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Wissen als Geistiges Eigentum

Geistiges Eigentum ist durch eine bemerkenswerte Charakteristik gekennzeichnet. Es kann nur durch die Zurverfügungstellung und allgemeine Veröffentlichung erreicht werden. Historisch betrachtet konnte man immaterielle Eigentumsrechte nicht erwerben, wenn man keinen Verleger fand. Erst in den letzten Jahren wurde es sehr einfach, durch die Veröffentlichung unseres Wissens im Internet, zu geistigem Eigentum zu gelangen. Die Ursache für diese Eigenschaft geistigen Eigentums ist die Informationstheorie, in der Informationen in beliebiger Menge zu Redundanz kopiert werden kann. An dieser Stelle spielen die Verlage noch immer eine wichtige Rolle, durch ihre Anzeige ausgewählter Immaterialgüterrechte von Autoren oder Interessengruppen.
Abstract (english): Intellectual property is characterized by a remarkable attribute. It has to be made available for the world by publication. In earlier times one couldn’t achieve intangible property rights if there was no publisher available. Only in recent years it became very easy to get intellectual properties by publishing our knowledge in the Internet. The cause for such a strange fact is the information theory, in which information can be copied to redundancy in any quantity. A growing problem is the amount of publications in which the identification of individual contributions is more and more difficult. At this point, the publishing industry plays till now an important role by advertising inellectual properties of selectetd authors or special interest groups.


Zitiervorschlag
Walter Umstätter, "Wissen als Geistiges Eigentum. ". LIBREAS. Library Ideas, 18 ().


Einleitung

Geistiges Eigentum bzw. Immaterialgüterrecht entsteht unter Bedingungen die man sich meist nicht bewusst macht. So kann ein Wissenschaftler beispielsweise sein geistiges Eigentum an einer Erkenntnis die er hat nur reklamieren, wenn er dieses Wissen publiziert und damit der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Das gilt sowohl für den urheberrechtlichen als auch für den Patentschutz. Verglichen mit Grundbesitz beispielsweise würde das bedeuten, dass ein Eigentümer sein Grundstück nur sein Eigen nennen darf, wenn er jedem der es wünscht Zugang dazu gewährt.

Bei materiellen Gütern hätte das bekanntlich verheerende Folgen, wenn sie gleichzeitig allen Menschen verfügbar gemacht werden müssten. Da aber Wissen als begründete Information bzw. evidence based information (Umstätter, 2009) in fast beliebiger Menge reduplizierbar ist, also in Form von Redundanz für jeden Menschen nutzbar gemacht werden kann, ist die beliebige Verfügbarkeit heute kein Problem mehr. Schon das gedruckte Buch hatte diese Erzeugung von Redundanz gegenüber den früheren Kopisten revolutionär vereinfacht. Aber erst das Internet ermöglicht es uns heute ad hoc in wenigen Sekunden weltweit je nach Wunsch Redundanz zu erzeugen. Damit zeigt sich auch hier, dass die oft wiederholte Behauptung, Information bzw. Wissen seien eine Ware wie jede andere, auf Dauer nicht aufrecht erhalten werden kann.

Der Warencharakter von Information und Wissen

Auch wenn aus juristischen und wirtschaftlichen Gründen heute unzählige Informationen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verknappt werden, um durch den alten Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage Information und Wissen zu einer Ware herkömmlicher Art zu machen, werden diese zunehmend anachronistischen Versuche bei den heutigen Kopiermöglichkeiten auf Dauer keine sozialpolitische Relevanz behalten können. Das hat nicht nur zur Folge, dass bei jedem Kopiervorgang immer häufiger von geistigem Diebstahl gesprochen wird, und dass eine immer größere Zahl von Menschen sich bewusst oder unbewusst kriminalisiert, so dass auch das allgemeine Rechtsempfinden der Bürger in eine immer größere Krise gerät, es hat auch zur Folge, dass das Immaterialgüterrecht weltweite Kritik findet. Im Prinzip ist jeder Bibliotheksbesuch, bei dem wir etwas lesen oder uns etwas ansehen, immer auch ein Kopiervorgang. Insofern macht das Copyright deutlicher als das Urheberrecht erkennbar, dass es ein Redundanzrecht, also ein Recht zur Bildung von Redundanz ist. Bücher enthalten nach der Informationstheorie für einen Leser Information, auch wenn sie selbst eigentlich nur die Redundanz eines Manuskripts sind. Insofern verbreiten Verlage Redundanz, und sie übernehmen immer häufiger dieselben Nachrichten (Brauck & Hülsen, 2009). Es ist das Wechselspiel von Information und Redundanz, dass die Informationstheorie (genauer gesagt, die Theorie der Kommunikation) in ihrer Eigengesetzlichkeit bestimmt.

Selbstverständlich muss die Produktion von Information und Wissen bezahlt werden. Die Frage ist nur von wem und wann. Sicher ist, dass sich Wissenschaft nicht aus ihren Publikationen heraus finanziert. Im Gegenteil, in erster Näherung kann man davon ausgehen, dass Bücher mit hohen Auflagen geeignet sein müssen von vielen verstanden zu werden. Und das sind selten anspruchsvolle Dissertationen, um nur ein Beispiel zu nennen. Von einer vergleichsweise kleinen Zahl belletristischer Autoren abgesehen, werden Autoren aus etlichen Quellen alimentiert, aber nicht aus ihren Publikationen heraus. Es ist also eher irreführend, wenn im Publikationsmarkt versucht wird den Eindruck zu erwecken, dass der Verkauf von Büchern Zeitschriften etc. dazu dient, den Produzenten der Ware Information eine Existenz zu sichern. Der größte Teil dessen, was täglich in Rundfunk, Fernsehen oder Tageszeitungen erscheint, dient heute dazu Aufmerksamkeit zu gewinnen, um Reklame zu transportieren. Dabei werden Nachrichten millionenfach redupliziert und somit verstärkt, aber nur sehr geringe Mengen an geistigem Eigentum erzeugt. Massenmedien sind eindeutig Redundanzerzeuger, die weitaus weniger durch ihr geistiges Eigentum wirksam werden, als durch ihre Vervielfältigung zur Erhöhung der sogenannten Reichweite bzw. Einschaltquoten.

Geistiger Diebstahl

Aus der Erkenntnis, dass geistiges Eigentum nur erworben werden kann, wenn es publiziert wird, entsteht ein weiteres Problem, das sehr ernst genommen werden muss. Denn es sind nicht nur Einzelfälle der Wissenschaftsgeschichte, in denen jemand eine Entdeckung oder eine Theorie publizieren wollte, deren Veröffentlichung aber beim Peer Review auf Ablehnung stieß, und für die dann jemand anderes das Immaterialgüterrecht erhielt. In Einzelfällen war das bekanntermaßen geistiger Diebstahl, aber oft ist es auch nur die Verweigerung geistiger Eigentumsrechte der Reviewer. Dass dabei so manches Wissen nicht oder zu spät publiziert wurde, und dass es für Autoren oft schwierig ist nachzuweisen, dass der Schöpfungsakt weit vor der Publikation lag, ist hinlänglich bekannt. Es sei hier nur an den Prioritätsstreit zwischen Newton und Leibniz bezüglich der Infinitesimalrechnung erinnert.

Erst die Verschriftlichung des Wortes ermöglicht, geistiges Eigentum zu schaffen. Darum gehen wir zwar davon aus, dass die Kenntnis, dass a² + b² = c² ist, schon sehr viel länger bekannt war, aber bis heute Pythagoras zugesprochen wird, weil der Satz des Pythagoras seit der Zeit der alten Griechen schriftlich fixiert worden war. Auch wenn also die juristische Vorstellung vom geistigen Eigentum sehr viel später entstand, erfolgte die Zuordnung von Wissen gegenüber den jeweiligen Urhebern schon seit der Verschriftlichung des Wortes. Wobei die Bibliotheken bis heute eine wichtige Rolle bei der allgemeinen Verfügbarkeit geistigen Eigentums spielen.

Man muss sich fragen, warum Wissenschaftler überhaupt daran interessiert sind ein solches Immaterialgüterrecht zu erwerben. Wobei die Antwort zunächst sehr einfach ist: Sie streben nach der damit verbundenen Reputation, und was noch handfester ist, sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit Forschungsgelder zu erhalten, denn Wissenschaft wird zwar nicht aus den Publikationen bezahlt, aber der Zusammenhang zwischen der Zahl an Publikationen und Forschungsgeldern ist im Publish or Perish eindeutig. Wobei man seit Eugene Garfields Erkenntnissen aus dem Science Citation Index heute immer stärker auch den Impact Faktor zu berücksichtigen sucht. Obwohl dieser nichts mit der Qualität einer Publikation zu tun hat, sondern lediglich mit ihrer Wahrnehmung in der Fachwelt, wird immer wieder suggeriert, dass die Zitierhäufigkeit von der Qualität einer Publikation abhängt. In Wirklichkeit gibt es unzählige Beispiele dafür, dass Arbeiten gerade darum zitiert werden, weil sie falsch, also falsifizierbar sind.

Merkwürdig ist, dass Eigentum uns das Recht und die Fähigkeit gibt, andere von der Nutzung auszuschließen, dass wir aber durch die Publikation genau diesen Ausschluss verhindern. Das heißt, wir haben bei geistigem Eigentum nur das Recht, die Nutzung zu unterbinden, wenn dies in größerem Umfang marktwirtschaftlich geschieht und nicht nur zum persönlichen Gebrauch. Darin liegt auch der Grund, dass man im angloamerikanischen deutlicher als im Urheberrecht den sog. Fair Use unterscheidet.

Geheimhaltung

Aussagen wie „Wissen kann niemandem gehören” bzw. „Wissen gehört allen”, was in diesem Zusammenhang dasselbe bedeutet, ergeben sich aus diesem Paradox, dass Wissen der gesamten Menschheit zugänglich gemacht werden muss, wenn man das Eigentum daran erwerben will. Nur das Wissen, das Menschen für sich behalten, ist also ein Eigentum das ihnen zunächst niemand nehmen kann, das ihnen die Gesellschaft aber damit juristisch auch nicht zuspricht. Da aber Wissenschaftler durch ihr eigenes Denken oft in der Lage sind, auch von anderen Experten geheim gehaltenes Wissen zu erzeugen (Mehrfachentdeckungen sind weitaus häufiger als im Allgemeinen angenommen wird, s. Price, 1973 S.79), um es dann zu publizieren, ist diese Form des Eigentums hochgradig gefährdet, verloren zu gehen, wenn es ein anderer publiziert. Auch an diesem Beispiel erkennt man, dass die Informationstheorie, wie sie durch Claude Shannon und Warren Weaver bekannt wurde, eigenen Gesetzen unterliegt. Jeder Mensch kann aus seinem Wissen heraus Information erzeugen, auch solche, die andere Menschen geheim zu halten versuchen, denn Wissen beruht auf Selbstorganisation – genauer gesagt auf Selbstreproduktion. Durch logisches Folgern ergibt sich Wissen zwangsläufig und gibt uns die Möglichkeit bestimmte Ereignisse vorherzusagen. Darum ist es auch so entscheidend, wer als Erster ein bestimmtes Wissen publiziert.

Hier verhält es sich bei Publikationen in Monographien oder Zeitschriften ähnlich wie bei Patenten. Sobald man publiziert, kann alle Welt das Wissen für sich nutzbar machen. Somit kann es weit gewinnbringender sein, das Wissen geheim zu halten, es aber beispielsweise in Produkten zum eigenen Vorteil auszubeuten. Sobald aber die Gefahr besteht, dass die Konkurrenz dieses Wissen den Produkten leicht entnehmen kann, erweist sich ein Patenschutz als hilfreich. Die Alternative, das Wissen beispielsweise regulär in einer Zeitschrift zugänglich zu machen, damit die Konkurrenz keine Patentrechte darauf erwerben kann, führt zu dem weiteren Trick der defensiven Publikation (Henkel, 2008), der darin besteht, dass man sich eine möglichst unbekannte Zeitschrift z.B. in dänischer Sprache sucht, und dort mit dem Ziel publiziert, dass es niemand liest, für den das Wissen wichtig sein könnte.

Falsifikation

Von bereits publiziertem Wissen kann man zwar Besitz ergreifen, aber man kann bekanntlich kein geistiges Eigentum daran erwerben, so dass das neue Wissen grundsätzlich auf Falsifikation beruhen muss. Bedeutete bei Karl Popper Falsifikation, dass eine Theorie immer nur so weit wissenschaftlich genannt werden kann, soweit sie auch falsifizierbar ist, so bedeutet Falsifikation in dem hier gebrauchten Zusammenhang, dass bekannten Erkenntnissen fundiert widersprochen werden muss, oder diese zumindest zu verfeinern sind, wenn man ein geistiges Eigentum erwerben will. Insofern bestätigt und ergänzt die hier gemachte Aussage Poppers Erkenntnis aus einer anderen Perspektive heraus.

Es ist auffällig, dass Wissenschaft im Grundsatz Falsifikation des bisher Bekannten bedeutet, dass aber positive Zitate weit häufiger sind als negative. Der Grund dafür ist einfach und von eher psychologischer Art. Die meisten Autoren suchen sich eine zu falsifizierende Arbeit und begründen mit mehreren anderen Publikationen die Richtigkeit ihres Widerspruchs. Je mehr Referenzen für ihre Theorie bzw. ihre Ergebnisse sprechen, desto unumstößlicher sollen ihre Ergebnisse wirken. Eugene Garfield hatte schon 1983 erkannt, dass nur 5% der Zitationen negativ sind, wobei ihm auffiel, dass viele Autoren dazu neigen, die negativen Zitationen zu verschweigen (Garfield, 1983). Ob das daran liegt, dass sich manche Wissenschaftler davor hüten mögliche Peer Reviewer zu verärgern oder Arbeiten mit positiven Zitationen leichter akzeptiert werden, sei dahingestellt.

Wenn in der Einleitung dieses Beitrags beispielsweise behauptet wurde, dass oft zu lesen sei, „Information bzw. Wissen sei eine Ware wie jede andere”, ohne dass entsprechende Zitate genannt wurden, so wird an dieser Stelle vermieden, eine falsche Aussage mit bestimmten Autoren zu verbinden, da die Zahl derer, die gleicher Meinung sind, nicht vollständig genannt werden kann. Allein unter der Wortfolge „Wissen als Ware” wurden im deutschen Google am 10.10.2010 rund 34.000 Treffer gelistet, in denen sich eine vielschichtige Diskussion verbirgt.

Wird geistiges Eigentum leistungsgerecht bezahlt?

Das Immaterialgüterrecht erstreckt sich bekanntlich nicht nur auf wissenschaftliche Produkte, sondern auch auf Geschmacksmuster, Gebrauchsmuster, Recht am eigenen Bild etc. Wenn also jemand aus Versehen auf den Auslöser seiner Kamera drückt und das Ergebnis ins Internet stellt, unterliegt dieses Werk den gleichen Eigentumsrechten, wie eine über Jahrzehnte aufwendig gemessene Konstante der Physik. Es kann zumindest schwierig sein zu entscheiden, ob ein Bild zufällig oder mit Bedacht erzeugt wurde. So lange das Bild in einem Detail von allen anderen bekannten Bildern unterscheidbar ist, also Individualität besitzt, hat der Fotograf sein Eigentumsrecht daran. Wenn Leistung korrekt als Arbeit pro Zeit verstanden wird, wäre es keinesfalls eine leistungsgerechte Bezahlung, wenn ein Autor für einen Bestseller, den er sich in einer Woche ausdenkt, Millionen verdient, während ein wissenschaftlicher Autor, für eine langjährig erarbeitete Publikation, noch Page Charges zahlt, damit seine Erkenntnis publiziert werden kann. Es erscheint uns im Allgemeinen gerecht, dass jemand der in kurzer Zeit viel arbeitet oder entsprechend über längere Zeit weniger hart arbeitet gleich entlohnt wird. In Wirklichkeit wird aber in unserer Gesellschaft nur selten leistungsbezogen entlohnt, weil Faktoren wie Ausbildung, Risiko, Begabung, Angebot und Nachfrage etc. in die Bezahlung der Arbeit weit mehr Einfluss haben. Die Auflagenzahl von Büchern hat zweifellos wenig mit Leistung zu tun, weil sie ein reiner Kopiervorgang ist.

Verleger

Durch die Notwendigkeit, publizieren zu müssen, um geistiges Eigentum zu erwerben, kam schon frühzeitig das Verlagswesen mit ins Spiel. So lange Papier- bzw. Pergamenterzeugung, Buchdruck und Buchvertrieb ein kostenintensives Unternehmen war, mussten finanzkräftige Personen in Vorlage dieser Kosten gehen, um sie dann beim Verkauf der Publikationen wieder zurückzugewinnen. Damit entstand ein Verlegertum, von dem viele Laien heute glauben, dass dessen Leistungen durch das Internet überflüssig geworden sind, weil etliche Kosten entfallen sind. Fast jeder moderne Wissenschaftler hat die Möglichkeit seine Erkenntnisse, sobald sie digital verschriftlicht sind, im Internet weltweit verfügbar zu machen, so dass die Suche nach einem Verlag, der den Aufsatz, das Buch oder den Film publizieren soll, überflüssig wird. Verschriftlichung erfolgt aber nicht nur mit Hilfe von Buchstaben, sondern immer häufiger in Bild-, Ton- oder Multimediaangeboten.

Demgegenüber argumentieren die Verlage gern mit dem Qualitätsargument und verweisen auf das Peer Review, auf ihr Lektorat und auf die Marktkenntnisse, die dazu dienen, nur wirklich Publikationswürdiges zu verbreiten. Wie problematisch das ist, wurde bereits erwähnt. In Wirklichkeit haben sich die meisten Verlage aber durch eine ganz andere Qualität unverzichtbar gemacht: durch ihre Reklame für das ihnen anvertraute geistige Eigentum. Auch ihre Funktion bei der Zusammenführung verschiedener Experten, Ghostwriter, Grafiker, Layouter, Lektoren, Fotografen etc. ist nicht zu unterschätzen. Sie sorgen teilweise für Präsenz in Massenmedien, achten seit den Erfahrungen aus dem Science Citation Index auf möglichst hohe Zitierungen, holen sich bekannte Persönlichkeiten wie Nobelpreisträger in ihre Editorial Boards, werben mit Plakaten, Lesungen oder Besprechungen und schicken ihre Vertreter in Buchhandlungen und Bibliotheken. Interessant bei den Besprechungen ist, dass eine negative Buchbesprechung noch immer weitaus werbewirksamer ist, als das unerwähnte Buch. Auch hier zeigt sich, dass Qualität bei Publikationen einen völlig andern Stellenwert hat, als bei anderen Waren. Im Gegenteil, das Gebot der Falsifikation zwingt zum besonders genauen Studium all der Publikationen, die fehlerhaft sind. Darwin, Einstein, Machiavelli, Marx oder Sarrazin wurden nicht so bekannt, weil ihre Bücher so gut waren, sondern weil sie so viel Widerspruch erweckten, und weil jeder, der darüber mitdiskutieren wollte, dazu eine ausreichende Kenntnis über ihr Werk haben musste. Ein wichtiges Ziel der Verlage ist auch, dass ihre Produkte in möglichst vielen Datenbanken erschlossen werden, denn oft gelten Zeitschriften, die in mehreren Datenbanken auftauchen als wichtige Kernzeitschriften (Böll, 2010).

Nachdem 2009 bekannt wurde, dass die Firma Merck an Elsevier wiederholt Geld zahlte, damit scheinbar peer-reviewte medizinische Zeitschriften versteckte Reklame veröffentlichten, sah man sich bei Nature Medicine gezwungen zu schreiben: ”Since the 1980s, doctors have commonly received publications designed to promote pharmaceutical products through a mix of studies, opinion pieces and simple advertisements.” (Hutson, 2009) Es geht also längst nicht mehr um Ausnahmefälle, sondern eher um eine Symptomatik der Big Science. In der Wissenschaft war schon immer der begründete Nachweis für die Wirkung eines Präparates, die Messgenauigkeit von Instrumenten bzw. die Leistungsfähigkeit bestimmter Konstruktionen, die beste Reklame und diese Erfahrung lädt selbstverständlich zu Missbrauch ein. Unzählige Publikationen sind heute schlichte Reklame unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Bei Reklame ist weithin bekannt, dass es weniger auf die Wahrheit ankommt, ob der weiße Riese weißer wäscht. Aber unter dem Deckmantel der Wissenschaft gewinnt Werbung bislang noch immer an Glaubwürdigkeit. Nach Schätzungen von 2004 hat die pharmazeutische Industrie der USA 24,4% ihrer Einnahmen für Reklame und nur 13.4% für Forschung aufgebracht (Editor’s Note, 2008).

Eigentlich sollte man auf die Public Relation-Aktivitäten der Verlage verzichten, wenn es darum geht, geistiges Eigentum bekannt zu machen. Im Gegenteil: Um möglichst objektiv zu sein, wäre es korrekt alle Publikationen neutral nebeneinander im Internet anzubieten und ihre Popularität nicht von der dafür aufgebrachten Reklame abhängig zu machen. Ihre allgemeine Verfügbarkeit ist durch Suchmaschinen und dokumentarische Erschließung heute besser herstellbar, als es in der Geschichte der Menschheit je möglich war.

Es ist aber beim heutigen Publikationsaufkommen sicher eine recht irritierende Menge an geistigem Eigentum, das jährlich publiziert wird. Bei ihr sorgt das Verlagswesen schon seit vielen Jahrzehnten für eine höchst erstaunliche Disproportionierung, bei der beispielsweise bestimmte Zeitschriften, wie Nature oder Science im Power Law Spitzenreichweiten erzielen (Bei Science soll die Auflage bei 155.000 liegen (Segerstråle, 2000). Der Impact Faktor betrug 2009 im Web of Knowledge etwa 30), während unzählige andere Titel fast völlig unbekannt blieben. Sie sind nur der sehr kleinen Zahl von Experten in den jeweiligen Invisible Colleges bekannt. Diese Konzentration des Leseinteresses auf vergleichsweise wenige Zeitschriften, verglichen mit den ein- bis zweihunderttausend laufenden wissenschaftlichen Zeitschriften mit rund zehn Millionen Publikationen jährlich, gibt unserer heutigen Wissenschaft noch immer den trügerischen Anschein von Überschaubarkeit.

Disproportionierung

Ausdruck dieser Disproportionierung ist auch Bradford’s Law of Scattering, das uns aus Erfahrung sagt, dass wir bei Kenntnis der Kernzeitschriften auf dem jeweiligen Fachgebiet, mit wenigen Zeitschriften uns immer auf dem neusten Stand der Diskussion halten können. Es gibt aber zunehmend Zweifel daran, dass die Kernzeitschriften der großen Verlage diese Aufgabe noch adäquat leisten. Die massiv verzerrte Wahrnehmung von Erkenntnissen durch die Verlage kann man unter anderem daran sehen, wie stark Thomson Reuters Web of Knowledge unser Bild von der Wissenschaftsverteilung in der Welt dominiert und es ist höchst verständlich, dass sich immer mehr Länder und Fachgebiete durch eigene Zitationssysteme dagegen wehren. In der modernen Gesellschaft geht nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Auch die digitale Spaltung und die Diversifizierung des geistigen Eigentums zeigt sich durch die zunehmende Abkopplung beim Matthäuseffekt der Länder, wie ihn Manfred Bonitz schon vor 16 Jahren im Science Citation Index beobachten konnte. Bonitz schreibt: „Wenige Länder mit hohen Erwartungswerten erlangen noch mehr Zitierungen als erwartet, viele Länder mit niedrigeren Erwartungswerten kriegen noch weniger Zitierungen als erwartet.” (Bonitz , 1998). Andererseits waren um 1900 noch geschätzte 90% aller wissenschaftlichen Publikationen in Englisch, Deutsch und Französisch. Dieser Anteil ist inzwischen weit zurückgegangen, weil sich immer mehr Länder an der globalen Wissenschaft beteiligen. Geistiges Eigentum in Sprachen wie Arabisch, Chinesisch, Hindi, Persisch, Russisch, Spanisch etc. publiziert, gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Dadurch, dass geistiges Eigentum nur durch Publikation erreicht werden kann, es aber große Unterschiede in der Wahrnehmung einer Veröffentlichung gibt, ist die Sichtbarkeit geistigen Eigentums oft entscheidend. Garfield hat wiederholt auf die Beobachtung hingewiesen, dass Nobelpreisträger etwa fünfzigmal öfter zitiert werden als durchschnittliche Autoren (Garfield, 1968), und dass sie etwa fünfmal mehr publizieren (Garfield, 1991). Hier ist also deren Sichtbarkeit um den Faktor Zehn wichtiger, als ihre Publikationstätigkeit.

Es wird immer wieder behauptet, dass es eine Korrelation zwischen der Ablehnungsrate im Peer Review und dem Impact Faktor gibt, was empirisch allerdings nicht belegbar ist (Yamazaki, 1995). Wobei es allerdings trotzdem richtig ist, dass Autoren dazu neigen, ihre Aufsätze zunächst an bekannte Zeitschriften zu schicken, die Ablehnungsraten von achtzig und mehr Prozent haben, um möglichst bekannt zu werden (Nourmohammadi und Umstätter, 2004). Dabei besagt ein Impact Faktor von 0,03 im Web of Knowledge verglichen mit dem von 30 (bei Science), dass die Wahrscheinlichkeit in Science zitiert zu werden um das Tausendfache höher liegt. Der scheinbare Widerspruch, dass es keinen Zusammenhang zwischen Qualität und Rejection Rate gibt, findet seine Erklärung darin, dass es zahlreiche Gründe zur Ablehnung gibt, z.B. „poor english”, „outside of the scope of the journal”, „opinion pieces” etc. Nicht zufällig ist die Ablehnung in den sog. Soft Sciences höher als in den Hard Sciences (Zuckerman and Merton, 1971), bei zunehmend mangelnder Übereinstimmung der Reviewer. Diese vergleichsweise geringe Übereinstimmung bei den Peer Reviewern (Miller, 2006) deckt sich dementsprechend mit dem Mangel an Korrelation zwischen Ablehnungsrate und Impact Faktor, was in erster Näherung besagt, dass die Erteilung von geistigen Eigentumsrechten weitaus mehr zufällig als qualitätsabhängig ist.

Die Fälle, in denen nobelpreisträchtige Arbeiten von Peer Reviewern abgelehnt wurden, sind zweifellos beunruhigend, wenn man sich beispielsweise an Solomon Aaron Berson erinnert, der mit Rosalyn Sussman Yalow gemeinsam die RIA (Radioimmunoassay) Methode 1959 bei einer Zeitschrift einreichte, die aber abgelehnt wurde, um 1977 (nachdem Berson bereits verstorben war) durch einen Nobelpreis gewürdigt zu werden, und dies war nicht der einzige Fall, wenn man an z.B. an Arne Tiselius (1948), Sir Frank Macfarlane Burnet (1960), Murray Gell-Mann (1969), John Polanyi (1986), Richard R. Ernst (1991), Michael Smith (1993) David Lee, Douglas Osheroff and Robert C. Richardson (1996) denkt (Campanario, 2009).

Patente

Dagegen können Ideen, die noch nicht publiziert wurden, auch wenn sie noch so ausgefallen sind, als Patent kaum abgelehnt werden. Was dazu führt, dass geistiges Eigentum nicht selten auch auf Nonsens erteilt wird. So gibt es immer wieder Patentanmeldungen zum Perpetuum Mobile. Auch wenn im deutschen Patentwesen dazu inzwischen ein Funktionsnachweis gefordert wird, der automatisch dazu führt, dass es zu keiner entsprechenden Patentablehnung mehr kommt, so wird international doch immer wieder versucht Perpetuum Mobiles unter verschiedensten Decknamen und Ideen zu publizieren. Prominentes Beispiel aus dem Jahre 2009, war das Patent US 2009/0294300 A1 von John Kanzius und Mary Ann Kanzius, in dem Wasserstoff aus Salzwasser gewonnen wird. Dabei ist es umstritten, ob es sich hier um ein Perpetuum Mobile, einen Maxwellschen Dämon oder eine normale energieverbrauchende Elektrolyse handelt.

Im Allgemeinen sind abgelehnte Publikationen für die Wissenschaft nicht tödlich, da die Manuskripte anderweitig publiziert werden können. Aber dass der geistige Fortschritt erheblich gebremst wird, ist unübersehbar. Andererseits sorgen Patentgebühren dafür, dass noch immer schätzungsweise jedes 20-50ste Patent Lizenzgebühren erbringt und etwa jedes zweite irgendeinen strategischen Wert hat (Wanetick, 2010). Die Bedeutung der Spitzenverlage und Patente verliert aber immer mehr an Renommee, ohne dass dies bei den vorhandenen Wachstumsraten erkennbar wird. Die Ausbreitung von Open Access, Web 2.0 oder Facebook sind für diese Entwicklung symptomatisch.

Während man auf dem klassischen Verlegermarkt in den letzten Jahrzehnten eine immer stärkere Konzentration beobachten konnte, wuchs das Angebot an selbstverlegten Produkten (Milliot, 2010) und von Open Access (Morrison, 2010) noch weitaus dramatischer. So führte das Social Networking zu einer zunehmenden Demokratisierung des Publikationswesens (Ogorek, 2010). Seit der Online Revolution vor etwa einem halben Jahrhundert tritt an die Stelle der Vermarktung geistigen Eigentums durch die Verlage immer deutlicher das Data- und Knowledge Mining, weil dem Druck zu publizieren ein entsprechender Filter von der Leserseite entgegengesetzt wird. Begriffe wie Informationsflut, Datenmüll oder Infosmog belegen, dass es dem Verlagswesen immer weniger gelingt, seinem Ruf als Garant für Qualität gerecht zu werden. Das liegt auch daran, dass die Verlage trotz größter Anstrengung um Werbeeinnahmen ihr Geld immer weniger durch den Anzeigenmarkt verdienen (Meyer-Lucht, 2007). Immer mehr Autoren zahlen dafür, geistiges Eigentum zu erwerben, wobei die Selbstpublikation immer preiswerter wird, und die Funktion des Verlagswesens immer stärker von intelligenten Such-, Experten- und Web-App-Marketingsystemen übernommen werden.


Literatur

Böll. Sebastian K.: Informations- und Bibliothekswissenschaftliche Zeitschriften in Literaturdatenbanken. In: ZfBB 57 (1) (2010), S.26-36

Bonitz, Manfred: Wird der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft meßbar bleiben? http://www.wissenschaftsforschung.de/JB98_231-238.pdf

Brauck, Markus und Hülsen, Isabell: Die Qualitäts-Lüge. Der Spiegel 50/2009. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-68073982.html

Campanario, Juan Miguel: Rejecting Nobel class articles and resisting Nobel class discoveries. http://www2.uah.es/jmc/nobel/nobel.html#reje bzw. Rejecting and resisting Nobel class discoveries: accounts by Nobel Laureates. In: Scientometrics, 81 (2) (2009), S. 549–565

Editor’s Note: Big Pharma Spends More On Advertising Than Research And Development, Study Finds. In: ScienceDaily (Jan. 7, 2008) http://www.sciencedaily.com/releases/2008/01/080105140107.htm

Garfield, Eugene and Malin, M.V.: Can Nobel Prize Winners be Predicted? Paper presented at 135th Annual Meeting, American Association for the Advancement of Science, Dallas, Texas – December 26-31, 1968 http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.78.2498&rep=rep1&type=pdf

Garfield, Eugene: How to Use Citation Analysfs for Faculty Evaluaions, and When Is It Relevant? Part 2. In: Current Comments Number 45 (7.11.1983), http://www.garfield.library.upenn.edu/essays/v6p363y1983.pdf

Garfield, Eugene: A citation analysis of Austrian medical research and Wiener klinische Wochenschrift. In: Wien. Klin. Wochenschr. 103/11 (1991), S. 318-325 http://www.garfield.library.upenn.edu/papers/wienklinwochenschr103-11p318-325y1991.pdf

Henkel, J.; Pangerl, S.: Defensive Publishing: An Empirical Study. DRUID Working Paper No. 08-04 (2008), http://www3.druid.dk/wp/20080004.pdf

Hutson, S.: Publication of fake journals raises ethical questions. In: Nature Medicine 15, (2009) 598 http://www.nature.com/nm/journal/v15/n6/full/nm0609-598a.html

Meyer-Lucht, Robin: Die drei Krisen der Zeitung. (7.11.2007) Spiegel Online http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,515862,00.html

Miller, C.C.: From the Editors Peer Review in the Organizational and Management Sciences: Prevalence and Effects of Reviewer Hostility, Bias, And Dissensus. In: Academy of Management Journal, 49 (3) (2006), S. 425–431. http://journals.aomonline.org/amj/editorials/miller.pdf

Milliot, Jim: Self-Published Titles Topped 764,000 in 2009 as Traditional Output Dipped Publishers Weekly (14.4.2010) http://www.publishersweekly.com/pw/by-topic/industry-news/publishing-and-marketing/article/42826-self-published-titles-topped-764-000-in-2009-as-traditional-output-dipped.html

Morrison, Heather: Dramatic Growth of Open Access. (30.6.2010), The Imaginary Journal of Poetic Economics http://poeticeconomics.blogspot.com/2010/06/dramatic-growth-of-open-access-june-30.html

Nourmohammadi, Hamzeh A.; Umstätter, Walther: Die Verteilung der Autorenhäufigkeit in wissenschaftlichen Zeitschriften bei verschiedenen Themen und Ländern. In: IWP 55 (5) (2004), S. 267-274 http://www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/infopub/pub2001f/iwp55_5.pdf

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Umstätter, Walther: Zwischen Informationsflut und Wissenswachstum. Bibliotheken als Bildungs- und Machtfaktor der modernen Gesellschaft. Simon Verlag für Bibliothekswissen, Berlin. (2009)

Wanetick, David: How Patent Vulnerability Impacts Valuation. R&D 8.2.2010 http://www.rdmag.com/Policy-and-Industry-How-Patent-Vulnerability-Impacts-Valuation/

Yamazaki, Shigeaki: Refereeing System of 29 Life Science Journals Preferred by Japanese Scientists. In: Scientometrics, 33 (1) (1995), S. 123-129

Zuckerman, Harriot A. and Merton, Robert K.: Patterns of evaluation in science: Institutionalization, structure and functions of the referee system. In: Minerva 9, (1971) S. 66-100.


Walther Umstätter ist emeritierter Professor des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI) der Humboldt-Universität zu Berlin.