I
Wenn man die Welt nach Fisch und Fleisch unterteilt, dann ist das Yvana Fischfleisch. Oder nichts von beidem. Der flämische Naturforscher Charles de l'Écluse wusste jedenfalls nicht so recht, wohin mit diesem kuriosen Tier und daher steckte er es passend in sein 1605 publiziertes Werk der zehn Bücher exotischer Lebensformen (Exoticorum libri decem). Während es so in einer Oberklasse „exotische Tiere ferner Länder” problemlos seinen Platz fand, entzog es sich einer taxonomischen Zuordnung nach dem Differenzierungsschema Landtiere/Wassertiere. Und stellte ahnungslos durch seinen Lebenswandel eine scheinbar stabile Ordnung nicht als schwarzer Schwan, aber als Baum-Land-Fluss-Bewohner in Frage.
Derartige Ausreißer finden sich früher oder später in so gut wie jedem Ordnungssystem. Das liegt gar nicht mal so sehr in Natur und Sache, sondern ist ein Problem des Ordnens. Von Paul Valéry wird die Einsicht überliefert: „Unser Geist besteht aus Unordnung, plus dem Bedürfnis, Ordnung zu schaffen.” Konfrontiert mit einem prinzipiellen Tohuwabohu legen wir eine Erkenntnisstruktur mitsamt passender Ordnungsschablone über selbiges, um es für uns wenigstens in der eigenen Wahrnehmung zu überblicken.
Wer wüsste das besser, als die Bibliothekswissenschaft, die sich elementar mit Klassifikationen, Taxonomien, Thesauri befasst und gemeinhin mit der Frage, wie man ein stabiles und für die Erschließung und das Wiederauffinden von Literatur praktikables Ordnungswerkzeug entwickelt? Der Unterschied zur Wissensgeschichte liegt hauptsächlich in dieser Zielrichtung auf eine ganz konkrete Funktion. In digitalen Kommunikationsräumen jedoch, in denen die Ordnung, die sich als Zuschreibung bestimmter Eigenschaften und Verknüpfungen (beziehungsweise Relationen) entfaltet, mit den Inhalten verschmilzt, stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Verfahren des Ordnens in aktualisierter Form. Denn hier ist es notwendig, Zugangsstrukturen und damit auch Ordnungsstrukturen als Apriori der technisch vermittelten Nutzung dieser digitalen Inhalte zu formulieren.
II
Konkrete Lösungen für diesen Zusammenhang lassen sich erwartungsgemäß nur begrenzt aus ordnungs- und wissensgeschichtlichen Publikationen ableiten. Was aber gelingt, ist eine Sensibilisierung des Blickes am Exemplarischen entlang und damit eine Erweiterung der Perspektive auf den Gegenstand Ordnung als allgemeine anthropologische Grundkonstante.
So zeigt sich der Sammelband Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, der mit dem Yvana eröffnet und mit dem Licht des Fernsehens schließt, als entsprechende Sicht auf die Mannigfaltigkeit von Ordnungsphänomenen in der Kulturgeschichte. Ganz im Sinne der Annahme, dass sich das Allgemeine durch den Blick auf das Besondere aufzeigen lässt, enthüllen die zwölf wissensgeschichtlichen Beispiele von Ordnung und Störung die Vielgestaltigkeit der Versuche, Strukturen und Relationen zu benennen. Es scheint, wie Valéry es andeutet: Wir können nicht sein, ohne zu ordnen. Aber innerhalb dieser Universaleinsicht können wir doch sehr flexibel versuchen und scheitern. Fail again. Fail better. Mehr als Valéry und Beckett braucht man eigentlich nicht, um zu verstehen, was Ordnen und das Scheitern im Ordnen bedeuten. Der vorliegende Band hilft aber, anhand von Beispielen die Prinzipien des Ordnens greifbar offen zu legen.
Ein zentraler Widerspruch ergibt sich schon daraus, dass Ordnungen in einem konkreten, dynamischen und kontingenten Umfeld operieren, häufig aber auf eine abstrakte, systematische Geschlossenheit zielen. Dass sich ein Ordnungssystem jedoch eigentlich nur als Vorschlag ausdrückt, der durchaus Züge eines Narrativs tragen kann, bleibt in der Praxis der Ordnung meist dann verborgen, wenn sie kein Privatverfahren ist, sondern verfestigt zur institutionellen Konstanten einer Gemeinschaft wird:
„Verdeckt wird nicht nur die Künstlichkeit des Systems, sondern ausgeschlossen wird auch gerade das, was das System ermöglicht.” (S. 7f.)
Spätestens seit Foucault ist der artifizielle Charakter dieser Systeme beim Diskurs über Ordnungsverfahren aber nicht mehr nicht-thematisierbar. Benjamin Bühler nennt denn auch in seiner Einleitung die bekannten Theoretiker der neuen und alten Hybriden, der Un- und Störfälle sowie Grenzgänge, Ausnahmen, Parasiten und Nischenwesen: Bruno Latour, Heinz von Foerster, Michel Foucault und Michel Serres. Ab und zu tauchen sie in den Beiträgen auf. Im Zentrum stehen aber eher die konkreten Ordner als die philosophischen Störer.
III
So widmet sich Bühler zum Beispiel Charles Bonnet und besonders Gottfried Wilhelm Leibniz. Mit diesen arbeitet er die Naturgeschichte tatsächlich als Narrativ heraus. Der Achspunkt ist dabei die permanente Verschiebung, die sich dann zeigt, wenn man Ordnungssysteme im Prozess der praktischen Bezugnahme betrachtet. Hier spricht man vom Grenzparadox:
„Die Erstellung einer Ordnung in distinkte Untergruppen erzeugt immer auch Zwischendinge, die von Objekten besiedelt werden, welche ihrerseits zur Grundlage einer neuen Ordnung werden.” (S. 10)
Die Besiedlung der Lücken und Nischen durch Leibniz’ „Mittelwesen” (vgl. S. 29) reproduziert das Grenzparadox als offensichtliche Basiseigenschaft jeglicher Klassifikation wieder und wieder:
„Das was die alten Ordnungssysteme nicht einordnen konnten, wird zum Fundament einer neuen Ordnungsform.” (S. 30)
Störfälle werden bei Bonnet und Leibniz also zur Bestätigung eines elementaren Verfahrens der Natur und damit auch zum Mittel der Prognose: Es muss notwendig Mittelglieder (zum Beispiel z.B. zwischen Tier und Pflanze) ergo Übergänge geben. Wenn sie noch nicht bekannt sind, so findet sich doch einerseits immerhin die Möglichkeit, sie sich vorzustellen und andererseits für die Naturgeschichte die Aufgabe, sie zu entdecken. Das Leitmotiv ist dabei die Kontinuität der Natur. Mit ihm kann man die Partikularebene verlassen und den Blick aufs Ganze wagen. Von nichts kommt in dieser Welt nichts beziehungsweise in der Umkehrung: Wenn etwas ist, muss ihm etwas vorangehen. Eine ordnende Wissensgeschichte unternimmt es folglich, die stabile Struktur anhand der Übergänge, Lücken und als Verschiebungen zu erkennen. Dahinter liegt des Überlebensgeheimnis des Universalnarrativs: Es „liefert […] auf der einen Seite einen starren Rahmen, auf der anderen Seite ist es mit seinen Faltungen und Einschaltungen auf Unendlichkeit gestellt: Es gibt nichts, was sich nicht in die Leiter des Seins einordnen lassen könnte.” (S. 32) Wir müssen nur Blick und Objekt passend in Beziehung setzen.
IV
Der naturgeschichtliche Grundgedanke der Kontinuität beziehungsweise stetigen Verschiebung lässt sich problemlos auf Kulturphänomene ausdehnen, wie Armin Schäfers Betrachtung zur Behandlung der Morphologie bei Goethe zeigt. Denn wenn wir aus der Natur ins Archiv der Natur treten, begeben wir uns in eine zweite Ordnung und beobachten den Beobachter:
„Der Gegenstandsbereich der Morphologie verschob sich hierbei allmählich von empirischen Beobachtungen auf Beobachtungen der Beobachtungen.” (S. 65)
Dieses rückkoppelnde Verfahren der Beobachtung des eigenen Beobachtens entfaltet sich besonders in der morphologischen Forschung um 1800. Die Problematisierung (und Historisierung) der eigenen Erkenntnispraxis elaboriert ein methodisches Regulativ, welches alsbald eine eigene Dynamik und Bedeutsamkeit erlangt, die in der Beobachtung der Kultur die Erfahrungen aus der Beobachtung der Natur wiederholt:
„Die Historisierung des naturkundlichen Wissens trieb die Morphologie schließlich über ihren Anwendungsbereich hinaus und trug zu ihrer Verselbstständigung als einer allgemeinen kulturwissenschaftlichen Methode bei.” (S. 66)
Die sekundären Ordnungsversuche lassen sich unschwer als Versuch lesen, die bestehenden Ordnungsverfahren zu überarbeiten. Und damit als Versuch der Zähmung des Zufalls, der sich in den Eigensinn der Ordnungen einschleicht. Der Zufall, Geschwisterkind des Störfalls, ist jedenfalls nicht zu ignorieren und muss in jedem System irgendwie berücksichtigt werden.
Die Entdeckung dieser Notwendigkeit geht, wie Julia Voss in ihrem Beitrag herausarbeitet, auf Charles Darwin zurück. Unter anderem angesichts nicht zu bewältigender Materialmengen der naturhistorischen Sammlungen gelangte Darwin zur Einsicht: Nicht der göttliche Plan lässt sich aus dieser Fülle schälen, sondern ein wie auch immer motiviertes evolutionäres Kreuz-und-Quer, dass naturgemäß (!) als Prozess unvollkommen bleiben muss und sich damit der absoluten Ordnung entzieht: „In der Perfektion offenbarte sich der Gott; im Fehler verriet sich die Natur.” (S. 86) Und die Natur des Menschen.
Beziehungsweise sind Fehler Teil der Natur des menschlichen Gedächtnisses und der Sprache, wie Dietmar Schmidt darstellt. Anhand von Oskar Panizzas landflüchtigem Hund (Aus dem Tagebuch eines Hundes. Leipzig: Friedrich, 1892, Reprint: München: Matthes & Seitz, 1977) illustriert er, wie angesichts neuer Entwicklungen die Worte schlicht fehlen und doch dienen müssen:
„Worte werden herangezogen, die aus anderen Zusammenhängen vertraut sind, die aber nun für etwas Neuartiges einstehen müssen, für das es noch keine ›eigentliche‹ Bezeichnung gibt. […] Die Bewegung der Übertragung, die hier die Worte erfasst stellt Vergleichbarkeiten her, erzeugt Ähnlichkeiten zwischen Dingen, die allein in diesem Transfer miteinander korrespondieren. Die provisorische Beschaffenheit der Bezeichnungen wird dabei stets mit markiert.” (S.96)
Die Dynamik der sich entfaltenden und auswickelnden Wahrnehmungswelt ist, wie jeder wirkliche Trend, der Entwicklung der Sprache immer einen Tick voraus und erst das kreative Spiel mit den bekannten Wörtern erlaubt es uns, eine Beschreibung zu finden. Es geht um das Benennbarmachen des Unbenannten über den Umweg des Benannten. Jegliche sprachbewusst geschriebene Literatur hat hier ihren Ursprung. Schmidt illustriert dies mit Viktor Šklovskijs berühmter Tolstoi-These zur Verfremdung, die darauf beruht, einen Gegenstand nicht zu benennen, sondern so zu beschreiben, als sähe man ihn zum ersten Mal. Das Verfremden bremst das Verstehen, in dem es dessen Automatismen unterläuft. Es rückt damit das Singuläre und Irreduzible eines Objektes in einen vortaxonomischen und zugleich taxonomisierenden Blick: Denn das, was man zum ersten Mal als Objekt wahrnimmt, kann man nur begreifen, indem man es in die Relation zum Bekannten setzt. Die Möglichkeit der wahrscheinlichen Fehldeutung eingeschlossen. Fail again, Fail better.
V
So ist der Unterschied zwischen Natur und Kultur nicht zuletzt in den Benennungspraxen zu suchen, also in den Übersetzungsversuchen mit denen wir uns das Wahrgenommene bewusst zu machen trachten. (Valérys Plus-Bedürfnis). Die Natur schert sich dagegen mutmaßlich wenig um eine Ordnung, wie wir sie suchen. Genau genommen ist es also der Mensch als Deuter und Akteur, der mit seinem mehr oder weniger gründlichen Blick auch vorbestimmt, was später als Ordnungsdispositiv den Rahmen für den nächsten Erkenntniszyklus bildet. Sind wir schon beim Konstruktivismus? Noch nicht, aber wir eilen erkennbar mit großen Schritten auf diesen zu.
Denn Christina Lechtermann verdeutlicht uns in ihrer evolutionstheoretischen Durchdringung der Philologie wie fragwürdig so eine Vorstruktur wirken kann. Sie berichtet zunächst von der Begeisterung, die Richard Dawkins angesichts der Tatsache, dass sich Philologen den Evolutionärbiologen methodenähnlich auf die Suche nach dem Quellpunkt eines Textes begeben, überkam: Natur und Kultur, so die Annahme, rotieren in ähnlicher Weise und so wie die DNS reproduziert wird, wird auch ein Text tradiert. So eingängig diese These scheint, so deutlich sind auch ihre Grenzen: Wer einen Text reproduziert, lässt ihn in der Regel ein kulturelles und damit deformierendes Bewusstsein passieren. An unserer DNS können wir vielleicht mittlerweile auch herumjustieren. Aber die Spolien der Verarbeitung bei der Textüberlieferung des Mittelalters sind doch noch etwas ganz anderes. Dieser rekontextualisierende Umgang mit Werkteilen, der „der Kopie oder dem Zitat näher zu stehen scheint als dem Wiedererzählen, der Imitation oder Aemulatio, insofern [er] [...] als wörtliche Übernahme erscheint, die jedoch weder als Zitat ausgewiesen wäre, noch als Kopie anzusprechen sei” (S. 103) ist keine Erfindung der popkulturellen Remix-Gesellschaft, sondern eine Urpraxis der schriftvermittelten Überlieferung, die als stille Post jede noch so laute Tradierung begleitet. Wer sich fragt, was die Mediävistik der aktuellen Medientheorie erkenntnismethodologisch mitgeben kann, findet in der Spolien-Reflektion Christine Lechtermanns eine Anregung: Jedes kulturelle Artefakt, das wir vorfinden, ob mittelalterliche Handschrift oder YouTube-vermittelter Remix, wurde durch einen konkreten Akteur verarbeitet und trägt in seinen reproduzierten Inhaltsteilen auch ganz singuläre und mitunter den Kontext deutlich versetzende Spuren. Die Remixe unsere DNS bleiben bisher jedenfalls unserer bewussten Manipulation weitgehend entzogen.
Die Tatsache der Generationen übergreifenden biologischen Remixability des Menschen zeigt aber, dass auch der Mensch selbst alles andere als eindeutig ist. Gerade wenn es ans Kulturelle geht. Er musste sogar zunächst einmal im 18. Jahrhundert als Konzept erfunden werden. Als Erfinder betätigten sich, wie Thomas Bäumler in seinem Beitrag ausführt, die Frühromantiker. Novalis ist ein Hauptvertreter dieses Bemühens um eine Perfektionierung des Menschen respektive seiner Entwicklung zum Nicht-Tier. Diese Sehnsucht nach einer Verabsolutierung beziehungsweise „Gottwerdung” des Menschen, zu der die Welt der Zeichen Mittel ist, kann man in ihren Auswirkungen auf das Menschenbild der nachfolgenden Jahrhunderte kaum unterschätzen. Und wieder geht das Bezeichnen und Benennen dem „Ich als Identität und feste Burg” (S. 123) voraus. Die Klasse „Mensch” wie die Instanz „Ich” sind Ordnungsversuche durch Sprache. Dadurch, dass wir den Menschen mit der Natur (die Tatsache der Leiblichkeit) und der Kultur (die Tatsache der Zeichenhaftigkeit) zueinander in Beziehung setzen müssen, operieren wir bereits auf der Stufe einer dritten Ordnung und brechen damit zugleich mit bisherigen Systemen. In dem wir lernen „Ich” zu sagen, steigen wir aus einem kollektiven Korpus aus und erhalten einen eigenen, individuellen. Bäumler zitiert dazu passend Novalis 83stes Fragment aus dessen Blüthenstaub (Erstdruck 1798):
„In den meisten Religionssystemen werden wir als Glieder der Gottheit betrachtet, die, wenn sie nicht den Impulsionen des Ganzen gehorchen wenn sie auch nicht absichtlich gegen die Gesetze des Ganzen agiren, sondern nur ihren eignen Gang gehen und nicht Glieder seyn wollen, von der Gottheit ärztlich behandelt, und entweder schmerzhaft geheilt, oder gar abgeschnitten werden.” (zitiert bei Bäumler, S. 129)
Nicht die Eingliederung ins Kollektive, sondern die eigene Erkenntnisfähigkeit macht den Menschen zum Menschen. Das Problem ist freilich wieder der Störfall: Das eigensinnig Partikulare ist nicht mehr in Deckung mit einem konsensuellen, kollektiven Wahrheitsverfahren (zum Beispiel der Religion) zu bringen. Damit der Mensch aber nicht in Vereinzelung zugrunde geht, bedarf es einer bewussten institutionellen Organisation der Menschwerdung: „Das Bedürfniß eines Staats ist das dringendste Bedürfniß eines Menschen. Um Mensch zu werden und zu bleiben, bedarf er eines Staats.” (zitiert bei Bäumler, S. 128) Der Mensch wird demnach nicht zum Mensch allein. Sondern durch das Beitreten zu einem rationalisierteren Wahrheitsverfahren. Was uns an die Schwelle eines neuen Grenzparadox’ führt.
VI
Denn so ein Staat, mag er noch so gesellschaftsvertragsmäßig grundiert sein, bleibt als Gebilde der Tatsache, dass der Mensch abstrakt nicht annähernd erfasst, was der Mensch konkret sein kann, unterworfen. Abgesehen von den üblichen Erstarrungstendenzen jeder uns bekannten fortgeschrittenen Bürokratie bietet die Lebenswirklichkeit nahezu jedes Kulturmenschen eine Fülle von Beispielen, dieses Reichweitenproblem zu unterstreichen. Michael Andreas greift sich für seinen Beitrag ein besonders kontrastreiches heraus: Die „epidermische Ordnung” und ihre Geschichte. Dieses Schwarz-Weiß-Schema entwickelte sich vom Duoton zu einem buchstäblich vielfarbig schattierten Ordnungssystem: In der physischen Anthropologie Felix von Luschans aus dem Jahr 1904 wurden bereits 36 Töne auf einer Hautfarben-Tafel vermerkt. Damit, so meinte man, hätte man das Mittel für „die endgültige und vollkommene Vereinheitlichung von Messungen menschlicher Pigmentierung”. (S. 137) Was vielleicht sogar stimmte. In der konkreten Instrumentalisierung für die Rassenhygiene bot das Ordnungswerkzeug jedoch eine Struktur, die in der Kombination mit einem anderen Ordnungswillen den Gedanken des Menschseins auf eine grausige Perversion zuführte. Bereits 1922 schränkte von Luschan die Aussagekraft der Pigmentanalytik deutlich ein: „So führen uns […] alle Versuche, die Menschheit nach der Hautfarbe, nach der Länge oder der Breite der Hirnkapsel oder nach der Art der Haare usw. in künstliche Gruppen zu teilen, völlig in die Irre.” (Zitiert bei Andreas S. 139)
Der Mensch ist, so nicht nur seine Erfinder, nicht wie Hymenoptera schaukastenhaft zu erfassen. Spätestens dort, wo zu natürlichen Merkmalen kulturelle treten, also unweigerlich, sobald wir zur Ordnung rufen, entfaltet sich eine Komplexität, die in keine 36er-Skala passt. Man muss dafür gar nicht mehr zum drastischen Beispiel des racial passing Michael Jacksons und dem dazugehörigen Mediendiskurs Bezug nehmen. Aber man kann es natürlich tun. Dass Andreas es tut, veranschaulicht nur noch deutlicher, wie bestimmte, mehr oder weniger natürliche, Merkmale stetigen Bedeutungsverschiebungen unterliegen und Konzepte der kulturellen Identität immer neu herausfordern. Die Natur des Menschen ist mit der Kultur direkt verwoben und wer hier trennen will, sollte es ohne jede Schlussfolgerung auf Bedeutung tun. Für Ordnungssysteme sind Identitäten/Nicht-Identitäten vermutlich ein Albtraum. Es sei denn, sie zeigen sich flexibel (oder abstrakt) genug, die Verschiebung beziehungsweise Dynamik als Kern ihrer eigenen Struktur zu integrieren. Fail again. Fail better within the system.
VII
Akzeptieren wir, dass die direkte und objektivierende Selbstordnung des Menschen bereits in einem ziemlich rudimentären Stadium scheitern muss, können wir versuchen, mittelbar etwas über sein Wesen anhand dessen abzuleiten, was er in Form von Artefakten hervorbringt. Man erkennt zum Beispiel etwas vom Menschen daran, wie er ordnet. Christian Kassung durchleuchtet diese Praxis in gewisser Weise, wenn er die Patentschrift als ein Zwischending - halb Bastlerskizze, halb wissenschaftliche Tatsache - betrachtet. Die Dichotomie zwischen Objekt und Beschreibung entfaltet sich in dieser Textsorte auf eine besondere Weise, denn sie fordert mehr als andere Darstellungsformen ein, dass sich Symbolisches und Gegenständliches kreuzen. Anemometer, Füllfederhalter und Elektronenröhre sind Beispiele im Beispiel für den Nachweis einer Ambivalenz, die der kulturwesentlichen Identität/Nicht-Identität inhärent scheint: „Wissen verkörpert sich stets implizit und explizit”. (S. 164)
Wenn es ein passendes technisches Phänomen gibt, das diesem Fließen einen angemessen Ausdruck verleihen, dann sind es Flüssigkristalle. Sie waren in ihrer Welt, was das Yvana in der von Fisch und Fleisch ist: Kaum einzuordnen. Stefan Riegers gibt vor allem Zeugnis davon, wie ein Wissenschaftsdiskurs aus dem Lot gerät (wobei dieses Aus-dem-Lot-Geraten möglicherweise wieder ein stabilisierendes Grundgeschehen darstellt), wenn etwas nicht eindeutig passt. Die Ambivalenz des Gegenstands führt in eine Ambivalenz der Sprache und in häufig rhetorisch sehr kreative Versuche, beides irgendwie in den Griff zu bekommen. Der Autor folgt dabei in seiner Betrachtung „jener Markierung […] mit der eigentliches und uneigentliches Sprechen von einander getrennt werden.” (S. 166) Der Grundlagenstreit um die Flüssigkristalle offenbart sich als mustergültige Beispieldebatte, die darauf zielt, ein Phänomen, für das weder ein fester Platz in der bisherigen Ordnung noch eine eindeutige Benennungspraxis vorliegt, diskursiv zu kontrollieren. Wobei Kontrolle auch Leugnung bedeuten kann.
Die Wissenschaft und ihr Ordnen müssen in der Sprache operieren und sich daher selbst wieder einem Ordnungsverfahren unterworfen. Begreift man die natürliche Sprache als solches – und jeder der ein dokumentationswissenschaftliches Seminar besuchte, kann gar nicht anders – sieht man, wie vermeintlich stabile Systeme oft auch sehr wackligen semantischen Grundsteinen balancieren. Denn Sprache in Anwendung bedeutet in menschlichen Zusammenhängen, also überall wo es um Sinn und Bedeutung geht, auch Interpretation. Deutlich wird es in Erfahrungen mit automatischen Übersetzungsprogrammen, die die passende Relation zwischen zwei Systemen (Quellsprache) und (Zielsprache) gerade nicht intellektuell erzeugen sollen. Das Hölzerne wird dabei zwangsläufig Programm, denn alles was die Maschine wissen kann, muss festgelegt sein. Die alltäglichen Übersprünge der Semantik, die jedem komplexen Vokabular anhaften, kennt es nicht. Aber ab und an wird es aktualisiert. Fail again. Fail better. Wobei better vor allem auch die Akzeptanz der Begrenztheit solcher Systeme und den Abschied überzogener Leistungserwartungen betrifft. Diese waren einst, wie Claus Pias mit Blick auf die Frühgeschichte der machine translation (MT) nachzeichnet, gewaltig. Von den Beiträgen des Bandes steht dieser übrigens den Forschungsgrundfragen der Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht nur deswegen besonders nah, weil Warren Weaver – diesmal als leidenschaftlicher Anhänger von Alice im Wonderland – auftaucht. Als Linguist war er allerdings, wenn man Pias glauben mag, nur bedingt ein weitsichtiger Visionär: „Übersetzung sei ein schlichtes Codierungsproblem: Ein chinesisches Buch, so Weaver im Anschluss an Shannon, sei einfach ein englisches, das in chinesischen »Code« übertragen worden sei.” (S. 190)
Von Belang ist der Beitrag deshalb, weil die das Semantic Web prägende Frage der Relationierbarkeit hier entspringt. Daher stehen die Grenzen, die Pias mit Ernst von Glasersfeld für die Machine Translation herausliest, durchaus als Angebot an das Nachdenken über semantische Netze und einen möglicherweise darin verankerbaren Wissensbegriff: Die Wirklichkeit, die in solchen Strukturen abgebildet wird, ist nach wie vor nur die operationale Wirklichkeit eben dieser Strukturen. Wir können sie verfeinern und präzisieren. Der quirlige semiotische Igel wird aber, soweit heute absehbar, dem pfeilschnellen Hasen der Maschine auf dem Feld der Bedeutung immer zuvor kommen. Automatische Verfahren sollten also nicht mit der Illusion elaboriert werden, tatsächlich Bedeutung zu erfassen. Sie können bestenfalls Bedeutung simulieren. Eine solche Simulation setzt jedoch „nicht auf Wahrheit, sondern auf Richtigkeit, nicht auf Gesetze der Wirklichkeit, sondern auf Regeln im Anwendungshorizont.” (S. 207) Und hat mit dem Menschen nur dann etwas zu tun, wenn er irgendwann danach streben sollte, das Computational Thinking als ideale Daseinsform anzustreben. Damit wäre aber auch die Erfindung Mensch ein Auslaufmodell.
So abseitig ist diese Dystopie gar nicht. Die ubiquitären enträumlichten Daten- und Kommunikationsnetze verändern merklich unsere Vorstellung von Wirklichkeit und vom Handeln in der Wirklichkeit. Je mehr wir die Wahrnehmung Technologie vermittelt grundieren, desto mehr vermischen sich die Wirklichkeit der Maschine und die Wirklichkeit unserer Wahrnehmung. In gewisser Weise dringt auf diesem Weg ein bestimmter technologischer Konstruktivismus in unsere Lebenswelt. Daher ist jede Debatte zu begrüßen, welche nach Sinn und Zweck von Verfahren fragt, die unsere Lebenswelt in eine machine translation umsetzen sollen. Dafür hilft es, den Ausgangspunkt zu kennen und daher ist der Beitrag Pias’ für diese Diskussion herausgehoben interessant.
VIII
Wer abstrakter in die Fundamente der Wirklichkeit dringen mag, findet abschließend bei Ute Holl eine Auseinandersetzung mit dem höchst ambivalenten Dispositiv der Wahrnehmung unseres Hauptsinns: Dem Licht.
„Die Dialektik von Sehen und Blendung im Licht ist eine Figur, die spätestens seit dem Barock das Ordnen der Dinge und die Ordnung der Sichtbarkeit stört. Licht organisiert in Reflektionen und Refraktionen einen dreidimensionalen Raum für menschliche Augen […].” (S. 209)
Etymologisch sind das Sehen und damit auch das Licht Wurzel des Wissens. Die Zähmung respektive die Kontrolle des Lichts sind ein altes Motiv der Kulturgeschichte. Holl zeigt, wie es erst der Fotografie, dem Film oder dem Video – Technologien der „Aufschreibung des Lichts” – gelang, unseren Blick ins Licht zu setzen, ohne, dass wir geblendet werden. Licht wird vermittelt wahrgenommen und im Gegenzug vermittelt Licht erst die sichtbare Welt. Es steht tatsächlich in einem bestimmten Sinn in Relation zur Sprache, denn wie diese ist es Träger einer Verschiebung. Wird diese Tatsache für Sprache in der Praxis der Literatur besonders deutlich und performativ sichtbar, so ist es der künstlerische Umgang mit den Aufzeichnungsmedien, die den Versuch der Kontrolle von Licht und die Grenzen dieses Versuches buchstäblich (besser: lichtbildlich) aufzeigen. Holl verdeutlicht dies in Rückgriff auf Bergson an den „Flickerfilmen” und Décollagen Wolf Vostells: „nichts [kann] sich bewegen oder sich erinnern […] »ohne eine allgemeine Störung zu verursachen und eine Neuordnung des Systems nötig zu machen.«” (S. 219) Die filmvermittelte offensive Aufdeckung des Lichts in seiner doppelten Rolle als Ordnungs- und gleichzeitig Störinstanz hilft, so Holl, bei der „physikalischen und physischen Analyse der Botschaften”, der Nachrichten, die uns erreichen. Eine solche Analyse dürfte in jedem Fall auf die Wiederholung eines Grundthemas „epistemologischer Politik” hinauslaufen: „Die Störung der einen Ordnung stellt eine neue heraus.” (S. 214) Dies liest sich fast als Komplement zu Leibniz:
„Das was die alten Ordnungssysteme nicht einordnen konnten, wird zum Fundament einer neuen Ordnungsform.” (S.30)
Es ist aber eine Weiterentwicklung des Verständnisses von Ordnung. Der Störfall ist der Normalfall und jede Störung eine Verschiebung im Ordnungssystem. Verschwommen bleibt bei beiden Sichtweisen die Rolle des Menschen als gestaltender Akteur.
IX
Aber wie geht man damit praktisch um? Staffan Müller-Wille liefert ein Beispiel für eine Lösung in Anwendung. das Bibliotheken wohl vertraut, in Hinblick auf den Ideengeber aber nicht immer bekannt ist: Die Karteikarte als Erfindung Carl von Linnés. Dieser den Umgang mit Ordnung entscheidend flexibilisierende Innovation ging der Zwang zur Korrektur, zur Spezifizierung sowie zur Ergänzung voraus. Müller-Wille beschreibt, wie nicht nur Linné selbst, sondern auch andere Botaniker seine gedruckten Werke annotierten. Andere schickten ihm Anmerkungen, die er wiederum in seine Exemplare nachtrug, die zugleich als Vorbereitung der Folgeauflagen dienten:
„Der so in Gang gesetzte Akkumulationsmechanismus erklärt auch, warum Linnés Annotationen in eigenen Büchern im Laufe seines Lebens nicht etwa abnahmen – wie man unter der Voraussetzung annehmen könnte, dass es Linné darum ging, ein abgeschlossenes »Werk« zu produzieren – sondern geradezu explosiv zunahmen.” (S. 44)
In diesem Fall zeigt sich Wissenschaft beziehungsweise Erkenntnisproduktion als Rückkopplungssystem, das Verschiebungen im Ordnungssystem permanent aufnimmt und verarbeitet. Die Kommunikation läuft im Kreis: Eine Erkenntnis wird zur Diskussion gestellt, diskutiert und die Ergebnisse der Diskussion werden als Annotation oder Modifikation der Ursprungseinsicht beigegeben. Die Irritation der Ordnung wird zur Regel, die man erwarten kann, auch wenn die konkrete Form unvorhersehbar ist. Die Leute wissen, dass etwas passieren wird. Und sie lernen, damit umzugehen. Heute spräche man womöglich von einer Wissenschaft 2.0. Das Verständnis von Wissen als temporären Prozess (wie explizit sie auch bei Linné gewesen sein mag) ist aber viel älter. Wissen ließ sich vermutlich nie abschließend in einer fixen Schablone, die ein festes Ordnungssystem darstellt, fassen. Für Linné wurde dies aber zu einem gravierenden Problem in seiner Erkenntnisarbeit. Er konnte die wachsende Komplexität der botanischen Erkenntnisse und die daraus hervorgehenden Störfälle
In diesem Fall zeigt sich Wissenschaft beziehungsweise Erkenntnisproduktion als Rückkopplungssystem, das Verschiebungen im Ordnungssystem permanent aufnimmt und verarbeitet. Die Kommunikation läuft im Kreis: Eine Erkenntnis wird zur Diskussion gestellt, diskutiert und die Ergebnisse der Diskussion werden als Annotation oder Modifikation der Ursprungseinsicht beigegeben. Die Irritation der Ordnung wird zur Regel, die man erwarten kann, auch wenn die konkrete Form unvorhersehbar ist. Die Leute wissen, dass etwas passieren wird. Und sie lernen, damit umzugehen. Heute spräche man womöglich von einer Wissenschaft 2.0. Das Verständnis von Wissen als temporären Prozess (wie explizit sie auch bei Linné gewesen sein mag) ist aber viel älter. Wissen ließ sich vermutlich nie abschließend in einer fixen Schablone, die ein festes Ordnungssystem darstellt, fassen. Für Linné wurde dies aber zu einem gravierenden Problem in seiner Erkenntnisarbeit. Er konnte die wachsende Komplexität der botanischen Erkenntnisse und die daraus hervorgehenden Störfälle
„nur im Rahmen eines Ordnungssystems bewältigen […], das offen und flexibel genug war, um die gelegentlich und in völlig unsystematischer Folge eintreffenden Informationen zu einer Gattung aufzufangen und Zug um Zug in einem Gesamtbild zusammenzuführen.” (S.50)
Er benötigte eine Technologie und eine Methode, die diesem Prozess gerecht werden. Daher erfand er die Karteikarte. Erst mit dieser ließen sich der erratische Informationseingang und die entsprechende Relationierung wunschgemäß umsetzen. Der Störfall wurde gezähmt. Fail again. But handle it better.
Ben Kaden, M.A. hat Bibliothekswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim DFG geförderten Projekt "IUWIS. Infrastruktur Urheberrecht für Wissenschaft und Bildung".