Immer mehr Menschen nutzen das Internet – als Unterhaltungsmedium, als Kommunikationswerkzeug, als Informationsmittel. Aber das Netz ist nicht nur ein Werkzeug, das man benutzen kann wie ein Telefon, sondern ein sozialer Raum, der den physischen erweitert. In dem Band „Soziale Netze in der digitalen Welt“, der die Dokumentation einer Tagung des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) der Justus-Liebig-Universität darstellt, versuchen die Herausgeber diesen virtuellen Raum zu fassen. Sie haben sich vier Bereiche herausgepickt, um einige Phänomene der „digitalen Welt“ zu beschreiben, die sich grob unter die Überschriften Politik, Wirtschaft, Recht und das Individuum subsumieren lassen. Die Herausgeber kommen aus unterschiedlichen Fachbereichen: Christoph Bieber und Jörn Lamla sind Sozialwissenschaftler (Politologe der erstere, Soziologe der zweite), während Martin Eifert und Thomas Groß beide Rechtswissenschaftler sind.
Die ersten beiden Teile des Tagungsbandes, die eine sozialwissenschaftliche Perspektive einnehmen, beschäftigen sich mit sozialen Netzwerken in der politischen Kommunikation – sowohl von Parteien als auch von Aktivistengruppen – sowie mit dem Spannungsfeld von Marketing und Verbrauchervernetzung zwischen User-Generated Content und ethischer Ökonomie. Mit dem Begriff „Produsage“ beschreibt Axel Bruns die Tatsache, dass im Internet die Trennung zwischen Produzenten und Nutzern aufgehoben wird, und welche Auswirkungen dies auf die politische Praxis haben wird – keine ganz neue Beobachtung, die aber deshalb nicht unwahrer wird. Uwe Jun entgegnet diesem Konzept, das in einer Tradition mit den techno-utopistischen Visionen der 1990er Jahre steht, mit einer Aufzählung der Probleme, die in der „wirklichen Welt“ eine Rolle spielen, und setzt sich für eine Erneuerung der repräsentativen Demokratie mit den Mitteln des Web2.0 ein.
„Adam Smith meets Web2.0“ beginnt Jörn Lamla seine Einleitung zum Thema „Soziale Verbrauchervernetzung“, die sich zwischen den Polen der Einverleibung durch kapitalistische Marktinteressen und der Emanzipation der Konsumenten bewegt. Der Beitrag von G. Günter Voß und Frank Kleemann untersucht dies im Zusammenhang mit den Nachkriegsentwicklungen zum „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) bzw. „Arbeitskraftunternehmer“, wobei die gewonnenen Freiheiten nur scheinbare sind. Für den Soziologen Adam Arvidsson geht die Entwicklung unterstützt durch die digitale Vernetzung der Konsumenten in Richtung „ethische Ökonomie“.
Dann folgt ein methodischer Bruch: Die rechtswissenschaftlichen Betrachtungen zum Komplex Urheberrecht und Datenschutz im Web2.0 sind qualitativ durchaus verschieden. Im Gegensatz zum politologischen Teil sind die Rechtswissenschaftler, die hier versammelt sind, in der Regel nicht an einer Theoriebildung interessiert, sondern stellen der Bestandsaufnahme der Nutzungspraxis die rechtlichen Regelungen gegenüber. Vor allem im Urheberrecht ist die Diskrepanz inzwischen so groß geworden, dass die Grundsätze des geltenden Rechts einer radikalen Überarbeitung bedürfen. Wie radikal man vorgehen sollte, bleibt dabei Gegenstand der Diskussion.– Ein Schwerpunkt ist das Konzept der Kulturflatrate, das noch vor einigen Jahren als idee fixe einiger Netzutopisten abgetan wurde, jedoch inzwischen im Mainstream angekommen ist.
Mit dem Urheberrecht eng verbunden – jedenfalls im Internet – ist das Persönlichkeitsschutzrecht. In Zeiten von Facebook, StudiVZ und MySpace spielt dieses eine große Rolle, nicht zuletzt im Bezug auf den Jugendschutz. Im letzten Teil „Persönlichkeitsentfaltung zwischen Eigenverantwortung, gesellschaftlicher Selbstregelung und staatlicher Regulierung“ untersuchen die Autoren die veränderten Bedingungen, auf die der Persönlichkeitsschutz im Web2.0 (Martin Eifert: „[...] die qualitativ neue Realisation von Interaktivität und User-Generated Content.“) stößt.
Es ist nicht ganz klar, ob dieses Buch für Juristen oder Soziologen gedacht ist. Die Methoden und Sichtweisen sind gar zu unterschiedlich, um einander zu ergänzen und zu bereichern. So stehen sie ein wenig zusammenhanglos beieinander. Trotzdem ist der Band gerade als Tagungsband ein sehr guter Überblick der aktuellen Forschungen zu sozialen Netzwerken – hier passiert Wissenschaft in Echtzeit. Welche der Erkenntnisse sich langfristig durchsetzen werden, ist dabei nicht klar, aber für Forschende in diesem spannenden Bereich bleibt „Soziale Netzwerke in der digitalen Welt“ ein nützliches Kompendium gegenwärtiger Forschungsgegenstände.
Valie Djordjevic ist Journalistin und Autorin in Berlin. Seit 2004 Online-Redakteurin bei iRights.info. Sie beschäftigt sich im Projekt "IUWIS. Infrastruktur Urheberrecht für Wissenschaft und Bildung" mit Fragen der Nutzerführung, Informationsaufbereitung und Online-Redaktion.