- Teil 1: Das Bewahren und seine Grenzen
- Zwei Frauen
- Ein-/Aus-/Musterungen
- Das Lesbare, das Erzählbare
- Das Narrativ
- Zukünfte
- Schließungen, Zugänge
- Teil 2: Bibliothekstopologische Überlegungen
Die nachfolgenden Notizen stellen den ersten und zweiten Teil einer Serie mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bibliothekswissenschaft dar. Ziel dieser Reihe ist eine Präzisierung des Konzepts der Bibliothekswissenschaft. Den Rahmen bildet die Frage, wie sich die Institution Bibliothek in digitalen Kontexten, also als digitale Bibliothek, definieren kann. Ich vertrete die Annahme – und dies ist zugleich die Hypothese für alle Überlegungen dieser Reihe – dass es im Zuge der Digitalisierung zu einer Art „semiotic turn” kommt, also mit dem Verschwinden materieller Medienformen die semiotische Dimension in den Mittelpunkt rückt. Die Bibliothekswissenschaft ist, so meine Leitthese, in einem digitalen Umfeld nur als semiotische Disziplin denkbar.
Im ersten Teil skizziere ich das Bewahren und Vermitteln von Narrativen als Grundkonstante der Bibliothek und verankere die Bibliothek als elementaren kulturellen Funktionsträger. Des Weiteren entwerfe ich in Anlehnung an eine Idee der Soziologin Elena Esposito eine daraus ableitbare mögliche Rolle der Bibliothekswissenschaft als einer Art spezifische Narratologie. Im Mittelpunkt steht die Frage, aufgrund welcher Kriterien Narrative in das Archiv Bibliothek ein- und ausgeschlossen werden.
Im zweiten Teil überlege ich, wie sich die Rolle des Raumes der Bibliothek, also der Bibliothek als Container, betrachten lässt und in welcher besonderen Wechselbeziehung er zu den beiden anderen C-Faktoren – Content und Community – steht. Meine These lautet hierbei, dass eine bibliothekswissenschaftliche Betrachtung des realen und digitalen Bibliotheksraumes immer auch mit der gegenseitigen Bedingtheit dieser drei Gesichtspunkte auseinandersetzen muss.
Die Überlegungen sind als Problematisierung intendiert. Der Prozess der Auseinandersetzung mit den genannten Thesen ist prinzipiell offen. Daher ist Rückkopplung höchst willkommen.
„Und Schreiben heißt, auf eine bestimmte Weise die Welt (das Buch) zerspalten und wieder zusammensetzen.” (Barthes, 1967, S. 88)
Teil 1: Das Bewahren und seine Grenzen
Das Manuskript, die Reise
„[…] sogar als ich das Riesenschiff nahm um in die USA zu fahren war das gewiß nicht um in die USA zu fahren sondern um in die Bibliothek zu fahren und also um nach Hause zu fahren in dies Heim ohne festen Wohnsitz wo die Anhänger der Verbannung in ihrer Unbestechlichkeit aufgenommen werden, die Idee der Verbannung wird dort anerkannt ohne daß Kapital daraus geschlagen würde, weder berufsmäßige Verbannung gibt es, noch Bereicherung, nur ein Dach aus Segeltuch über der Lagerstätte.” (Cixous, 2010, S.77f.)
Mitte der 1960er Jahre. Eine junge, wenn man so will und den Begriff nicht scheut, Intellektuelle[Fn 01] reist ganz klassisch und literaturnah mit einem Passagierschiff über den Atlantik. Ein Walter Faber könnte über das Deck schlendern, aber der ist in die andere Richtung und ein paar Jahre früher unterwegs. Ein Karl Rossmann ist da näher, aber längst mit verlorenem Koffer auf dem Weg nach Oklahoma verschollen. Das Ziel der jungen Frau sind dann auch nicht etwa die Vereinigten Staaten als Land der unbegrenzten Entfaltungschancen oder als Möglichkeit eines persönlichen Exils. Obschon letzteres im Sinne einer Flucht als Motiv lesbar ist, geht es ihr nicht um die USA. Sie fährt in die Bibliotheken der USA. Erst dieser Raum, die Lesesäle in New York oder Yale, sind der tatsächliche Fluchtpunkt ihrer Bewegung.[Fn 02] Dort findet sie den eigentlichen Gegenstand ihres Begehrens, ihres Heimatgefühls, das wiederum um drei Odysseen zirkuliert: Homer, Shakespeare und natürlich Joyces „Ulysses”[Fn 03], die mit den USA oberflächlich nichts anderes als die Tatsache verbindet, dass man ihnen dort Obdach gewährt:
„Ich ging voll Leidenschaft und Ehrerbietung diese Manuskripte konsultieren, leuchtende Überreste von Werken die in meinen Augen heilig waren und die Europa und seine Schulen nicht gewollt hatten während die gefräßigen amerikanischen Bibliotheken diese Reliquien ganz offensichtlich doch gewollt hatten die also durch glücklichen Zufall auf der anderen Seite der Verbannung aufgenommen und bewahrt waren […]” (Cixous, 2010, S. 76)
Die Bibliothek wird zur Zufluchtszone des in Europa Geschmähten,[Fn 04] das, wie es scheint, nicht vollständig, sondern nur als Überrest, in jedem Fall mit einer Bedeutungsverschiebung, mehr als wertvolles Sammelgut denn seiner kulturgeschichtlichen Spuren wegen fernab des ursprünglichen Bezugsraumes aufbewahrt wird.
Zwei Frauen
In wenigstens einem Punkt treffen sich der Kern der Reise der Protagonistin Hélène Cixous' mit dem der Autobiografie Azar Nafisis[Fn 05] über ihre Zeit als Professorin für englische Sprache in der iranischen Hauptstadt. Das Geschriebene wird zur Zuflucht, zum Asyl. Jedoch unterscheidet sich die Form der schützenden Nische: Cixous benötigt die Bibliothek als Schlupfwinkel, für Nafisi ist sie fast ohne Belang. Das Wort Bibliothek findet sich in Nafisis Buch kaum ein Dutzend Mal und nie als Ort des Lesens. Für Cixous entfaltet sich in diesem Motiv ein zentraler Topos.[Fn 06] Das Lesen findet bei Nafisi ausdrücklich nicht in der Bibliothek als öffentlichem Ort, sondern in privaten Räumen statt. Dort eröffnet an Donnerstagmorgenden amerikanische Literatur den Frauen im Wohnzimmer Nafisis einen Erkenntnisraum und bildet zugleich einen Gegenpol zu einer männlich dominierten Identitätspolitik. Bei Cixous ist es die intellektuelle Französin, die sich in den Bibliotheken der USA in nicht-amerikanische Literatur flüchtet und in eine unglaubliche, tatsächlich und buchstäblich kafkaeske Affäre mit der Literatur eintritt, die durch einen Gregor (!) und nicht etwa Karl verkörpert wird[Fn 07] und eigentlich Franz meint. Sie verfällt einem Amerikaner, der sie als Kafka umfängt und so mit einem Idealbild täuscht, das sich selbstverständlich nicht auf Dauer erhalten lässt und in der Nachsicht grundlegend die Frage nach der Identität eines Narrativs[Fn 08] aufwirft. Dabei begegnen wir in beiden Fällen dezidiert feministischen Perspektiven auf das Lesen: einmal in Gemeinschaft und zur Loslösung von der dominanten Männlichkeit, das andere Mal in Vereinzelung direkt auf eine Anbindung hinzulaufend. Das eine Mal wird das Narrativ einer Gesellschaft hinterfragt, das andere Mal das des Einzelnen.
Ein-/Aus-/Musterungen
Das Lesen bzw. die Schrift wirkt je nach Anwendung als Binde- oder Lösungsmittel. Sie wirkt, ist also prägend, lenkend und damit mit dem Phänomen der Macht verbunden. Marco Roth bemerkte in seiner Betrachtung zu „Reading Lolita in Tehran”[Fn 09],: „Nafisi erinnert uns daran, dass Regierungen wie Autoren sind; sie stülpen der Gesellschaft eine Narration über.” (Roth, 2008, S. 54)
Während die Regierungen versuchen, einer Gesellschaft mit mehr oder weniger Erfolg und Nachdrücklichkeit Erzählungen einzuschreiben[Fn 10], sind die Bibliotheken traditionell der Ort, an der diese (und auch andere) Erzählungen gesammelt, erschlossen und für den Zugriff vorgehalten werden. Die Bibliothek ist aus ihrer Geschichte heraus also auf einer Ebene ein durchweg politischer Ort, in jedem Fall ein Symbol, das für einen bestimmten Gesellschaftsentwurf steht.[Fn 11] Dies schließt zweifellos auch die Funktion der Bibliotheken als Ort der Selbstaufklärung mit ein. Die Lenkung des Diskurses muss nicht zwangsläufig auf der Ebene konkreter Botschaften oder Texte erfolgen, sondern ist prinzipiell in der Entscheidung, wie und für wen eine Bibliothek nutzbar ist, enthalten.
Das exklusive Bibliotheksbild Europas, wie es bei Cixous' Manhattan-Projekt hindurch schimmert, findet seine Übersteigerung in den Sammlungen deutlich zensurwilligerer Gesellschaftssysteme wie vielleicht dem iranischen sowie ihr Gegenbild in freihändigen, inklusiven Vorstellungen, die traditionell der amerikanischen Traditionslinie nachgesagt werden. Es stehen hier zwei Dimensionen des Zugangs im Zentrum der Betrachtung: der des Zugangs der Texte in die Bibliotheken und der des Lesers zu den Quellen in den Bibliotheken. Das Erstere geht naturgemäß dem Zweiten voraus. Beide Facetten und ihre Koordination bilden das Herzstück der bibliothekarischen Arbeit, deren Ausdruck in der grundsätzlichen Frage liegt: Was wird für wen zugänglich bewahrt? Oder noch allgemeiner: Was wird bewahrt, was wird vermittelt, was wird dem Verlorengehen anheimgegeben?[Fn 12]
Und als Zugabe: Was sträubt sich wie gegen dieses Ausgegrenzt-sein? Inwiefern ist das Bewahren nur eine andere Form des Verlustes? Das Verlorene, welches nicht in die Bibliothek gelangt, welches abgeschieden ist, bleibt in gewisser Weise im Geheimnis.[Fn 13] Jedes Geheimnis, das nicht in ein Archiv oder eine Bibliothek gelangt, bleibt verborgen und vergeht mit seinen Trägern. Gelangt es dagegen in eine Bibliothek, geht es in einen definierten Zustand des Bewahrt-seins über.
Das Lesbare, das Erzählbare
Wie lässt sich dieser Zustand beschreiben? Was geschieht in einer Bibliothek mit dem Geheimnis?
„Man wird die Bibliothek im allgemeinen als jenen Ort definieren, der dazu bestimmt ist, das Geheimnis zu wahren/aufzubewahren (garder le secret), aber als sich verlierendes. Ein Geheimnis verlieren, das kann sowohl bedeuten, es zu enthüllen, es publik zu machen, unter die Leute zu bringen, als auch, es derart tief in der Krypta eines Gedächtnisses zu bewahren, daß man es vergißt oder sogar aufhört, es zu verstehen und Zugang zu ihm zu haben. In diesem Sinne ist ein gewahrtes/aufbewahrtes Geheimnis stets ein verlorenes Geheimnis.”[Fn 14]
Enthüllung oder Verhüllung, Publikum oder Krypta – diese Gegensätzlichkeit am selben Ort steht als eine Art Leitklammer über meinen Überlegungen, auch wenn wir, vielleicht unter dem Verlust der Poesie, die immer eng verwandt mit dem Geheimnis (dem Abgeschiedenen, dem Nicht-Bewussten, dem nur teilweise Erkennbaren) auftritt, das Geheimnis streichen und das Erzählte daraus machen: Also das Narrativ. Ich gehe von der These aus, dass unsere Wahrnehmung durch Narrative (die zweifelsohne ihren Ursprung im Mythischen/Mythos haben) vor-, durch- und nachstrukturiert wird. Dies geschieht in einer Anknüpfung an den Begriff der Fiktion bei Elena Esposito. (Esposito, 2007) Esposito analysiert in ihrem Essay zur „Fiktion der wahrscheinlichen Realität” den fiktionalen Charakter unter anderem ökonomischer Modelle und sieht diese wie auch die Wahrscheinlichkeitstheorie als Konstrukte, die weder wahr noch falsch sind, sondern Möglichkeitsformen von Realität formulieren, die im Zusammenwirken die reale Realität nach gewissen Kriterien spiegeln, dieser aber nicht entsprechen. Besonders deutlich wird dies in der literarischen Fiction:
„Fiction wird […] zum Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert, die Normalität einer nicht mehr eindeutig festgelegten und bestimmbaren Form.” (Esposito, 2007, S. 18)
Ich teile sowohl Espositos Sicht zur Rolle der Fiktion wie auch die Diagnose der Herausforderung des Menschen durch die Kontingenz und seine Schwierigkeiten im Umgang mit dem Nicht-Wissen. Für meine Betrachtungen, die perspektivisch zu einem semiotischen Entwurf der Bibliothekswissenschaft führen sollen, möchte ich den Begriff der Fiktion jedoch ein wenig erweitern. Jede Form Sinnkonstruktion ist dabei zugleich eine Fiktionalisierung, die freilich nicht beliebig sein kann, sondern sich kohärent zu anderen Fiktionalisierungen inklusive der Fiktion der Fiktion verhalten muss.[Fn 15] Fiktionen erscheinen dabei als – aufgrund bestimmter Kriterien abgetrennter – Beobachtungsbereiche. Obschon in ihnen alles in seiner Entwicklung einen anderen Verlauf nehmen kann, muss der Verlauf im Vollzug stimmig interpretierbar sein. Sinnkonstruktion und Ereignisse verhalten sich dabei – sofern es von menschlichem Verhalten geprägte Ereignisse handelt – immer in Wechselwirkung: Der Beobachter beeinflusst die Wahrnehmung des Beobachteten (die Beobachtung) und zugleich verändert sich seine Wahrnehmungsfähigkeit. Sind sich die beobachteten Akteure der Beobachtung bewusst, verändern auch sie ihr Handeln und damit den Gesamtverlauf. Die Beobachtung ist dabei ein interpretierendes (Sinn-erzeugendes Handeln). Es geht ihr – wie auch in einem Roman – nicht um wahr oder falsch, sondern darum, dass das, was beobachtet wird, stimmig erscheint. Sie muss wahrscheinlich sein. Zusätzlich beschäftigt sich die Interpretation wenigstens bei postmodernen Ansätzen zur Sinnerzeugung betont mit den Aporien und Idiosynkrasien. Die Unstimmigkeit wird nicht ausgeblendet, sondern mit dem Ziel betont, eine Stimmigkeit höherer Ordnung zu entwickeln.[Fn 16]
Das Narrativ
Zur Beschreibung dieser multiplen fiktiven Realitäten, die sich als Gesellschaftsentwürfe oder Wirtschaftssysteme in Institutionen manifestieren und in gewisser Weise genauso real realit werden wie sie als individuelle Biographien den tatsächlichen (auch körperlichen) Lebensvollzug eines Menschen mit interpretatorisch und selbst-reflexiv gewonnen Selbstbildern koppeln, greife ich auf den Ausdruck des Narrativs zurück. Die Auswahl ist in einem gewissem Rahmen ebenfalls kontingent: Espositos Fiction bzw. die Fiktion wie – in Anlehnung an Gérard Genette – récit oder solche Phänomene wie Richard Dawkins Mem oder auch Michel Foucaults Episteme hätten als Ausgangspunkt herangezogen werden können.[Fn 17]
Der Ausdruck Narrativ erscheint mir deswegen zutreffender, weil er den Werk- wie Textcharakter einer entsprechenden Sinndarstellung adressiert und somit den Bezugsobjekten von Bibliotheken gerecht wird, weil er erzählerische und interpretatorische (= Sinn konstruierende) Prozesse enthält und zugleich eine Abgrenzung zur nicht-erzählten, nicht-entworfenen Form des tatsächlichen Ereignisses[Fn 18] ermöglicht. Letzteres wird freilich durch Narrative verzeichnet und vermittelt. Die Beziehung von Ereignis und Narrativ entspricht für mich der Beziehung zwischen der Wahrnehmung und ihrer Interpretation.[Fn 19] Unter Narrativ verstehe ich also ein abgrenzbares und bestimmbares Sinnkonstrukt, das auf den permanenten Prozess der Kultur einwirkt. Narrative liegen sowohl explizit in Gestalt von Repräsentationen (Text[Fn 20]) wie auch implizit in die Kultur eingeschrieben vor.
Es geht um unsere Erklärungsmuster, die, auch wenn sie eine algebraische Logik aufweisen, im Kern Erzählungen sind, aus denen wir Sinn gewinnen. Nach der zitierten Derrida'ischen Feststellung zur Bibliothek stellt sich nun weniger die Frage nach dem „Was es ist”, sondern „Wie es ist”. Dabei gilt allgemein: Es ist, was wir sind. Die Bibliothek fasst mit ihren Beständen unsere Kultur. Sezieren wir das, wofür das Konzept der Bibliothek steht, legen wir einen zentralen Teil dessen frei, woraus wir unsere Identität konstruieren: Was bewahren wir, was verwerfen wir? Was halten wir für lesbar? Von uns? Und mit welchen Auswirkungen?
Zukünfte
Espositos Essay zur Prognostizierbarkeit von Zukunft wirft eine für diese Frage maßgebliche Differenzierung auf: Sie unterscheidet den Zeitpunkt der Perspektive auf die Zukunft. (Esposito, 2007, S. 30ff.) Was wir unter Zukunft verstehen, wenn wir für diese Modelle entwickeln, ist eine „zukünftige Gegenwart”. Unsere Position entspricht also der „gegenwärtigen [Sicht auf die] Zukunft.” Analog dazu kann man sich fragen, wie wir uns zukünftig prognostisch verhalten bzw. zu welchen Vorannahmen über die Entwicklung von Kultur wir in der Lage sein werden. Dabei müsste man von einer zukünftigen Zukunft sprechen. Ihr Gegenüber steht unsere Gegenwart, die aus der Rückschau als zukünftige Vergangenheit erscheint. Das ist besonders für die Frage von moralischen Entscheidungen und ihrer Legitimation interessant: Wie wollen wir, dass unser jetziges Handeln zu späterer Zeit beurteilt wird? Für das Bewahren bedeutet dies, zu antizipieren, welche unserer aktuellen Narrativen wir als relevant für zukünftige Generationen ansehen. Eine historische Analyse der Bibliotheken, also die Geschichte der Auswahl, der Ordnung und des Aufhebens von Narrativen bzw. der Zugangsregulierung kann dabei hilfreich sein, eröffnet sie doch den Blick auf vergangene Zukünfte, d.h. auf vergangene Gegenwarten sowie unsere aktuelle Gegenwart. Schließlich lässt sich auch in einer meta-historischen Analyse dieser retrospektive Betrachtungsansatz auffächern, wenn wir nach vergangenen Vergangenheiten fragen. Auf dieser Basis lässt sich anhand der Diskursverläufe einzelner narrativer Einheiten die Entwicklung von Deutungen nachzeichnen, aus denen sich möglicherweise Muster ergeben, die wir nicht vermuten.
Eine diskursanalytische Durchleuchtung der Auswahl, Ordnungen und Überlieferungen von Narrativen bietet dabei einer transdisziplinär orientierten Bibliothekswissenschaft eine Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kontingenz und der Chance auf emergente Erkenntnisse. Auch diese werden uns die Zukunft nicht unbedingt objektiv vorhersagbar machen. Aber sie können unser Verständnis für das, was geschehen ist, vertiefen und damit unser Handlungsbewusstsein schärfen. Das gilt gleichermaßen konkret für das bibliothekarische Handeln wie abstrakter für das wissenschaftliche bzw. jede andere Form des Handelns.
Schließungen, Zugänge
Bibliotheken lassen sich prozessual als ein mehrschichtiges Ein- und Ausschließen verstehen. Es lässt sich für sie (bzw. alle ähnlich ordnenden Institutionen, also auch Archive und Museen) eine dreiteilige, kategorial vorbestimmte (Un-)Zugänglichkeit des in ihnen Bewahrten (des Geheimnisses, der Erzählungen) erkennen[Fn 21]:
- was in den Bestand gelangen kann (welches Narrativ als gültig anerkannt wird),
- nach welcher Ordnung erschlossen und in gewisser Weise wieder aus dem Bestand in eine Rezeption (oder auch: Aktualisierung) gerufen werden kann (Publikum oder Krypta, bzw. nach welchen Kriterien wird es als gültig erhalten bzw. aktualisiert wird), sowie
- wer diese Aktualisierung vornehmen kann (welche Akteure dabei aktiv sind).
Der letzte Punkt sowie die Aspekte der Aussonderung und Umordnung von Beständen und der Umorganisation der Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten ergänzt eine zusätzliche Dimension in der Zeit, wie sie vorgehend beschrieben wurde.
Die Rolle der Bibliothek ist also die einer bewahrenden und damit vermittelnden Institution, die sich über das Phänomen des Narrativs auch als Modell für die Konstitutionsprozesse dessen heranziehen lässt, was wir Kultur nennen.
„To Classify is human” überschreiben Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star die Einleitung ihres eher zufällig hoch bibliothekswissenschaftlichen Buches „Sorting Things Out”. (Bowker und Star, 2000) Wir können der Klassifikation nicht entkommen. Die Frage ist, wie wir sie ausüben. Mir geht es darum, mit der Perspektive auf die Bibliothekswissenschaft als einer besonderen Narratologie greifbar zu machen, was eine für den absehbaren Rahmen der Gegenwart und gegenwärtigen Zukunft Bibliothekswissenschaft auszeichnen kann. Wollen wir dies ergründen und uns nicht darauf verlassen, dass es sich um eine technisch dominierte Funktions- oder Verwaltungswissenschaft handelt, dann haben wir in dem einfachen Gedanken ich ordne,[Fn 22] also bin ich einen außerordentlich komplexen Schlüssel. Die Bibliothekswissenschaft muss grundsätzlich nach den Bedingungen und Folgen der jeweiligen Ordnungen und Ordnungstechnologien für Narrative, die weitgehend selbst narrativ geprägt sind, fragen und dabei versuchen, die Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten, also die Kontingenz abzuschätzen.
Teil 2: Bibliothekstopologische Überlegungen
„Die mit der Fernkommunikation beseitigte Räumlichkeit der 'Topoi' taucht also ausgerechnet im Cyberspace wieder auf, der vermeintlich den Sinn der Entfernung getilgt haben sollte.” – Elena Esposito, 2002, S. 46
I.
Den Anlass zu dieser Betrachtung bot ein Kommentar Oliver Obsts in dessen medinfo-weblog, der als Reaktion auf einen Beitrag[Fn 23] im LIBREAS-Weblog die Betrachtungsdichotomie von Content und Container aufwarf. Ein Container als Ummantelungen verweist für mich naheliegender Weise auf die Frage des Raumes und damit in diesem Zusammenhang auf die Frage einer, wenn man so will, Bibliothekstopologie.
Sprechen wir von einer Bibliothekstopologie, dann beziehen wir uns auf den Raum der Bibliothek und auf dessen Transformation. Die Richtung der Veränderung ist durch einen Prozess der Dematerialisierung (oder auch Immaterialisierung) bestimmt. Der Raum wird virtuell, also zu einem scheinbaren. Die Annäherung (ebenfalls ein Geschehen in einem virtuellen Raum, nämlich in dem des Diskurses) erfolgt jedoch aus ganz unterschiedlichen Winkeln. Oliver Obst argumentiert als Praktiker, der (angenommene und erfragte) Nutzererwartungen in realweltliche Angebote zur Informationsversorgung umwandeln muss. Ich betrachte das Ganze mit einer dispositiv- und diskurstheoretischen Faszination, die ich zufälligen Lektüren wie dieser verdanke:
„Ganz persönlich lässt mir die Existenz von Diskursen keine Ruhe, die da sind, weil gesprochen worden ist; diese Ereignisse haben einst im Rahmen ihrer ursprünglichen Situation funktioniert; sie haben Spuren hinterlassen, bestehen weiter fort und üben durch dieses Fortbestehen innerhalb der Geschichte eine Reihe manifester oder verborgener Funktionen aus.” (Michel Foucault, 2009, S. 35)
So formuliert Michel Foucault im Gespräch mit Raymond Bellour die reizvolle Basis eines Bezugsrahmens, die die Bibliothek irgendwo in einem Beziehungsgewebe aus Dispositiven, Diskursen und Spuren mit den Handlungsweisen Diskursvollzug, Spurensicherung und Spurenlesen verortbar macht. Jedenfalls gehe ich von einem solchen aus.
Lässt sich über die, wenn man so will, Diskursivschreibung des Bibliotheksraums (im Gegensatz zur An- und Ausführungsbezeichnung der „Bibliothek”) eine Apologie der Bibliothek als Raum erreichen? Ist es möglich, auf dieser Grundlage eine Bibliothekstopologie zu entwickeln, die vielleicht als Ergänzungsstück zur Bibliothekslogistik, die natürlich selbst immer auch eine raumordnende Komponente besitzt, verstanden werden kann? Der Unterschied der Positionen liegt weniger in der Sache selbst, als in der Art, sich ihr anzunähern. Zunächst einmal sollten wir also eine möglicherweise wahrgenommene Opposition ausschließen, die sich als Nebenwirkung mit dem klobigen, aber doch passenden Begriff des Containers in den Dialog schlich. Die Anerkennung der Bedeutung des realen Bibliotheksraums meint keinesfalls die Ablehnung des virtuellen. Eher im Gegenteil. Ob physisch oder digital: Beide Raumformen sind Phänomene, zu denen eine neutrale Ausgangsposition nicht der schlechteste Startpunkt ist.
Von dieser sehen wir, dass ein Irrtum in der ab und an anzutreffenden Annahme liegt, dass wir den Raum verlieren, wenn wir digitalisieren. Eines der Zitate, die Oliver Obst in den Dialog setzt, zeigt deutlich, dass dem nicht so ist:
”The definition of the library will change as physical space is repurposed and virtual space expands.” (ACRL Research Planning and Review Committee. 2010 top ten trends in academic libraries: A review of the current literature. Coll Res Library News. 2010;71(6):286-92.)
Die Digitale Bibliothek bedeutet kein Verschwinden des Bibliotheksraumes, sondern führt ihn im Gegenteil zu einer virtuellen Totalität. Zudem semiotisiert sie ihn durch die Entfernung der physischen Merkmale. Der Raum der digitalen Bibliothek ist mehr denn je logotopisch. Nimmt man die Komponente der Zeit in ihren vielschichtigen Bezügen:
- Zeitpunkt der Erzeugung eines Inhalts (Kreation)
- Zeitpunkt der Aufnahme eines Inhalts in den Bestand (Registrierung)
- Zeitpunkte des Abrufs eines Inhalts (Rezeptionen)
- Zeitpunkte der Referenzierung eines Inhalts (Relationierungen)
- Mitunter: Zeitpunkt des Ausscheidens eines Inhalts (Exklusion)
- Zeitliche Abstände zwischen den genannten Zeitpunkten (Chronorelationen)
wird deutlich, dass die Bibliothek idealerweise auch chronotopisch gedacht werden muss. Die Digitale Bibliothek, die über automatisierte und präzise Mechanismen zur Markierung der Zeitpunkte und generell zur Chronographie verfügt, nähert sich dieser Vorstellung – und damit auch der die Freizügigkeit des Zugriffs flankierenden Überwachbarkeit der Nutzungen – weitaus stärker an, als es in analogen Bibliotheksräumen je realisierbar war. Insofern zeigt sich die Spiegelung des genuin literaturwissenschaftlichen Bild des Chronotopos wenigstens dann als interessante Denkfigur, wenn man bedenkt, dass der virtuelle Raum ähnlich dem literarischen über Codes und also Sprachen erzeugt wird. (Natürlich sind wir an dieser Stelle schon etwas weiter von Bachtins ursprünglichem Begriffszuschnitt entfernt.) Der digitale Bibliotheksraum wird also in der Zeit über digital kommunizierte Zeichen abgesteckt, für jedes Nutzungsszenario individuell erzeugt und behält vom Physischen notwendig nur das Sediment der Kammer, in der der Server steht.
Was der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst in seinen Betrachtungen zum „Rumoren der Archive” schreibt, zeigt sich auch für die Transformation des Bibliotheksraumes stimmig: „Die modernen Archive waren die längste Zeit architektonische Makrochips, auf Dauer angelegt und ausdauernd, Monumente der Dokumentation […]” (S. 41). Der Raum der digitalen Bibliothek bricht die Einheit von Speichern und Übertragen, wie sie noch in den Freihandaufstellungen (auch ein Ernst'scher „Makrochip”) zu finden ist; und stellt die Übertragung über den Aspekt des Speicherns dar. Dieser wird aus der Wahrnehmung in ein digitales Magazin verbannt. Die digitale Bibliothek ist in dieser Hinsicht eine vollautomatisierte Magazinbibliothek: Die Bestände sind unsichtbar gelagert, werden aber auf Anfrage abgerufen und nutzbar gemacht. Das raumgestalterische Engagement kann sich ganz auf die Ausgestaltung der Bereiche der Übertragung und Nutzung konzentrieren.
Wir haben es meiner Auffassung nach mit einer Kombination der drei großen C: Community – Container – Content zu tun, die sich in einem vierten C, der Communication bündeln. „Container” entspricht dem Übertragungsmedium. Da eine Übertragung immer räumlich gedacht wird und meines Erachtens auch vorgestellt werden muss, müssen wir den Container „Bibliotheksraum” selbst als Medium betrachten. Die Frage muss also besser lauten: Wie verändert sich das Medium Bibliothek?
Das Verständnis der Bibliothek selbst als medialen Apparat, also als Übertragungsinstanz, wird in digitalen Kontexten augenfällig (obwohl ich davon ausgehe, dass sie immer schon gegeben war): die Bibliothek ist genuin maßgeblicher Bestandteil der Geschichten gewesen, die in ihr verwahrt und durch sie vermittelt werden (ausführlicher dazu Ben Kaden, 2010). Inhalt und Träger müssen also zusammen gedacht werden, was die Frage danach aufwirft, wie eine Veränderung des Trägers für den Inhalt wirkt – bzw. auf den aus diesem Inhalt zu konstruierenden Sinn. Die Verwandlung des strukturell entropischen realweltlichen Bibliotheksraums in einen quasi neg-entropischen digitalen Cyberspace ist nicht folgenlos. Was die Bibliothekswissenschaft leisten muss, ist, diese Folgen in ihrer Qualität zu erschließen und zu beschreiben.
II.
In der Januarausgabe 2011 der Zeitschrift Information Wissenschaft & Praxis weist Rafael Capurro auf die Verschiebung von der Blumenberg'schen Leitmetapher einer „Lesbarkeit der Welt” zu einer, nicht ganz so poetisch klingenden, „Mitteilungskompetenz” bzw. „digitalen Informierbarkeit der Welt” hin. Obschon ich gegenüber der allzu paradiesischen Vorstellung, dass wir mit digitalen Kommunikationsmöglichkeiten zu einer allumfassend literaten Internetgesellschaft werden, skeptisch (oder wenigstens skeptimistisch[Fn 24]) bleibe, akzeptiere ich ohne zu zögern die strukturelle Tatsache einer Verschiebung der Möglichkeiten zur erweiterten öffentlich sichtbaren, genau dokumentierten und adressierbaren Kommunikation. Die prinzipielle Teilhabeschwelle sinkt und zwar auch in dem per se auf Rückkopplung ausgelegten Bereich der Wissenschaftskommunikation. Andererseits ist zu erwarten, dass neue Distinktionsformen aus dieser digitalen Kommunikationsgemeinschaft keine ideale, sondern eine sozial durchrubrizierte machen, die die feinen Unterschiede der physischen Welt reproduziert.
Der soziale Umgang mit Raum vollzieht sich auf der abstraktesten Ebene in einer Wechselwirkung aus Markierung und einem Anerkennen oder Angehen gegen diese Markierung. Man muss diesen Vorgang weder als fortwährenden Kampf noch – wie Michel Serres – als permanente Kontamination verstehen, sondern kann dazu ein mehr spielerisches Verhältnis entwickeln. Mit der Digitalisierung des Raumes entsteht die Möglichkeit, die Perspektive auf den Raum von einer am Konzept des Eigentums orientierten Verfügungsressource in einer performativen Entfaltungssphäre zu lenken. Eine physische Kontrolle des Cyberspace ist so gut wie unmöglich (Es sei denn, man schaltet den Strom ab.) Die Kontrollmöglichkeiten digitaler Räume beschränken sich auf die Überwachung von Codierungen. Das Potential digitaler Subversion liegt im permanenten Umcodieren (z.B. der Adressierungen, die die Grundlage der Mobilität bestimmter Webseiten sind). Andererseits sinkt mit diesen Verschiebungen unter Umständen die Chance auf Wahrnehmung. Das Gegenmittel der Kontrollinstanzen zur digitalen Subversion ist daher nicht die eigentliche Beherrschung des Geschehens, sondern die permanente Marginalisierung. Insofern hat Rafael Capurro mit dem Konzept der „digitalen Informierbarkeit der Welt” durchaus Recht, allerdings hinsichtlich der machtpolitischen Dimension mit einer anderen Konnotation: die richtige Mitteilung im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu platzieren ist eine – vielleicht die einzige innerhalb der webdiskursiven Spielregeln – Möglichkeit der Kontrolle dieses diskursiven Raumes. Denn gerade weil jede Äußerung präsent werden kann, entwickelt sich eine neue Flüchtigkeit, die nicht dazu führt, dass etwas nicht mehr gelesen werden kann, weil es verschwindet, sondern dass etwas verschwindet, weil es nicht mehr gelesen wird. Eine Qualität, die in jeder Überlegung zur digitalen Bibliothek mitschwingt, liegt in den neuen Verknappungen einer Größe, die man grob als „Aufmerksamkeit” bezeichnen kann. So wie die menschliche Physis in ihrer Begrenztheit eine Einmaligkeit bedingt, nämlich die Befindlichkeit an nur einem Ort in nur einem Moment, so wird dieses Phänomen in der kognitiven Präsenz gespiegelt. Die Auffächerung der Anwesenheit gelingt auch unter digitalen Bedingungen nur geringfügig: Wir können dank kommunikativer Erweiterungen, zu denen übrigens auch die Technologie der Erzählung bzw. des Textes zählt, die kognitive Präsenz von der physischen ein Stück weit abspalten. Wir können im Kopf an einem anderen Ort als der Kopf selbst sein.
Digitale Räume adressieren bislang nahezu ausschließlich die kognitive Präsenz und da sie beliebig durchquert werden können, ermöglichen sie Aufmerksamkeitssprünge ohne jede bremsende materielle Trägheit. Wenn es um Konzentration geht, bleiben wir jedoch Monaden: schon allein rein sinnlich erweist sich Multitasking als eine Herausforderung, die bei sehr viel kognitivem Aufwand ziemlich kleine Verschiebungen verspricht. Eine halbwegs zeitgleich auf mehrere Phänomene gerichtete Wahrnehmung ist bestenfalls eine registrierende. Sobald wir anfangen, selbst zu schreiben, müssen wir – und sei es nur für die Dauer einer SMS – das akzeptierte Reizniveau absenken. Das, was gemeinhin als schätzenswerte Eigenschaft physischer Bibliotheksräume genannt wird, ist die räumliche Realisierung genau dieser Absenkung: Sie wirken durch Ausschluss von Sinnesreizen und Handlungsoptionen konzentrierend.
Das zweite Zitat, das Oliver Obst zur Relativierung des Containers ins Spiel bringt, läuft von dieser Warte aus etwas ins Leere (allerdings fehlt mir auch die volle Kenntnis des Ursprungskontexts):
„Muss dieser „ideale” Raum überhaupt etwas mit der Bibliothek/den Bibliothekaren zu tun haben („Stören wir da schon?”). Wenn jeder mit einer Smartcard rein kann, muss das nicht die ”Bibliothek” sein. Auf die folgende Frage wusste keiner wirklich eine Antwort: „Wenn die Auskunft oder die Ausleihe wegfällt oder automatisiert wird, was definiert dann noch diesen Raum als Bibliothek?” In diesen Zusammenhang denkt man an die Extinction Timeline, die für 2020 die Auslöschung bzw. das Unwichtigwerden von Bibliotheken vorsieht und für 2040 diejenige von kostenfreien öffentlichen Orten." (Oliver Obst: 2. Zukunftskolloquium der Zweigbibliothek Medizin der Universität Münster, 28./29. Juni 2010)
Denn die Umweltreiz senkende Eigenschaft des Bibliotheksraums erweist sich als eine passive Dienstleistung, die in der Diskussion zur Rolle der Bibliothek häufig übersehen wird. Hinter dem Zitat scheint jedenfalls eine eher eingegrenzte, funktionale und vielleicht auch verwaltungstechnisch gestaltete Sicht auf die Bibliothek am Werk, die vernachlässigt, dass es eine naheliegende Antwort gibt: Der Aspekt, der einen Raum als Bibliothek definiert, könnte die Klausur sein – die realräumlich angebotene Möglichkeit einer gewissen Harmonisierung von physischer und kognitiver Präsenz. Das mag kein Modell für jeden sein und nicht selten ging man genau dieses Bild aktiv an, da es eine disziplinierende Strenge enthält, die als unzeitgemäß erschien. Wenn man aber die Auslastung des Grimm-Zentrums betrachtet, ist es offensichtlich eine aktuelle Option für viele.
Der Lesesaal einer Bibliothek ist weder Ort des Speicherns noch der Auskunft noch der Ausleihe. Er ist der Ort der Übertragung und in gewisser Weise das physische Gegenstück zum Computer (auch wenn der Computer selbst wieder im Lesesaal stehen kann). Die Rezeption am Rechner erfolgt über den mittlerweile anteilmäßig immer größeren Teil eines Bildschirms, der Freihandregal und Buchseite gleichermaßen abbildet, aber eben selbst bei Touchscreen-Technologien von materiellen Zu-Werten umgeben ist, die die Rezeption dispositiv begleiten. Der Nutzungsbereich einer Bibliothek begleitet die Rezeption ebenso dispositiv. Nur in ganz anderer Weise.
III.
Rafael Capurro bedauert in seinem Interview die Regression der Informationswissenschaft auf eine „Information-Retrieval-Wissenschaft”, die eine Vielzahl von begleitenden Aspekten ausblendet. Er empfiehlt eine Neubestimmung:
„Man könnte sich für diese Neubestimmung auf die 'médiologie' von Régis Debray orientieren, die den Schwerpunkt auf die Materialität der Träger […] sowie die Vermittlungsinstitutionen legt. Ich meine aber auch, dass die Medienwissenschaft und das, was ich 'Angeletik' nenne, also eine empirische Wissenschaft, die sich mit den Boten und Botschaften auseinandersetzt, zum Kern dieser neuen Informationswissenschaft gehört.” (Rafael Capurro, S.41)
Ich würde dies gleichlautend auf die Bibliothekswissenschaft übertragen, die meines Erachtens aus ihrer Anlage heraus näher an konkreten sozialen Phänomenen operiert als die Informationswissenschaft. Die Vermittlungsinstitution in Gestalt der als Medium definierten Bibliothek zeigt sich dabei als ein aktualisierbarer Container, der nicht zwingend über das Submedium Buch bestimmt wird. Das Besondere dieses Containers ist seine Offenheit – sowohl für die Botschaften (den Content) wie auch die Boten (die Community). Insofern ist die Rolle des Containers innerhalb dieses Netzes von Wechselwirkungen nicht schwächer, sondern eher noch höher einzuschätzen. Und schließlich gehören zu den Boten und Botschaften auch die Spuren, die sie hinterlassen, die man mit Serres als das eigentliche Übel lesen kann oder neutraler einfach nur als Grundeigenschaft des Menschen. Die Bibliothek und ihr Raum selbst sind Spur, so wie jede Spur auch Container dessen ist, worauf sie verweist und jeder Bote Container seiner Botschaft.
Die Notwendigkeit, die drei Cs zu trennen, wenn es darum geht, funktionale Entscheidungen zu treffen, leuchtet ein. Aber sie beruht immer auf einer Perspektivität und ist jeweils nur in einem gewissen Kontext gültig. In einem anderen Zusammenhang könnten die Elemente, die hier als Container, Content und Community differenziert werden, problemlos ihre Rollen tauschen. Das führt nicht etwa in eine Beliebigkeit, sondern in eine Bestimmtheit, bei der man die Kategorien nicht mehr als generelle Festlegung, sondern als sich aus den Wechselwirkungen zwischen vier Instanzen ergebend betrachtet. Man kann hier auch von einer sich selbst regulierenden „kybernetischen Semantik” sprechen. (vgl. Elena Esposito, 2002) Es ist ein Blick dazwischen: der des Beobachters auf diese Triade. Sind wir uns dessen bewusst, haben wir weitaus mehr Gestaltungsspielräume, als würden wir alles auf die halb ironischen, halb harten Annahmen einer im Kern eher instabileren Extinction Timeline eines einzelnen Futuristen setzen. Die Dispositiv- und Diskurstheorie lehrt uns jedenfalls, dass die Dinge auch dann fortbestehen, wenn wir sie nicht mehr sehen. Und dass wir irgendwie wahrscheinlich eine Archäologie erfinden, mit der wir sie wieder ausgraben.
Fußnoten
[01] Wobei Cixous mit dem Konzept des Intellektuellen nicht ganz glücklich ist, wie sie u.a. in einem Interview aus den 1990er Jahren explizit äußert: http://www.youtube.com/watch?v=ZKUQWv0irVw, Zähler ca. 01:00-02:00. [zurück]
[02] Und zugleich ihre Ankunft in der „Affäre Gregor”: „1. Ich habe ihn und übrigens ohne ihn zu sehen in der Bibliothek bemerkt, Manuskriptsaal für seltene Manuskripte 2. Er lachte beim Lesen von Milton […]” (Cixous, 2010, S. 83) Welche, für Cixous nicht untypische, Assoziationskette sich hier eröffnet: Manuskripte – Milton – Das verlorene Paradies – im Lesesaal! [zurück]
[03] Und auch hier: Wieder Reisen, Vereinzelung, Irrfahrt - Die unendlichen literaturgeschichtlich durchwobenen Interpretationsansätze des Buches auch in Hinblick auf die Bibliothekswissenschaft wären ein wunderbares Unterfangen, das hier leider nicht gewagt werden kann. Ein weiteres Motiv ist die Relation Jonas-Wal. Vgl. dazu Derrida, Jaques (2003) Genesen, Genealogien, Genres und das Genie. Das Geheimnis des Archivs. Wien: Passagen, S. 20f. [zurück]
[04] Sind es die Reisen, ist es das Unterwegssein selbst, das Verfolgen der Spuren bis zu einem Anfang, das in den Lesenischen der amerikanischen Bibliotheken unterschlüpft, während es das alte Europa verwirft, ausschließt, fortschickt? [zurück]
[05] Nafisi, Azar (2003): Reading Lolita in Tehran. A Memoir in Books. New York: Random House [zurück]
[06] Genau genommen findet sich der Ausdruck ”Bibliothek” etwas mehr als 20-Mal im Text, ist aber als zentraler Gegenstand weitaus präsenter. Aber natürlich sind beide Bücher Literaturen über Literatur. [zurück]
[07] Wobei Karl Rossmann beispielsweise in der Grand Central Station erinnert wird und ausführlich bei einer Reflexion über Amerika und die USA seine Referenzen erhält. [zurück]
[08] Den Begriff, der zu einem zentralen Topos dieses Textes wird, erläutere ich unten ausführlicher. [zurück]
[09] Roth, Marco: Why Reading Only Matters When It's Somewhere Else. In: n+1. Issue No. 1 (July 2004): Negation. [zurück]
[10] Hier liegt selbstverständlich die Assoziation zu Lyotards Konzept der „Großen Erzählungen” nahe. [zurück]
[11] Ich betrachte an dieser Stelle nur Bibliotheken, die in irgendeiner Form der Öffentlichkeit zugänglich sein könnten. Privatbibliotheken und ähnliche Einrichtungen klammere ich in diesem Zusammenhang aus. [zurück]
[12] Die Frage lässt sich zweifellos auch als Abwandlung von Michel Foucaults Interpretation des Archivs als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann” (1973, S. 187) verstehen, wobei es mir im vorliegenden Gedankengang gerade auch darum geht, die Begriffe Archiv und Bibliothek zu separieren. Eine Betrachtung der Institution „Bibliothek” als Sonderform des Archivs (nach Foucault) muss an anderer Stelle ausführlicher erfolgen. [zurück]
[13] Deutlicher wird es beim französischen Secret: das Abgesonderte und damit nicht Geteilte. Vgl. dazu Derrida, (2003), S. 27. [zurück]
[14] vgl. ebd. [zurück]
[15] Zur literarischen Fiktion schreibt Esposito (2007): „Der Roman […] muß eine Welt entwerfen, die der direkt erfahrbaren Welt an Kohärenz entspricht oder diese gar übertrifft.” (S. 19) imaginär betont bei ihr ausdrücklich den Gegensatz zu tatsächlich. [zurück]
[16] Diese Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne deckt sich in gewissem Umfang mit Esposito (2007), wenn diese schreibt: „Anstatt gegen die Unbestimmtheit vorzugehen, die nichts anderes ist als Kontingenz und Komplexität, arbeitet man mit ihr und versucht Anhaltspunkte [für ein angemessenes Handeln] aus ihr abzuleiten.” (S. 64). [zurück]
[17] Gegen Fiktion spricht allerdings, dass sie per se rein imaginär ist („Sie [die Fiktion] konstruiert eine kohärente Welt auf der Grundlage ausdrücklich imaginärer Prämissen.” (Espositio, 2007, S. 55f.), die vorliegende Idee aber gerade das Spiel zwischen Tatsächlichkeit, der sinnerzeugenden Wiedergabe der Wahrnehmung von Tatsächlichkeit und die graduelle Fiktionalisierung von Tatsächlichkeit während der Wiedergabe in den Mittelpunkt stellt. [zurück]
[18] Wobei ein Text, also ein Narrativ wiederum Objekt eines Ereignisses sein. [zurück]
[19] Interessant ist auch die Gegenüberstellung von Dokument und Narrativ. Ein Dokument ist nach meinem Verständnis in diesem Zusammenhang die Spur des Ereignisses ohne eine erzählerische und interpretatorische Aufbereitung. Ob etwas Dokument oder Narrativ ist, ist wiederum abhängig von der Perspektive: artefaktische Dokumente tragen immer auch eine narrative Inschrift (Vorgebung, Markierung, et cetera) wogegen Narrative selbst und mehr noch ihre Repräsentationen als Dokumente betrachtet und verarbeitet werden können. Die Übergänge sind, wie so oft, verwischt. [zurück]
[20] Ich verstehe Text weit gefasst als alles, was semiotisch strukturiert ist, also auf Zeichen, ihre Bedeutung und einer Verwendungsintention basiert und damit mit bestimmten Bedeutungen und Intentionen aufgeladen kommunizierbar ist. [zurück]
[21] Für Fiktionen findet sich eine Ähnliche Aufarbeitung bei Derrida: „Es sind praktische Fragen, zweifellos, praktisch im zunächst einmal technischen Sinne des Wortes (Klassifikation, Datierung, Kategorisierung, Erfassung in einer Kartei, interne Begrenzungen des Korpus), aber auch praktische Fragen im ethischen und deontologischen Sinne des Wortes (Was darf an zurecht als literarische Fiktion oder als nicht-literarisches Dokument klassifizieren? Wer autorisiert wen, in einem öffentlichen literarischen Werk etwas Geheimes oder etwas Nicht-Geheimes zu enthüllen? Wer autorisiert wen und erlaubt sich was, um die Bekanntmachung einer bestimmten identifizierbaren Filiation in der Genese des Werks zu gestatten […]” (Derrida, 2003, S. 63) Für die hier vorgenommene Betrachtung ist besonders der Aspekt der Autorisierung hinsichtlich der Bestandsauswahl, -ordnung und -vermittlung relevant. Die genannten technischen Aspekte lassen sich ohnehin auch in Hinblick auf die Funktionsweise der Bibliothek spiegeln. [zurück]
[22] klassifiziere, kategorisiere = unterscheide. [zurück]
[23] http://libreas.wordpress.com/2011/02/10/731/ [zurück]
[24] http://www.wordspy.com/words/skeptimistic.asp [zurück]
Literatur
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Obst, Oliver: ”Bibliothek” wird zunehmend in Anführungszeichen gesetzt. In: medinfo Weblog, 04.02.2011, http://medinfo.netbib.de/archives/2011/02/04/3869
Roth, Marco: Why Reading Only Matters When It's Somewhere Else. In: n+1. 1/2004: Negation.
Roth, Marco: Warum Literatur etwas bedeutet, wenn sie woanders stattfindet. In: Ein Schritt weiter. Die n+1-Anthologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 47-59. 2008.
Serres, Michel: Das eigentliche Übel. Berlin: Merve, 2009
Ben Kaden Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt IUWIS am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft und Mitherausgeber von LIBREAS.Library Ideas