentur keine neue Gruppenbildung. (Goffman erläutert sehr anschaulich die Fallstricke einer solchen Neugruppierung auf der Grundlage eines stigmatisierenden Merkmals.) Die Identitätsdiskrepanz scheint hier groß genug und das Stigma vor allem eigentlich vermeidlich und wenigstens in der Hoffnung umkehrbar genug, um jede Solidarisierung zu unterbinden:

„Wirtschaftlich gesehen ist es vorteilhafter, das wenige an notwendiger Arbeit auf wenige Leute zu konzentrieren, denen man dann das Gefühl vermittelt, sie seien eine privilegierte Elite, die ihre Privilegien dem Eifer verdanken, der sie von den »Verlierern« unterscheidet.” [Fn 12]

schreibt André Gorz und erläutert nachvollziehbar die Totalisierung des Zugriffs auf die Arbeitskraft durch die unmittelbare Kopplung von Persönlichkeit mit Arbeitskraft und die Betonung der Selbstvermarktung. Man sieht sich nicht als in einer gemeinsamen Lage befindlich, sondern schlicht und einfach als Konkurrenz.

„Denn die bei der Arbeit eingesetzten Fähigkeiten und Fertigkeiten sind »allen gemein«, sind »Massenintellektualität«. Derart sind alle gleichzeitig potentielle Arbeiter und mögliche Arbeitslose.” [Fn 13]

Vor dem Vermittler, der diese Situation zumeist in einfachen Worten klar zu verdeutlichen versteht, steht jeder für sich. Auch im Vorstellungsgespräch kämpft jeder um die eigene Durchsetzung. Es gehört zur Selbstvermarktung, eine schmuckvolle Umverpackung beizugeben. Wer seine Leistungsgrenzen offenherzig benennt, ist in diesem Verfahren bereits disqualifiziert, was zu einem kuriosen Rüstungswettkampf führt sowie zu einer Art von hermeneutischer Aufladung der Arbeit der Personalverantwortlichen, [Fn 14] die sich – ebenfalls unter Druck – einem Überangebot an hochqualifizierten, hochpolierten, hochintegrierbaren Allround-Talenten gegenüber sehen, unter denen sie möglichst die eine Person auswählen müssen, die dem tatsächlich am nahesten kommt. Die Bewerber wissen all das. Es gibt einen ganzen Markt für Ratgeberliteratur und natürlich die Career Center, die diese Botschaften deutlich genug vermitteln: Man muss sich nur selbst gut verkaufen. Wenn dies nicht gelingt, war man nicht gut genug.

Eine Weile kämpft man – jeder für sich allein – um einen Wiedereinstieg und sei es nur per Volontariat. Aber ab einem bestimmten Alter erkennt man meist die Sinnlosigkeit des Unterfangens und orientiert sich auf Dinge, für die die Qualifikation vielleicht eine Nummer zu groß ist, die aber einen regelmäßigen Gehaltseingang garantieren. Wenn es gut geht, erkennt man dann auch einen eigenen Sinn und die Verwundung, die auf das Eingeständnis des gescheitert Seins zwangsläufig folgt, heilt allmählich.

4. Institutionelles Scheiten

Besonders verwoben ist die Lage, wenn man in der Gruppe scheitert, denn damit heftet man sich zusätzlich das Kollektivstigma des „Gescheitert seins” an. Und da es nur wenige Projekte tatsächlich schaffen, über die Entwicklungsphase hinaus zu überleben, ist auch dies alltäglich und führt dazu, dass in kleineren Instituten der Personalstamm regelmäßig umgeschichtet wird. Hannelore Weber und Erich Schröger vom Fachkollegium Psychologie der Deutschen Forschungsgemeinschaft erläutern sehr anschaulich und teilweise äußerst offen in der Januarausgabe von Forschung & Lehre die Problemlage, die sich aus einer weitgehend DFG-förderfinanzierten Wissenschaftspraxis ergibt: [Fn 15]

„Die DFG ermuntert zu Recht Nachwuchswissenschaftler, sehr bald nach der Promotion ihren ersten eigenen Antrag zu stellen, der eine frühe selbstständige Forschung ermöglicht. Doch aus der gut begründeten und wohlmeinenden Einladung wird für den wissenschaftlichen Nachwuchs schnell eine Pflicht, indem sich bei der Evaluation von Juniorprofessuren oder bei Berufungen die Erwartung an bewilligte DFG-Anträge (und deren Anzahl!) erhöht.” [Fn 16]

Man ist sich also des Drucks bewusst, auch der Tatsache, dass das Aufplustern von Anträgen zum Geschäft gehört, dass die Bewilligungsquote gering ist und die Entscheidungen auf Förderwürdigkeit manchmal „hauchdünn” sind. Die Lösung aber, so die DFG-Vertreter, für Aspekte wie die „Instrumentalisierung von DFG-Fördermitteln” muss wissenschaftsextern gefunden werden [Fn 17]:

„Einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden fällt schwer, denn letztlich definiert die DFG als ihre Kernaufgabe die wettbewerbliche Auswahl der besten Forschungsvorhaben […].” [Fn 18]

Und in der Wissenschaftsförderung anderer europäischer Länder sei die Situation noch schlimmer. Inwieweit die Bewilligungen wirklich so betont wissenschaftsautonom erfolgen, wie die AutorInnen unterstreichen, wird von manchen nicht immer sonderlich geschickt hinterfragt. [Fn 19] (Der Indologe Axel Michaelis spricht in seiner Verteidigung der DFG von „Wutwissenschaftlern”. [Fn 20]) Aber gerade Vertreter des Bereichs der Psychologie sollten wissen, dass ein soziales System wie die Wissenschaft vorzugsweise wenn es um die Verteilung knapper Güter, an denen zweifellos konkrete Existenzen hängen, geht, nicht hundertprozentig „ausschließlich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten erfolgt”. Es sei denn, man subsumiert sozialpsychologische Effekte unter „wissenschaftlich”.

Man findet es selten gedruckt, da jeder, der noch um seine fachliche Stellung zu kämpfen, was nach den Evaluationsprinzipien perspektivisch jeder sein wird, kaum gewillt ist, sich von diesem Hahn selbst abzuschneiden. Aber an Anekdoten, was wie nicht ganz wasserdicht wissenschaftlich lief kann jeder, der einmal in solche Projekt- und Antragsprozesse eingebunden war, etwas beisteuern. Solche Gesprächsinhalte mag man als Wissenschaftsfolklore und sozialen Kitt beiseite wischen. Dennoch wäre es verdächtig, wenn nicht ab und an eine Begutachtung manchmal nicht ganz für Außenstehende nachvollziehbare Wege und Gründe einschlüge.

Die Schwierigkeit liegt allerdings für die Nachwuchswissenschaftler, die immer kurz vor dem Scheitern stehen, tatsächlich weniger in den Verfahren der DFG, als darin, dass ihnen im Prinzip nur Projektstellen überhaupt die Arbeit in der Wissenschaft ermöglichen. Sie werden temporär und ohne Entwicklungsperspektive angestellt. Für einen Lehrstuhlinhaber steht bei einem gescheiterten DFG-Projekt vielleicht etwas Reputation auf dem Spiel. Aber er kann unbeeinträchtigt von Einkommenssorgen einen Antrag nach dem nächsten einreichen. Für die – auch von der DFG ermunterten – Nachwuchswissenschaftler stellt sich aber mit jedem Antrag die Frage ihrer beruflichen Zukunft. Und natürlich, wie sie die Zeit, die die Gutachter brauchen und die es bedarf, bis tatsächlich die Gelder fließen (oder die Ablehnung vorliegt) zwischenfinanzieren. Dafür bietet das deutsche Wissenschaftssystem keine Optionen und es wundert daher nicht, dass, wer kann, andere Wege sucht. [Fn 21]

Für die Betroffenen ist das Scheitern mit einem Projekt noch in anderer Hinsicht eine besondere Form des Scheiterns. Besonders problematisch zeigt sich dies bei abgelehnten Fortsetzungsanträgen, bedeutet dies doch auch nicht nur den Abbruch der Arbeit (und natürlich den Verlust der Anstellung), sondern auch eine Abwertung des bisher Geleisteten. Das Produkt, ein Erkenntnisziel, wird auf diesem Wissenschaftsmarkt als nicht gut genug eingeschätzt, um weiter entwickelt oder verfolgt zu werden. Die bislang geleisteten Investitionen werden im Prinzip abgeschrieben. Eine Nachnutzbarkeit für Dritte wenigstens im Sinne von Erfahrungen ist bestenfalls dann gegeben, wenn die Projektarbeit entsprechend in projektbegleitenden Publikationen beschrieben wurde.

Und natürlich ist der Antrag selbst, verfasst unter dem Druck, die antizipierten Erwartungen der Gutachter genauso zu fassen, wie die Relevanz des Vorhabens und die eigene Überzeugung, dass das, was man vorhat, seinen Zweck und Sinn hat, gescheitert. Dies bedeutet für die Antragssteller, dass sie mit ihrer Wahrnehmung dessen, was die Wissenschaft tun sollte, neben dem liegen, was die dominante Institution der Wissenschaftsförderung und mittelbar die Wissenschaftsgemeinschaft selbst für förderwürdig erachten. Auch hier vollzieht sich eine (notwendige, aber dessen ungeachtet bittere) Exklusionshandlung. Da die Kriterien der Entscheidung selten überzeugend nachvollziehbar kommuniziert werden – bei Ablehnungsschreiben erhält man nur selektive Auszüge, die Gründe können nicht mit dem Geldgeber und den Gutachtern diskutiert werden – hat man tatsächlich kaum Handhabe, etwas Produktives aus diesen Ablehnungen zu entwickeln. Die Erkenntnis muss lauten: Man genügt den Erwartungen einer Autorität beziehungsweise denen der Peers nicht. In einem Umfeld, in dem man durch die allgemeine Leistungsrhetorik gern gehalten wird, 120 % zu geben, denn es warten ja auch noch andere, [Fn 22] wirkt so etwas durchaus niederschmetternd.

Dass auch einzelne Disziplinen immer an der Kante des Scheiterns manövrieren und – jedenfalls in Deutschland – mit der düsteren Perspektive, im Fallen eines Fallens nie wieder reanimiert zu werden, weiß die Bibliothekswissenschaft sehr genau. Eine Tabelle in einem Beitrag zur „Situation der so genannten Kleinen Fächer” in der Ausgabe von Forschung & Lehre zeigt, dass die Bibliothekswissenschaft mit einer Disziplin „Christlicher Orient” zu den in Deutschland seit 1997 am stärksten zusammengestrichenen Fächern zählt. [Fn 23] Die Zahl der Professuren sank von 6 auf 1,5.

Hier kommen mehrere Ursachen zusammen, aber angesichts des grundlegenden Charakter, den eine solche Disziplin vor dem Horizont der Transformation der Fachkommunikation durch digitale Technologien einnehmen könnte, offenbart sich darin nichts anderes als ein doppeltes Scheitern: Die Disziplin hat versagt, ihre Bedeutung zureichend zu kommunizieren und sich entsprechend zu positionieren und die Wissenschaftsadministration erkannte das Potenzial nicht.

Nun larviert das Fach derzeit tatsächlich mit einem Status durch die Wissenschaftslandschaft, der es nach wie vor nicht gerade als unverzichtbar auszeichnet. Im Prinzip muss man sich in der deutschen Bibliothekswissenschaft klar entscheiden: Geht man den wissenschaftspolitischen Weg oder versucht man fachlich Relevanz zu erzeugen? Für die eigentlich notwendige Parallelführung von Forschung und Fachvermarktung, also zur nachhaltigen Ausgestaltung und Profilierung des Faches fehlen schlicht die Kapazitäten. So bedauerlich der Verlust des Faches wäre: Es ist weit davon entfernt, systemrelevant zu sein. Das Fach, dass sich als ideal eignet, die Bandbreite der Veränderungen im Umgang mit digitalen Dokumentenstrukturen, mit Information und Wissen auseinander zu setzen, hat nur halb so viele Professuren wie beispielsweise die Papyrologie. Die Disziplin, deren Erkenntnisse für jeden, der ein Smartphone mit sich führt, relevant werden können, besitzt nur etwas mehr als ein Zehntel der Kapazität, die das deutsche Wissenschaftssystem der Lusitanistik gönnt. Bibliothekswissenschaft findet in Deutschland bestenfalls als Nebengeschäft von Projekten statt. Die klassische wissenschaftliche Karriere in diesem Bereich anzustreben birgt nicht nur die akute Gefahr sondern im Prinzip die Garantie für das Scheitern. Ohne Chance.

5. Auswege?

Das alles soll dennoch keinen Grund zur Verzweiflung geben. Es soll nur die Dimension des Scheiterns im Wissenschaftsbetrieb an einer Stelle ausleuchten, die von der Wissenschaftsverwaltung äußerst selten realisiert wird. Moderne Managementschulen haben dazu geführt, dass sich auf der Ebene etablierte Strukturen akademische Autorität, starre Bürokratien mit neoliberaler Hire-and-Fire-Mentalität verbinden. Holger Notze beklagt das sehr schön in seinem „Standpunkt” in der Januarausgabe von Forschung & Lehre:

„Die großen Kräfte: Globalisierung, Ökonomisierung wirken auf die in eine trügerische Autonomie entlassenen Universitäten. Es wird normiert, reformiert, evaluiert. Das System wird komplizierter bis zur Undurchschaubarkeit, seine Ergebnisse immer banaler.” [Fn 24]

Seine Jahreseinstimmung ist als Editorial natürlich in der Rubrik Sonntagsreden platziert und niemand wird im hier widersprechen und jeder wird an dieser Stelle auf die entsprechende Schulter klopfen. Und niemand wird im Anschluss irgendetwas an seinem Verhalten ändern. Es existiert in der deutschen Wissenschaftslandschaft eine bemerkenswerte Kluft zwischen einem Problembewusstsein und einem konkret wahrnehmbaren Handlungswillen. [Fn 25] Auch die Argumentation der DFG in Forschung & Lehre fügt sich darin ein: Natürlich gibt es Probleme und wir kennen sie. Aber es könnte auch schlimmer sein.

Dieser Text selbst ist natürlich auch ein Klagelied auf hohem Niveau, denn vielen der Betroffenen wäre woanders nicht einmal das Studium ihrer Wahl möglich gewesen. Es war es aber und woanders wäre auch das ganze Leben anders verlaufen. Insofern muss es die Gelegenheit geben, seine Stimme (=Voice) in dem akut erfahren Bezugsrahmen zu positionieren. Und zu sagen, dass man eine Diskrepanz wahrnimmt, zwischen der Genügsamkeit der etablierten Wissenschaft, der Exzellenzideologie und der Lebenswirklichkeit von Nachwuchswissenschaftlern besonders in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

Der Nachwuchswissenschaftler, dem an Teilhabe an der Wissenschaft gelegen ist, hat sich, nachdem er sich semesterlang mit kritischen Theorien verschiedener Art und dem Narrativ eines besonderen und autonomen Status der freien Wissenschaft auseinandersetzen durfte, entweder zu fügen oder er ist chancenlos. Gestaltungsanregungen und -willen werden mit dem Verweis a) auf Sachzwänge und b) auf genügend andere Kandidaten, die auf eine noch so kleine Anstellung warten, zurückgedrängt.

Eine sich recht schnell einstellende Erkenntnis ist denn auch die, dass es sich bei der Wissenschaft vorwiegend um eine Institution der Normierung und Disziplinierung handelt. Die Ästhetik, das sprunghafte Denken und das Eröffnen von Räumen ist Domäne der Kunst. Kreativität in der Wissenschaft muss man sich leisten können, was nicht allen, die den Übergang vom Studium zur Wissenschaft suchen, bewusst ist. Irgendwann erfahren sie dann aber von ihren Professoren, dass jemand, der bei Visionen besser zum Arzt ginge (gegen Supervisionen spricht dagegen nichts), und jemand, der gestalten will, doch vielleicht lieber eine Ausbildung zum Dekorateur in Betracht hätte ziehen sollen. Es geht in der Wissenschaft traditionell um die Regeln und Gesetze und das Narrativ der Objektivierung.

Wenn aber die Erosion von der anderen Seite im Zuge der Ökonomisierung an die Hochschulen herangetragen wird, spielt man – manchmal zähneknirschend, manchmal sehr bereitwillig – erstaunlicherweise mit und unterwirft sich extrawissenschaftlichen Vorgaben, die eher mit Marktvorgaben, Renditeerwartungen, Einsparzielen und dem Spin-Off-Potential von Innovationen zu tun haben. Akteure, die die Ansicht vertreten, dass die Hermeneutik – wenigstens in der Bibliothekswissenschaft – unwissenschaftlich sei, da sie nichts Stabiles und Handfestes nach sich zöge, akzeptieren ohne zu murren, wenn ein wirtschaftspolitischer Zeitgeist dazu führt, dass die Akademie zur Zulieferanstalt für Berufsfelder bestimmter Industrien reduziert wird und die Curricula der Studiengänge auf ein „pragmatisches” (=einfach nachnutzbares) Qualifikationsniveau zusammengedampft werden.

„Das Leitbild der Humboldt-Universität zu Berlin orientiert sich an den drei Hauptsäulen des Humboldtschen Forschungsideals: der Einheit von Forschung und Lehre, der freien Wissenschaft um ihrer selbst Willen sowie der Persönlichkeitsformung.” [Fn 26]

und ist genaugenommen vor allem ein Slogan für das Hochschulmarketing, dessen Wahrhaftigkeit in etwa dem entspricht, was man auch sonst in der Werbung vorfindet.

Gerade deshalb muss man natürlich darum kämpfen, muss man Nischen eröffnen und erweitern, so gut es in dem schmalen Bewegungsraum, der noch bleibt, eben möglich ist. Wissenschaft ist nicht, nicht einmal de facto, die Wirtschaft und wenigstens das sollte man verteidigen: Auch der Fehler, auch das Scheitern (die Falsifikation) sind hier an sich produktiv besetzbare Merkmale. Wissenschaft führt selten wirklich zum Erfolg. Die Exzellenzidee überträgt unglücklicherweise auch bei der Forschungsförderung ein Denken ohne Fehlertoleranz, ohne zulässiges Scheitern verbunden mit der typisch deutschen Mentalität im Umgang mit Versagen auf die Wissenschaft und macht diese Vorstellung zum Maßstab.

Das eigentlich Deprimierende ist, wie viele am Abend eines Tages erneut wider besseren Wissens mitspielen, wie sich die Wissenschaft trotz aller permanent artikulierter Überlastung bei gleichzeitiger Trivialisierung ihrer epistemologischen Wirkung weitgehend unkritisch fügt und sich in gewisser Weise von einer Ideologie der Evaluation und des Erfolgs vorschreiben lässt, wie sie zu sein hat. Ein irrationaler Positivismus stülpt sich damit über die vermeintlich rationalste Instanz der Gesellschaft.

In welcher Form die Wissenschaftswelt dies überstehen wird, hängt auch davon ab, ob sie den Raum wieder etwas eröffnet, der eigentlich nach Überwindung der starren Dogmen paternalistischer Disziplinierung bei der Erkenntnisproduktion gegeben war, nun aber durch administrative und auf Kurzzeiteffekte gerichtete neue Reglementierung fast noch enger geschnürt scheint, als zu vor. Und dafür benötigt sie Akteure, die anderen Wertvorstellungen verpflichtet sind. Dafür benötigt sie eine sinnstiftende Orientierung, die mehr beinhaltet, als das Ausrichten nach dem Wind der sich jeweils bietenden Gelegenheit.

Nichts an diesen An- und Einsichten ist neu. In den Warteräumen der Arbeitsagenturen werden sie jeden Tag vermutlich tausendfach gedacht, bevor dann die Beraterin fragt, ob die Betroffenen sich auch Buchhaltung zutrauen würden.


Fußnoten

[01] Der Text beruht insofern auf persönlichen Erfahrungen, als dass sich sämtliche ihm gesammelten Positionen und Stimmungen dem Autor teils in Gesprächen, teils per Beobachtung des persönlichen Umfelds, teils auch in eigenen Erlebnissen erfahrbar gemacht wurden. Das einzige Anliegen des Textes ist, die Situation von Nachwuchswissenschaftlern besonders in denen Geisteswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2012 unter dem Motto der LIBREAS-Themenausgabe „Scheitern” zu reflektieren.

[02] Vgl. André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1997. S. 57-65. [zurück]

[03] Nina Feltz: Jenseits der Pyramide. Scheitern als Chance. In: Forschung & Lehre. 1/2012, S. 56-57. [zurück]

[04] André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 65. [zurück]

[05] Ebenda, S. 64. [zurück]

[06] Wolfgang Backert: Kulturen des Scheiterns. Gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich. In: Matthias Junge, Götz Lechner (Hrsg.): Scheitern : Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden : VS, Verl. für Sozialwiss., 2004. S. 63-77. [zurück]

[07] Vgl. Backert, S. 71. [zurück]

[08] Backert, S.73. [zurück]

[09] Jenny Friedrich-Freska: Küssen kann man nicht alleine. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18.01.2012, S. 29. [zurück]

[10] Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1975. [zurück]

[11] Albert O. Hirschmann: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge MA: Harvard University Press, 1970. [zurück]

[12] Gorz, S. 66. [zurück]

[13] Gorz, S. 61, Hervorhebung im Original. [zurück]

[14] Die groteske Formalprosa der Arbeitszeugnisse und die dazugehörige Auslegungslehre sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. [zurück]

[15] Hannelore Weber; Erich Schröger: Kostbares Gut. Forschungsförderung durch die DFG. In: Forschung & Lehre 1/2012, S. 30-32. [zurück]

[16] Ebenda S. 31. [zurück]

[17] Vgl. dazu auch Axel Michaels: Wutwissenschaftler. Eine Erwiderung auf Roland Reuß und Volker Rieble. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 02.11.2011, Nr. 255, S. N5. [zurück]

[18] Weber, Schröger S. 32. [zurück]

[19] Roland Reuß; Volker Rieble: Die freie Wissenschaft ist bedroht. In: faz.net, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/kritik-an-der-dfg-die-freie-wissenschaft-ist-bedroht-11497511.html. [zurück]

[20] Axel Michaels: Wutwissenschaftler. Eine Erwiderung auf Roland Reuß und Volker Rieble. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 02.11.2011, Nr. 255, S. N5. [zurück]

[21] Karsten Schuldt: Au revoir Allemagne. Bonjour Suisse. (Oder: So gut ist das deutsche Wissenschaftssystem echt nicht.) In: Bibliotheken als Bildungseinrichtungen. 26.12.2011 http://bildungundgutesleben.blogsome.com/2011/12/26/au-revoir-allemagne-bonjour-suisse-oder-so-gut-ist-das-deutsche-wissenschaftssystem-echt-nicht/. [zurück]

[22] „Jeder Einzelne von uns weiß, fühlt, begreift sich als potentiell arbeitslos, potentiell prekär beschäftigt, potentiell auf Teilzeit-, Termin- oder Gelegenheitsjobs angewiesen.” weiß André Gorz zu berichten. S.76. [zurück]

[23] Vgl. Norbert Franz: Manövriermasse. Die Situation der so genannten Kleinen Fächer. In: Forschung & Lehre 1/2012, S. 34-35. S. 35. [zurück]

[24] Holger Notze: Verblödungstoleranz. In Forschung & Lehre, 1/2012, S. 1. [zurück]

[25] Richard Münch: Akademischer Kapitalismus: Über die politische Ökonomie der Hochschulreform. Berlin: Suhrkamp, 2011. [zurück]

[26] http://www.ibi.hu-berlin.de/institut/leitbild. [zurück]


Ben Kaden ist Bibliotheks- und Informationswissenschaftler und Gründungsherausger des eJournals LIBREAS. Library Ideas.