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Zensur und Bibliotheken – historische Reminiszenz oder Dauerthema?

Zu klären ist zunächst, was unter Zensur zu verstehen ist. Ferner geht es um die Frage, ob Zensur in den westlichen Demokratien als überwundenes historisches Phänomen gelten kann oder in unterschiedlicher Gestalt auch gegenwärtig und zukünftig die Grundrechte auf Informations- und Meinungsfreiheit zu gefährden droht. Wenn, wie zu zeigen ist, Zensur eine allgegenwärtige Gefährdung darstellt, erhebt sich die Frage, wie Bibliotheken dazu beitragen können, erkennbare Ansätze zur Einschränkung der Informationsfreiheit zurückzudrängen und damit das Streben nach Zensurfreiheit nachhaltig zu unterstützen. Schließlich soll die mögliche Rolle des bibliothekarischen Berufsstandes im öffentlichen Diskurs um Zensurfreiheit und die Bewahrung der Informationsfreiheit beleuchtet werden.


Zitiervorschlag
Hermann Rösch, "Zensur und Bibliotheken – historische Reminiszenz oder Dauerthema?. ". LIBREAS. Library Ideas, 19 ().


1. Zensur: Begriff und Aktualität

Zwar können im Rahmen dieser knappen essayistischen Annäherung definitorische Fragen nur eine untergeordnete Rolle spielen, dennoch ist es unausweichlich, kurz auf das Begriffsverständnis einzugehen. In Allgemein- und Fachlexika wird Zensur zumeist beschrieben als politische Kontrolle öffentlich geäußerter Meinungen (vgl. Schubert/Klein 2006, S. 333) oder etwas weiter gefasst als „Überprüfung und Unterdrückung der freien Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild durch staatliche Behörden” (Zensur 2003, S. 1076). Auch das ältere „Sachwörterbuch der Politik” definiert Zensur als staatliche Kontrolle „mit dem Ziel, politische unerwünschte öffentliche Meinungsäußerungen zu verhindern” (Beck 1986, S. 1084). [Fn 01]

Wollte man es bei einer schlichten Normenüberprüfung belassen, könnte man das Thema in Deutschland mit Blick auf das Grundgesetz zügig abhandeln. In Art. 5, Abs. 1 GG heißt es unmissverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt.” Allerdings werden schon im nachfolgenden Absatz 2 Einschränkungen gemacht: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.” Bei Lichte betrachtet stellt sich heraus, dass Artikel 5, Abs. 1 GG eine Vorzensur definitiv ausschließt, Nachzensur jedoch in bestimmten Fällen (Strafrecht, Jugendschutz, persönliche Ehre) durchaus vorsieht. Jugendschutz und Schutz vor ehrverletzenden Äußerungen sind zweifellos Anliegen, die eine Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung vertretbar erscheinen lassen. Konfliktpotenzial liegt jedoch in der Frage, wann der Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre verletzt sind. [Fn 02]

Darüber hinaus wäre es selbstverständlich naiv zu glauben, allein durch die geltenden Rechtsvorschriften sei garantiert, dass es in der politischen und gesellschaftlichen Praxis nicht dennoch zu Verfehlungen und Rechtsbrüchen kommen könne. In ihrem Wertbezug ist die politische und gesellschaftliche Praxis tatsächlich höchst labil. Im Kampf um politische Macht, um ökonomische Macht oder um persönliche Vorteile treten ethische Orientierungen und rechtliche Vorschriften nicht selten in den Hintergrund. Es ist Aufgabe auch und gerade der Öffentlichkeit, entsprechende Rechtsverletzungen aufzudecken, zu thematisieren und damit dafür zu sorgen, dass der Rechtszustand durch die Organe der Rechtspflege wiederhergestellt wird. Zensur ist also keineswegs ein Thema der Vergangenheit sondern bleibt auch in Deutschland als ständige Bedrohung höchst aktuell.

2. Auftrag der Bibliotheken: Informationelle Grundversorgung durch Einsatz für Zensurfreiheit und das Recht auf Informationsfreiheit

In Art. 5, Abs. 1 GG werden neben der Zensurfreiheit auch das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Informationsfreiheit als Grundrechte formuliert. Dabei kann Informationsfreiheit als Recht, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten” als Voraussetzung für die Meinungsfreiheit angesehen werden. Dieses Recht auf Informationsfreiheit, das auch in Art. 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte explizit formuliert ist, [Fn 03] bringt die Bibliotheken ins Spiel. Mit ihren Informationsangeboten leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur informationellen Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger. Voraussetzung dafür ist, dass Bestände und Dienstleistungen frei von Zensur sind und das gesamte Meinungsspektrum repräsentieren. Die politische Teilnahme der Bürger an aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und Entscheidungen wird durch die Nutzung bibliothekarischer Angebote erleichtert. Darüber hinaus lässt sich dadurch die informationelle Asymmetrie zwischen Regierung und Regierten verkleinern, im Idealfall beseitigen. Erst unter diesen Bedingungen ist wirksame demokratische Kontrolle möglich. Die Bibliothek kann diese Funktionen aber nur erfüllen, wenn sie für ihre Nutzer zu einem informationellen Schutzraum wird, der unabhängig von Vermarktungszwängen und weltanschaulichen Einseitigkeiten ist. Die Bürger müssen zudem sicher sein, dass sie sich in der Bibliothek unkontrolliert und unbeeinflusst über Gegenstände ihrer Wahl in gedruckten und digitalen Medien sowie im Internet informieren können.

Zensurfreiheit in Bibliotheken hat also viele Facetten. Auch nutzerorientierte Öffnungszeiten, die Verpflichtung zur Geheimhaltung der Benutzer- und personenbezogenen Benutzungsdaten, das Streben nach kostenloser Benutzbarkeit oder, falls unausweichlich, sozial verträglichen Benutzungsgebühren haben Auswirkungen darauf, ob die Bibliotheken ihren fundamentalen Auftrag erfüllen und dazu beitragen, das Recht auf Informationsfreiheit zu verwirklichen. Diese Aspekte dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden. Sie sind daher in vielen nationalen bibliothekarischen Berufsethiken explizit angesprochen (Professional Codes 2010).

2.1 Bestandsaufbau und Informationsfreiheit

Unmittelbarer noch sind Zensur beziehungsweise das Recht auf Informationsfreiheit selbstverständlich beim Bestandsaufbau und dem Zugang zu Internetressourcen tangiert. Solange Bibliotheken in vordemokratischen Strukturen agierten, dienten sie als Herrschaftsinstrument. Zugang erhielten in der Regel nur Nutzer, die den Machthabern genehm waren. Seit der Erfindung des Buchdrucks und vor allem seit der allmählichen Öffnung der Bibliotheken für breite Schichten der Bevölkerung im 19. und 20. Jahrhundert nutzten diktatorische Regime besonders das Mittel der Zensur, um die Verbreitung unerwünschter Meinungen und Ideen zu unterbinden.

Auch heute existiert offene Zensur via Verbot einer Publikation oder eines Angebots in totalitären Staaten wie China oder Saudi-Arabien. Grundsätzlich müssen Bibliothekare und Bibliotheken beim klassischen Bestandsaufbau beachten, dass für diesen weder staatliche Vorgaben noch persönliche Vorlieben ausschlaggebend sind. Leitidee muss es sein, möglichst das gesamte Spektrum an Ideen und Vorstellungen zu repräsentieren. Nur so kann die Idee einer möglichst neutralen, politisch, weltanschaulich, religiös oder ökonomisch unabhängigen Bibliothek in die Praxis umgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist ferner, dass Bestandsaufbau von Bibliothekaren professionell betrieben wird und nicht etwa ausgelagert wird an Buchhandlungen oder andere Library Supplier, die eindeutig ökonomische Interessen verfolgen. Auch die in jüngster Zeit so wohlwollend diskutierte „User Driven Acquisition” ist unter ethischen Gesichtspunkten höchst problematisch. Selbst wenn diese Form dem Zeitgeist voll entsprechen mag: Sie bietet hohes Missbrauchspotenzial und garantiert keineswegs die erforderliche Professionalität, die für einen der weltanschaulichen Neutralität verpflichteten, ausgewogenen Bestandsaufbau zwingend ist. Unverzichtbar bleibt, dass die Bibliothekare selbst sich ihres ethischen Auftrages im Hinblick auf Zensurfreiheit und Informationsfreiheit bewusst bleiben beziehungsweise werden und entsprechend handeln.

Dass es auch im Alltag deutscher Bibliotheken der Gegenwart Zensurbestrebungen gibt, mag folgender Fall illustrieren, der sich Ende 2010 zugetragen hat (vgl. dazu Rösch 2011a): [Fn 04]

In einer süddeutschen Kleinstadt hatte die Bibliotheksleiterin Medien zum Thema Atomkraft im Eingangsbereich zusammengestellt und eine entsprechende Literaturliste mit Umschlagfaksimiles über die Website der Bibliothek bereitgestellt. Anlass war eine Vortragsveranstaltung zum Thema „Risiken der Atomenergie” in der Stadt. Zu den präsentierten Medien gehörten unter anderem:

  1. Energie! Entdecke, was die Welt bewegt. Hrsg. RWE-Energie AG Essen. Hamburg 2008. (Jugendsachbuch)
  2. Die Kernfrage: Insider berichten über ihre Erfahrungen mit der Kernenergie. München 2009
  3. Gerd Rosenkranz: Mythen der Atomkraft. Wie uns die Energielobby hinters Licht führt. Hrsg. Heinrich-Böll-Stiftung. München 2010.

Der Bürgermeister warf der Bibliothekarin „Meinungsmache” vor, weil die Titel, die sich kritisch zur Atomenergie äußern, deutlich in der Überzahl waren. Er verlangte per Dienstanweisung, Medien für und solche gegen Atomenergie in gleicher Anzahl zu präsentieren. Sollte dies nicht binnen dreier Wochen erfolgt sein, müssten alle Titel aus dem Bestand entfernt werden. Da sich diese Parität auf dem Sachbuchmarkt nicht herstellen ließ, musste die Dienstanweisung befolgt werden. Der Hinweis, die Auswahl spiegele den Buchmarkt und damit den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs, wurde nicht akzeptiert. Im geschilderten Fall hat sich der Bürgermeister, der hier stellvertretend für eine politische Interessengruppe steht, durchgesetzt und den Grundwert der Informationsfreiheit gezielt verletzt. Aus berufsethischer Sicht handelt es sich eindeutig um ein politisch motiviertes Zensurbegehren.

In den USA kommt es auf Druck meist religiöser Interessengruppen immer wieder dazu, dass lokale Behörden die Entfernung vermeintlich gefährdender Publikationen aus dem Bestand der Public Library erzwingen. Entsprechende Streitfälle, die tatsächlich zur Entfernung der jeweiligen Werke aus einem lokalen Bibliotheksbestand geführt haben, werden von der American Library Association (ALA) beziehungsweise ihrem Office for Intellectual Freedom gesammelt und jährlich im Rahmen einer landesweiten Kampagne, der „Banned Books Week”, publik gemacht. Im Jahr 2009 handelte es um 460 verschiedene Titel. Zu den „Top Ten” gehörten damals so „bedenkliche” Werke wie „Der Fänger im Roggen” von J.D. Salinger, „Wer die Nachtigall stört” von Harper Lee oder „Twilight” von Stephenie Meyer (Doyle 2010, S. 124f.).

2.2 Filtersoftware und Informationsfreiheit

Neben dem Bestandsaufbau ist der über Bibliotheken gebotene Zugang zu Internetressourcen besonders anfällig für offene oder verdeckte Zensurbestrebungen (vgl. zum folgenden Rösch 2011a). In vielen deutschen Bibliotheken wird Filtersoftware eingesetzt, um damit einerseits dem Jugendschutz Genüge zu tun und andererseits grundsätzlich Konflikte vorbeugend auszuschließen. Oft erfahren die Nutzer nicht einmal, dass ein Filter eingesetzt wird. Sie erhalten zudem selten eine Information darüber, mit welchen Verfahren gefiltert wird, wer darüber aufgrund welcher Kriterien im Einzelnen entscheidet oder wer im Falle von Beschwerden als Ansprechpartner zur Verfügung steht.

So setzte die Öffentliche Bibliothek eines Berliner Stadtteils im Frühjahr 2011 eine Filtersoftware auf allen frei zugänglichen Rechnern ein. Dies führte dazu, dass auch die Seiten von Bild.de geblockt wurden. Daraufhin erschien dort ein Artikel, der diese Praxis empört kommentierte und als „Zensur wie in China” bewertete (Riedel 2011), da die Filter auch an den Rechnern eingesetzt wurden, die nur Erwachsenen zugänglich sind. Der zuständige Administrator hat eine Änderung dem Artikel zufolge mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um eine Software aus dem Ausland und eine einzelne Adresse frei zu schalten, sei zu aufwändig. Den Einsatz von Filtersoftware begründet die Bibliotheksleiterin in einer Email an den Verfasser unter Berufung auf § 6,2 der Benutzungsbedingungen der Öffentlichen Bibliotheken Berlins. Dort heißt es: „Medien rassistischen, pornografischen, Gewalt verherrlichenden oder nationalsozialistischen Inhalts dürfen nicht in die Bibliothek mitgebracht, entsprechende Inhalte nicht über elektronische Medien aufgerufen werden.” (Benutzungsbedingungen 2009) Aus diesem Wortlaut, aber auch aus dem für § 6 gewählten Titel „Verhalten in Bibliotheken” lässt sich jedoch eindeutig schließen, dass es hier um Verhaltensmaßregeln für die Benutzer und nicht um Anweisungen zur Einschränkung des freien Zugangs zu Informationen seitens der Bibliotheken handelt. Als zweites Argument wurde angeführt, der Filter diene vor allem dem Jugendschutz. Da jedoch nicht sichergestellt werden könne, dass Kinder oder Jugendliche die Computer im Erwachsenenbereich benutzten, werde der Filter auf allen öffentlichen Internetrechnern der Bibliothek eingesetzt. Eine solche Argumentation mag aus pragmatischen Gründen zunächst nachvollziehbar erscheinen. Unter ethischen Gesichtspunkten ist sie eindeutig abzulehnen. Die Informationsfreiheit der erwachsenen Bibliotheksbenutzer wird eindeutig eingeschränkt, gegen den Grundsatz der Informationsfreiheit damit verstoßen.

Zum Einsatz von Filtersoftware in Bibliotheken (vgl. Simanowski 2009) haben sich bislang in Deutschland offenbar noch keine gründlich reflektierten Standards ausgebildet. Manche Bibliotheken setzen „Whitelists” ein, legen also von vornherein die Websites fest, die von Benutzern angesteuert werden können. Andere vertrauen auf „Blacklists” und Stoppwörter. In diesen Fällen werden Kriterien definiert, auf deren Grundlage bestimmte Dokumente nicht zur Nutzung zugelassen werden. Meist werden diese Kriterien von den Softwareanbietern vorab festgelegt. Als Standardeinstellung für zu blockierende Seiten kann zum Beispiel gewählt werden „Drogen”, „Gewalt”, „Glücksspiel”, „nicht jugendfreie Inhalte” oder „Waffen”. Die Details und das konkrete Vorgehen sind dann produktspezifisch geregelt. Zwar können Bibliotheken mit gewissem Aufwand lokale Modifikationen vornehmen, doch bleiben die Standardeinstellungen meist dominierend. Damit delegieren Bibliotheken die Filterentscheidung an kommerzielle Unternehmen beziehungsweise an Personen, die im Umgang mit Informationsfreiheit definitiv weniger geschult sind als bibliothekarische Informationsspezialisten. Die ALA hat zudem Bedenken gegen den Einsatz von Filtersoftware, weil diese ineffektiv ist. Die Fehlerrate beträgt nach jüngsten Untersuchungen im Schnitt bei Textdokumenten 17% und bei Bildern 54% (Houghton-Jan 2010, S. 27). Es werden also Dokumente nicht zugänglich gemacht, die eigentlich unverdächtig sind und umgekehrt passieren solche den Filter, die aufgrund der Kriterien geblockt werden müssten.

3. Bibliothekarinnen und Bibliothekare als Anwälte der Informationsfreiheit und Zensurfreiheit

Bibliotheken können ihrem Auftrag in demokratischen Gesellschaften nur gerecht werden, wenn sie frei von Zensur operieren können und damit zur Realisierung des Grundrechtes auf Informationsfreiheit beitragen. Diese Grundwerte gehören daher zweifellos zum beruflichen Selbstverständnis bibliothekarischer Informationsspezialisten. Die American Library Association betreibt seit 1967 ihr „Office for Intellectual Freedom”, dessen Aufgabe darin besteht „to educate librarians and the general public about the nature and importance of intellectual freedom in libraries” (Office for Intellectual Freedom 2011). Zu diesem Zweck werden Symposien veranstaltet, Lehrmaterialien publiziert (Intellectual Freedom Manual 2010) oder Fortbildungsveranstaltungen angeboten zum Beispiel zu Themen wie „collection diversity and self-censorship in libraries” oder „intellectual freedom and school libraries”. Weitere Aktivitäten bestehen in der jährlichen Organisation der bereits erwähnten „Banned Books Week” und seit kurzem auch der „Choose Privacy Week”. Für diese groß angelegte Kampagne zum Datenschutz wird mit dem Slogan geworben: „Join ALA‘s Office for Intellectual Freedom as we rally Americans to choose privacy. Protect your freedom to read, search, and learn in a digital age. Choose privacy now.” (Privacy Revolution 2011). Zu aktuellen Themen und Ereignissen im Kontext von Zensur und Informationsfreiheit wie dem PATRIOT Act oder der Affäre um die Wikileaks Ende 2010/Anfang 2011 hat die ALA beziehungsweise das Office for Intellectual Freedom jeweils klare Bewertungen publiziert. In der amerikanischen Öffentlichkeit werden Bibliothekarinnen und Bibliothekare auch deshalb eindeutig wahrgenommen als Anwälte der Informationsfreiheit und der Zensurfreiheit.

Natürlich hat es die ALA mit ihren 65.000 Mitgliedern und einem traditionell bibliotheksfreundlichen gesellschaftlichen Klima leichter, sich in die entsprechenden gesellschaftlichen Diskurse einzubringen, als die deutlich kleineren und zudem zersplitterten bibliothekarischen Berufs- und Interessenverbände in Deutschland, die darüber hinaus mit einem vergleichsweise geringen Ansehen des Berufsstandes konfrontiert sind. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare hierzulande gemeinsam und deutlich stärker als bisher in der Öffentlichkeit für Informationsfreiheit und Freiheit von Zensur eintreten. Das öffentliche Ansehen des Berufsstandes würde sicher steigen, wenn es ihm gelänge, als prinzipieller Gegner von Zensur, als Verteidiger informationeller Grundrechte, als Garant für Datenschutz und Vertraulichkeit und als Anbieter weltanschaulich möglichst neutraler, professioneller und qualitätsorientierter Informationsdienstleistungen wahrgenommen zu werden. Dafür aber wäre es notwendig, sich mit den entsprechenden Themen und Ereignissen intensiver als bisher auseinanderzusetzen und offizielle Stellungnahmen etwa zum Zugangserschwerungsgesetz, zum Umgang mit kommerziellen sozialen Netzwerken wie Facebook oder zur WikiLeaks-Kontroverse abzugeben.

Mit den „Ethischen Grundsätzen” (Ethische Grundsätze 2007) hat der BID 2007 einen wichtigen Impuls gegeben, um das berufsethische Bewusstsein in Deutschland zu schärfen. Trotz manch berechtigter Kritik ist der Effekt der Grundsätze eindeutig: Seit 2007 wird in der deutschen bibliothekarischen Öffentlichkeit intensiver über ethischer Grundwerte diskutiert als jemals zuvor (vgl. Rösch 2011b). Aufgabe der kürzlich von der BID eingerichteten Arbeitsgruppe „Bibliothek und Ethik” sollte es sein, die innerbibliothekarische Wertediskussion zu intensivieren und dazu beizutragen, dass Bibliothekarinnen und Bibliothekare auch in Deutschland grundsätzlich wahrgenommen werden als aktive und verlässliche Verteidiger von Informationsfreiheit und Zensurfreiheit.


Fußnoten

[01] Einige Autoren sprechen auch dann von Zensur, wenn andere als staatliche Instanzen die Informations- und Meinungsfreiheit einschränken: „…the intervention by a third party between the free exchange of a willing sender and a willing receiver of information.” (Peng Hwa Ang 2010, S. 882f.) [zurück]

[02] Jüngstes Beispiel bietet das „Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen” („Zugangserschwerungsgesetz” bzw. ZugErschwG), das 2009 verabschiedet wurde, aber wegen „handwerklicher Fehler” auf Anweisung des Bundesinnenministeriums nicht angewendet wird. Das Gesetz hat zum Ziel, den Zugang zu kinderpornographischen Darstellungen im Internet zu erschweren. Die dafür vorgesehen Infrastruktur ließe sich jedoch ohne weiteres für Zensurmaßnahmen missbrauchen: Das Bundeskriminalamt sollte demnach eine Liste zu filternder Seiten zusammenstellen und beständig weiterentwickeln. Diese Liste sollte an inländische Provider mit der Auflage übermittelt werden, die genannten Seiten unverzüglich zu sperren. Die vom BKA erstellte Sperrliste sollte nicht öffentlich einsehbar sein und wäre der demokratischen Kontrolle entzogen. Im Frühjahr 2011 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des zwar geltenden, aber nicht angewendeten Zugangserschwerungsgesetzes initiiert (Bundesregierung 2011). [zurück]

[03] Dort heißt es: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.” (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948). [zurück]

[04] Die Angaben bleiben auf Wunsch der Betroffenen anonym, der Verfasser verbürgt sich für deren Richtigkeit. [zurück]


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Hermann Rösch Studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Germanistik. Nach Staatsexamen und Promotion 1982-1984 Bibliotheksreferendar. 1984-1997 Wissenschaftlicher Bibliothekar in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seit 1997 Professor am Institut für Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Informationsdienstleistungen, Informationsmittel, Informationsethik, Bibliothekssoziologie und Bibliotheksgeschichte. Seit 2007 deutscher Vertreter im IFLA-Komitee „Freedom of Access to Information und Freedom of Expression” (FAIFE).