- Einleitung
- Grundlagen des Projekts
- Befragung in Deutschland
- Resonanz in Deutschland
- Ergebnisse in Deutschland
- Internationaler Vergleich – Analyse in Großbritannien
- Zusammenfassung
Einleitung
Im Rahmen des berufsbegleitenden Masterstudiengangs Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der FH Köln führten wir eine ein Projekt, das sich mit der Berufsethik im Bibliothekswesen beschäftigte, durch. Der folgende Beitrag geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltung Berufsethik – Randerscheinung oder Grundlage bibliothekarischer Praxis? des 100. Deutschen Bibliothekartages 2011 in Berlin. Ein ausführlicher Projektbericht ist in dem Band MALIS-Praxisprojekte 2011 – Projektberichte aus dem berufsbegleitenden Masterstudiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Fachhochschule Köln der Reihe B.I.T. online – innovativ im Verlag Dinges & Frick erschienen und ist als elektronisches Dokument einschließlich des Fragebogens zur Datenerhebung auf der auf der Webpräsenz der Fachhochschule Köln abrufbar.
Grundlagen des Projekts
Vieles ist mir so selbstverständlich, dass ich mich mit solchen Leitlinien nie beschäftigt habe., lautet eine Äußerung eines Bibliotheksmitarbeiters, der im Rahmen des Studienprojekts befragt wurde. Diese legt bereits nahe, dass es eine Verbindung zwischen den Leitgedanken ethischen Handelns und dem bibliothekarischen Alltag gibt. Doch welcher Art sind diese Bezüge? Wie werden diese umgesetzt und welche Bedeutung hat das Thema in der bibliothekarischen Praxis?
Im Mittelpunkt des Projekts stand eine Untersuchung der berufspraktischen Umsetzung, die sich aus der Veröffentlichung des Kodex Ethik und Information – ethische Grundsätze der Bibliotheks- und Informationsberufe der BID im Jahre 2007 ergeben hat. Das Dokument diente als Referenzrahmen einer Umfrage unter deutschen Bibliotheken. Von besonderem Interesse war dabei der Aspekt, welche Einschätzungen Kolleginnen und Kollegen in der beruflichen Praxis mit den Grundsätzen verbinden und wie diese inhaltlich bewertet werden.
Berufsethik als solche beschränkt sich nicht auf den nationalen Raum. In der Vorbereitung des Projekts war zunächst auch das Ziel formuliert worden, einen internationalen Vergleich anzustellen, um die Situation der Anwendung berufsethischer Grundsätze in Großbritannien zu untersuchen. Dies sollte anhand eines einheitlichen Fragebogens für deutsche und britische Bibliotheken geschehen. Bei der inhaltlichen Vorbereitung wurde allerdings deutlich, dass dies aufgrund der Unterschiedlichkeit der Kodizes nicht durchführbar sein würde, so dass die Befragung auf deutsche Bibliotheken beschränkt und für Großbritannien ein anderer methodischer Ansatz gewählt wurde.
Befragung in Deutschland
Der inhaltlichen Gestaltung des schriftlichen Fragebogens für die deutschen Bibliotheken lagen zwei Aspekte zugrunde: Eine enge Orientierung an den Inhalten der BID- und CILIP-Kodizes und eine übersichtliche Gestaltung in Form und Umfang.
Der Fragebogen bestand aus zehn Fragen zu verschiedenen Schwerpunkten und gliederte sich in vier Abschnitte:
- Berufsethische Grundsätze
- Ethik und Information – ethische Grundsätze der Bibliotheks- und Informationsberufe, hier auch: Umsetzung in der eigenen Bibliothek
- CILIP-Kodex
- Aufgaben der BID
Es handelte sich dabei zum einen um Fragen zur Bewertung der Bedeutung einzelner Grundsätze, zum Beispiel der Gleichbehandlung von Nutzern und zum anderen um offene Fragen mit der Bitte um Kommentare und Einschätzungen einzelner Aspekte.
Es war im Rahmen des Projekts nicht möglich, eine umfassende Studie für die deutsche Bibliothekslandschaft umzusetzen. Insofern sind die Ergebnisse nicht repräsentativ, sie ergeben jedoch ein prägnantes Stimmungsbild.
Die schriftliche Befragung wurde in einem Befragungszeitraum von sechs Wochen von Ende Juni bis Ende August 2010 durchgeführt und richtete sich an die jeweilige Leitungsebene der insgesamt 17 Bibliotheken aller Typen. In fünf von acht Fällen erfolgte die Beantwortung unmittelbar durch die Bibliotheksleitung, in weiteren drei Fällen wurde diese Aufgabe delegiert. Bei den befragten Bibliotheken handelte es sich um fünf Öffentliche Bibliotheken, drei Hochschulbibliotheken, zwei Landes- und Hochschulbibliotheken, die Deutsche Nationalbibliothek, drei Spezialbibliotheken, eine Staatsbibliothek, eine Zentrale Fachbibliothek sowie eine Fachstelle.
Resonanz in Deutschland
Acht der 17 befragten Bibliotheken beantworteten den Fragebogen. Dies entspricht einer Rückmeldequote von 47%. Angesichts des von vornherein begrenzten Ansatzes unserer Befragung haben wir darauf verzichtet, die Rückmeldungen nach Bibliothekstypen zu gliedern.
Parallel zu dem Rücklauf der Antworten wurde die Fragestellung untersucht, inwieweit die veröffentlichten Leitbilder der Bibliotheken einen Bezug zu den Ethischen Grundsätzen herstellen. Überraschenderweise war dies überhaupt nicht der Fall, in keinem von sieben über das Internet zugänglichen Dokumenten wurde das BID-Papier erwähnt. Die Leitbilder lassen daher bestenfalls indirekt eine Schlussfolgerung auf den Stellenwert ethischer Fragen für die Bibliotheksarbeit generell zu.
Ergebnisse in Deutschland
Die Auswertung der Antworten zeigte eine Bekanntheit des BID-Papiers bei annähernd zwei Drittel der Bibliotheken. Zusätzlich zu den Einschätzungen einzelner Grundsätze ergaben sich interessante Kommentare zu einzelnen Aspekten, die in dieser Form in dem BID-Papier nicht enthalten sind. So wurde in einem Fall das Schlagwort Chancengerechtigkeit als Aspekt bibliothekarischer Ethik angeführt. In der Frage der Umsetzung berufsethischer Grundsätze in der eigenen Bibliothek wurde mehrfach die Existenz lokaler Arbeitsgruppen und Handlungsleitfäden als Basis für die praktische Arbeit genannt. Hier bieten sich ein konkreter Ansatzpunkt und die Chance des Erfahrungsaustausches zwischen interessierten Kolleginnen und Kollegen. Bislang fehlen jenseits des unmittelbaren Kodex´ der BID weiterführende Materialien und erläuternde Hinweise. Die Befragung wies ein hohes Interesse zu diesem Punkt, 88% der Bibliotheken befürworten einen Leitfaden mit Praxisbeispielen, der von dem bibliothekarischen Dachverband BID herausgegeben beziehungsweise erarbeitet werden sollte.
Nur eine der antwortenden Bibliotheken gab Kenntnis internationaler Kodizes an, ohne diese jedoch näher zu spezifizieren. Dies ist als Hinweis darauf zu sehen, dass internationale Erfahrungen anderer Verbände in Deutschland wenig bekannt sind Dabei bietet eine solche internationale Perspektive interessante Aspekte für die Bereicherung der Debatte in Deutschland. Der CILIP-Kodex befasst sich etwa auch mit dem Umgang bei Verstößen gegen ethische Grundsätze. In dem Kodex ist der Grundsatz enthalten, derartige Verstöße den zuständigen Einrichtungen zu melden, ein Vorgang, der mit dem Begriff whistle blowing umschrieben wird. Eine solche zuständige Einrichtung könnte CILIP sein, öffentliche Stellen oder zuständige Kollegen in der Bibliothek. Eine genaue Vorgabe wird hier nicht gemacht. Fünf der befragten Bibliotheken sprachen sich ausdrücklich gegen eine solche Praxis in Deutschland aus. Kommentare waren zum Beispiel Anzeigen auf höherer Ebene kämen für mich nicht in Frage und Das erscheint mir überprotektiv und nicht wünschenswert.
Internationaler Vergleich – Analyse in Großbritannien
In Großbritannien hat der Berufsverband CILIP bereits im Jahre 2004 einen ethischen Kodex erstellt, der aus zwei Dokumenten besteht, dem eigentlichen Code of Professional Practice und den Ethical Principles. Während diese Ethical Principles 12 recht kurz und allgemein formulierte Prinzipien enthalten, ist der Code of Professional Practice ausführlicher. Daraus wurde im Rahmen des Projekts das Ziel abgeleitet, zu untersuchen, ob der Berufskodex in Großbritannien in der Praxis tatsächlich einen größeren Stellenwert einnimmt als dies in Deutschland der Fall zu sein scheint.
Da sich die ethischen Kodizes von BID und CILIP im Aufbau und teilweise auch im Inhalt zu sehr unterscheiden, hätte die Erstellung eines eigenen Fragebogens für Großbritannien keinen direkten Vergleich ermöglicht. Für die Analyse in Großbritannien wurde daher innerhalb dieses Projektes ein anderer methodischer Ansatz gewählt.
Bei der Analyse der sehr umfangreichen Informationen auf der CILIP Webseite zum Thema Professional Ethics war vor allem die der Information Ethics Blogs aufschlussreich. Damit verbunden war die Hypothese, dass die darin enthaltenen Fallstudien Beispiele für die praktische Umsetzung des ethischen Kodex in Informationseinrichtungen in Großbritannien liefern und nähere Informationen dazu geben würden, welche Problemstellungen vor allem diskutiert werden. Der Zugriff auf den Information Ethics Blog mit 50 im Jahr 2008 hinzugefügten und nicht mehr aktualisierten fiktiven Fallstudien ist jedoch nur CILIP- Mitglieder vorbehalten.
Allerdings bietet die frei zugängliche Webseite Infoethics ebenfalls eine Sammlung von Fallstudien. Diese 42 Studien, die zwischen 2005 und 2007 aufgenommen wurden, sind dieselben wie im Information Ethics Blog, jedoch detaillierter erschlossen. Bedauerlicherweise wird diese hervorragende Ressource nicht aktualisiert und der freie Zugriff auf ein äußerst hilfreiches Instrument von CILIP nicht beworben.
Es stellt sich die Frage, welchen Stellenwert das Thema Ethik in der Bibliothekswelt und die praktische Umsetzung des Berufskodex in Großbritannien tatsächlich einnehmen. Die CILIP-Webseite zu dieser Thematik scheint vernachlässigt zu werden, wie unter anderem auch die Pflege der Ressourcenliste zeigt.
Um der Frage nach der Bedeutung des Berufskodexes in Großbritannien weiter nachzugehen, wurde ein Interview mit dem Experten Paul Sturges, langjähriger Vorsitzender von FAIFE und seit vielen Jahre sehr aktiv, in verschiedenen Ländern Berufsethik zu propagieren.
Sturges stellte im Interview die These auf, dass gerade in Ländern, in denen ein ethisches Bewusstsein im Beruf vorhanden sei und zu denen er sowohl Deutschland als auch Großbritannien zählt, die verfügbaren Kodizes in der Praxis nicht unbedingt häufig konsultiert würden. Bei konkreten Problemfällen würde ohnehin versucht, ethische Grundsätze, die in den Köpfen der Bibliothekare verankert seien, zu berücksichtigen. Dies bedeute aber nicht, dass man in diesen Fällen an den jeweiligen Kodex denken und versuchen würde, diesen zur Hilfe zu ziehen. Laut Sturges ist der Kodex in Großbritannien nicht präzise genug, um wirklich Hilfestellung geben zu können. Dennoch hält er die Existenz und Verbreitung solcher Kodizes durchaus für sinnvoll:
Yes, it is worth having the codes. Yes, they should be promoted whenever possible. [ ] , because librarians in Britain and Germany are quite well-oriented ethically they are maybe a bit too confident in themselves and forget the codes.
Anfragen bei CILIP an den Director of Policy and Advocacy und Secretary des Ethics Panels sowie an den Governance Manager für weitere Expertenaussagen blieben leider unbeantwortet.
Die verschiedenen Antworten der Befragungen in Deutschland und Großbritannien bestätigen, dass zwar in beiden Ländern bibliothekarische Berufskodizes und deren Inhalte für sehr wichtig angesehen werden, dass in der Praxis jedoch kaum ein direkter Bezug zu den Texten der Kodizes bei Problemstellungen und Herausforderungen bibliothekarischer Arbeit hergestellt wird.
Bibliothekare wünschen sich vor allem verständlich und klar formulierte sowie nachvollziehbare Grundsätze. Darüber hinaus besteht der Wunsch nach Hilfsinstrumenten, mit denen die Grundsätze konkret auf bestimmte Problemfälle im beruflichen Alltag bezogen werden können.
Zusammenfassung
Zwar scheint die Relevanz der ethischen Kodizes in der beruflichen Praxis auf den ersten Blick sehr gering und ein direkter Bezug zu den Texten der Kodizes bei Problemstellungen und Herausforderungen bibliothekarischer Arbeit nicht hergestellt zu werden, dennoch ist klar, dass die in den Papieren festgehaltenen Inhalte und Themenfelder in der individuellen Einschätzung von großer Bedeutung sind. Die Beantwortung der gestellten Fragen zeigt, dass sich die Bibliotheken vor allem verständlich und klar formulierte sowie nachvollziehbare Grundsätze für das Handeln in der eigenen Institution wünschen.
Den ausgewählten sieben Grundsätzen aus dem BID-Papier wird überwiegend sehr hohe Wichtigkeit zugeschrieben. Allerdings erscheint es zweifelhaft, daraus eine Schlussfolgerung im Hinblick auf die Zufriedenheit der Bibliotheken mit den Inhalten des BID-Papiers zu ziehen. Sind die Grundsätze womöglich so allgemein formuliert, dass hier die Bewertung sehr wichtig in den meisten Fällen nahe liegend erscheint? Zur Frage der Umsetzung berufsethischer Grundsätze in der eigenen Bibliothek wäre es rückblickend notwendig gewesen, eine weiterführende Frage an die Bibliotheken anzuschließen, um konkrete Informationen über die Motivation der Institutionen zu erhalten, wie diese Richtlinien und Strukturen beschaffen sind, welches die Gründe für oder wider die Einführung der selbigen waren und wie sich die Anwendung vollzieht.
Hilfsinstrumente, mit denen die Grundsätze konkret auf bestimmte Problemfälle im beruflichen Alltag bezogen werden können, wären durchaus wünschenswert. Sieben von acht Bibliotheken hätten gern einen von der BID erstellten Leitfaden mit Praxisbeispielen, was die Autoren unterstüzen.
Die Antworten auf den Fragebogen haben wichtige Informationen zur Beantwortung der Frage geliefert, wie die praktische Anwendung der ethischen Grundsatzpapiere in den Bibliotheken aussieht. Allerdings bleibt festzuhalten, dass bei dieser Methodik der formalen und inhaltlichen Anlehnung rein an den Text der Kodizes nicht ermittelt werden konnte, wie die praktische Anwendung in konkreten (Problem-)Fällen aussieht. In dem Projekt sollte jedoch bewusst zunächst eine eher formale Analyse des Bekanntheitsgrades und der direkten praktischen Umsetzung der Berufskodizes durchgeführt werden.
Literatur
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Jens Boyer ist Leiter des Fachbereichs Information und Bibliothek des Goethe-Instituts in München.
Iris Reiß-Golumbeck ist Diplom-Bibliothekarin und lebt in England.