> > > LIBREAS. Library Ideas # 2

Mehr als Marginalien - das E-Book als gemeinsamer Zettelkasten


Zitiervorschlag
Jakob Voß, "Mehr als Marginalien - das E-Book als gemeinsamer Zettelkasten. ". LIBREAS. Library Ideas, 2 ().


Während Marginalien in alten Handschriften und Büchern als ergänzende Randbemerkungen gern gesehene Hinweise für die Forschung liefern, gelten sie in Bibliotheksbeständen und Schulbüchern eher als Ärgernis beziehungsweise gar als Sachbeschädigung. Kritzeleien, Anstreichungen und Kommentaren liegt eine eigentümliche Ambivalenz zugrunde: Einerseits zerstören sie die jungfräuliche Aura eines neuen Buches und beeinträchtigen den vermeintlich unbeeinflussten Blick auf das Original. Andererseits können Anstreichungen und Eselsohren – ganz gleich ob sie von vorherigen Lesern oder der eigenen Lektüre stammen – auch hilfreich oder zumindest interessant sein. Seltener sind – zum Glück – herausgerissene Seiten, obwohl es ab und zu ganz praktisch wäre, einen interessanten Absatz ausschneiden zu können.

Es wäre also wünschenswert – natürlich unter Bewahrung der Unversehrtheit des Originals – nicht auf die produktive Verunstaltung von Büchern verzichten zu müssen, sondern Anmerkungen und Streichungen je nach Belieben ein- oder ausblenden zu können. Dass nun der Computer als „Maschine zum Kopieren und Verändern von Bits” (Wau Holland) sowohl das Anreichern und Kommentieren, als auch das verlustfreie Selektieren und Kopieren von Texten möglich macht, ist nichts Neues. Viele E-Books ermöglichen eigene Anmerkungen und das Kopieren einzelner Passagen; leider kommen die dafür notwendigen Funktionen – zumal sich Touchscreens noch nicht allgemein durchgesetzt haben – bei weitem nicht an die Einfachheit von Stift und Papier heran. Außerdem sind eigene Anmerkungen und Anstreichungen meist spätestens ab der nächsten Installation verschwunden – von einer Erhaltung für andere Nutzer des gleichen Buches ganz zu schweigen.

Während ein Printmedium immer nur als einzelnes Exemplar vorhanden ist und somit nur von einer begrenzten Anzahl von Personen gleichzeitig gelesen werden kann, ist der Begriff des Exemplars bei E-Books eigentlich hinfällig. Der Versuch, Nutzungsmöglichkeiten dennoch durch Lizenzverträge einzuschränken, hat eher wirtschaftliche Gründe. Solche Schranken widersprechen im Grunde der Eigenschaft des Mediums, jederzeit Kopien in beliebiger Form und Anzahl herstellen zu können. Zusätzlich können vielfältige weitere Daten erstellt und weitergegeben werden – von einfachen Lesezeichen über Rezensionen bis hin zu ausführlichen Anmerkungen und Korrekturen. Bei der Rezeption in elektronischer Form lassen sich darüber hinaus automatisch Daten über die Nutzungshäufigkeit und -dauer ermitteln. So könnten E-Books bei Bedarf ihre eigene Nutzung registrieren und so ermitteln, wer ein Buch wann, wie lange und zu welchen Teilen gelesen hat (natürlich nur mit Einverständnis des Nutzers). Über das Internet ist eine zeitnahe Weitergabe dieser Informationen möglich: Leser, die ihre Daten austauschen möchten, könnten sich gegenseitig in ihre Anmerkungen schauen und dabei beobachten, wie die verschiedenen Lesezeichen gemeinsam durch ein und dasselbe Buch wandern. In einem transparentem System könnten auf diese Weise Kontakte geknüpft und das Lesen zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis werden.

Das ARPANET, ebenso wie das daraus entstandene Internet, verdankt seinen Erfolg zu einem großen Teil den neuen Möglichkeiten und Formen selbst organisierter Kommunikation: Als erste große Mailingliste entstand Anfang der 1970er Jahre die Liste SF-LOVERS, auf der Forscher über Science-Fiction diskutierten. Mit steigendem Datenaufkommen wurde die Liste zunächst gesperrt, bis die Verantwortlichen überzeugt werden konnten, dass es sich auch um ein wissenschaftlich relevantes Pilotprojekt für große Mailinglisten handelte. Inzwischen reichen die Möglichkeiten von Mailinglisten, über Newsforen und Chats bis zu in den letzten Jahren populär gewordenen Formen sozialer Software wie Weblogs und Wikis [-> 01]. Für viele ist die Diskussion in virtuellen Räumen bereits alltäglich geworden. Neben dem Gedankenaustausch gibt es gemeinschaftliche Projekte zur Digitalisierung [-> 02] und bibliographischen Erschließung [-> 03] von Werken. Social Tagging ist eine sich etablierende kollaborative Form der Sacherschließung, bei der durch freie Verschlagwortung und Feedback gemeinsame Begriffssysteme („Folksonomies“) entstehen. Nicht zuletzt können neue Inhalte und ganze Werke gemeinschaftlich verfasst werden, wie die freie Enzyklopädie Wikipedia eindrucksvoll beweist. Mehrere Tausend Freiwillige arbeiten bei diesem Projekt an einem Nachschlagewerk, das bereits über eine Million Artikel in mehr als 80 Sprachen umfasst. Unter dem Dach der Wikimedia Foundation wird dieses Konzept auf Lehrbücher, Wörterbücher, Bildersammlungen und andere Gegenstände ausgeweitet.

Das gemeinschaftliche Arbeiten mit Inhalten und Anmerkungen in offenen Systemen ist also mehr und mehr Internetnutzern vertraut. Warum gibt es also noch keine nennenswerten Projekte zur Anreicherung von elektronischen Texten mit Marginalien? Zunächst einmal ist es schwierig, Texte zu annotieren, die nicht frei verfügbar sind. Ein offener Standard zum Austausch von Anmerkungen und anderen von Lesern produzierten Informationen ist ohne offenen Zugriff auf die Texte zwar denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich; es ist kein Zufall, dass alle oben genannten Systeme nicht als Produkt einer Firma entstanden sind, sondern sich durch Aktivitäten Einzelner in der Gemeinschaft entwickelt haben.

Dort wo Texte frei verfügbar sind und der Weiterverwendung zumindest aus rechtlicher Sicht nichts im Weg steht, mangelt es allerdings oft an der Authentizität und Referenzierbarkeit. Auch die Technik ist trotz ihres rasanten Forschritts noch nicht soweit fortgeschritten, dass das Lesen in elektronischer Form eine wirkliche Alternative zum gedruckten Werk darstellen würde. Offensichtlich besitzt ein gedrucktes Buch immer noch einige Vorteile. In bestimmten Bereichen, wo einfache elektronische Endgeräte verfügbar sind, werden sie allerdings mehr und mehr genutzt – beispielsweise in Form von Handyliteratur [-> 04]. Nicht zuletzt müssen geeignete Verfahren zum Austausch von Marginalien erst einmal entwickelt und prototypisch angewandt werden, bevor sie sich durchsetzen können. Hier könnten Bibliotheken eine Vorreiterrolle einnehmen.

Neben Texten – die übrigens nicht durch die einfache Online-Verfügbarkeit, sondern erst mit Hilfe bibliothekarischer Erschließungsmittel als dauerhaft referenzierbare Entitäten verfügbar werden – lassen sich auch beliebig andere Objekte annotieren. Interessante Möglichkeiten ergeben sich aus der Verbreitung mobiler Kommunikation und Navigationssysteme. Bereits jetzt werden in der Wikipedia Geo-Koordinaten zu einzelnen Artikeln gesammelt, so dass bei Bedarf alle Lexikoneinträge zu Objekten innerhalb eines bestimmten Gebietes angezeigt werden können[-> 05]. Mit georeferenzierten Annotationen wären beispielsweise virtuelle Gipfelbücher und die Abfrage von themenbezogenen Stadtführungen möglich [-> 06].

In welchen Bereichen sich der Austausch von Ausschnitten, Kommentaren und Nutzungsprofilen von Texten und anderen Objekten als sinnvoll herausstellen wird, kann nicht sicher vorhergesagt werden. Der tatsächliche Nutzwert neuer Medien zeigt sich erfahrungsgemäß erst nach einiger Zeit des Experimentierens (man denke beispielsweise an astrologische Einblattdrucke oder Handyklingeltöne, die beide wenig über den eigentlichen Fortschritt ihres Mediums aussagen). Bevor sich die gemeinsame Annotierung der (Literatur)welt durchsetzen wird, sind einige technische und ethische Fragen zu klären. Da die Nutzung elektronischer Medien fast immer mit einem Verlust von Privatsphäre einhergeht, sollte der Datenaustausch so selbstbestimmt und frei wie möglich ablaufen. Auch hier dürften Bibliotheken als Dienstleister eher geeignet sein als Firmen, die vorrangig gewinnorientiert arbeiten müssen.

Gewiss wird nicht jede Form sozialer Software Bestand haben. Die zugrunde liegende Intention, zu teilen und selbst organisiert zusammenzuarbeiten, ist aber ein grundlegendes Prinzip. In elektronischen Räumen kann es mit neuen Mitteln verfolgt werden – der Trend zu Kollaboration wird so bald nicht abbrechen. Ebenso grundlegend ist das Prinzip, dass Texte nicht nur durchgelesen, sondern ausgewählt, überflogen, geordnet, kommentiert, verlinkt und neu zusammengesetzt werden. Warum also nicht Textrezeption mit sozialer Software kombinieren? Das E-Book nicht als fertiges Werk, sondern als gemeinsamen Zettelkasten zu begreifen, wäre ein Schritt in diese Richtung. Und warum sollten nicht gerade Bibliotheken eine Vorreiterrolle dabei spielen?

[01 -> zurück] Jochen Dudeck und Jakob Voß: Kooperation als wichtigster Bestandteil des Konzepts / Weblogs, Wikis & Co.: Social Software in Bibliotheken. In: Buch und Bibliothek 3/2005, S.221-225

[02 -> zurück] Im Projekt Runeberg (http://runeberg.org/) wird skandinavische Literatur, deren Schutzfrist abgelaufen ist, gescannt und von Freiwilligen Korrektur gelesen.

[03 -> zurück] Beispielsweise die Grand Comic Database unter http://www.comics.org/.

[04 -> zurück] Siehe die AP-Mitteilung von Yuri Kageyama (http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/924829, 5/2005).

[05 -> zurück] Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Georeferenzierung. Die Suche nach Artikeln über ihre Koordinate wird erst mit der kommenden Software-Version verfügbar sein.

[06 -> zurück] Es gibt bereits verschiedene Ansätze, Google Maps (http://maps.google.com) mit eigenen Annotationen zu verwenden. Zur Kombination mit dem Wiki-Prinzip siehe: Russell Buckley: Extending Wikipedia into the Physical World. In: Proceedings of Wikimania 2005 (http://en.wikibooks.org/wiki/Wikimania05/Paper-RB1)


Jakob Voß studiert Bibliothekswissenschaft und Informatik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist im Vorstand des Wikimedia Deutschland eV tätig.