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Bibliotheks- und Informationswissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze 2009 im Spiegel des Web of Science


Zitiervorschlag
Najko Jahn, "Bibliotheks- und Informationswissenschaftliche Zeitschriftenaufsätze 2009 im Spiegel des Web of Science. ". LIBREAS. Library Ideas, 17 ().


Die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis in Form von Zeitschriftenaufsätzen ist für die Bibliotheks- und Informationswissenschaft aus zwei Gründen von Interesse: Zunächst ist sie, wie jede wissenschaftliche Disziplin auch, auf eigenständige Publikationsorgane angewiesen, die die Ein- und Ausgangsbedingungen für Beiträge in die wissenschaftliche Debatte regulieren. Verfahren wie das Peer Review oder das Publizieren unter Kriterien des Open Access standen daher in den letzten Monaten unter besonderer Beobachtung hinsichtlich der Frage, ob sich bibliotheks- und informationswissenschaftliche Zeitschriften aus deutschsprachigen Ländern in einer Krise befänden, obgleich nicht immer trennscharf zwischen Organen der akademischen Auseinandersetzung und der Mitteilung im Bibliothekswesen unterschieden wurde.[Fn 62]

Der zweite Grund ist die starke Verankerung des Aufbaus und der statistischen Auswertung von bibliographischen Datenbanken im Fachgebiet.

„Es wäre eine Dummheit, diesen riesigen Schatz an Daten zur wissenschaftlichen Literatur allein für das Information Retrieval zu nutzen. Er ruft geradezu danach, statistisch ausgewertet zu werden.”[Fn 63]

schreibt Frank Havemann im Vorwort seiner „Einführung in die Bibliometrie”, die kürzlich erschienen ist. Bereits in der Mitte des zwanzigsten Jahrhundert haben sich verstärkt Wissenschaftler aus den Bereichen der Lebens- und Naturwissenschaften soziologisch und historisch motivierte Fragestellungen der Darstellung und Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnis zugewandt und für ihre Beantwortung auf die statistische Auswertung von Publikationsdaten zurückgegriffen. Beispielhaft stehen hierfür Derek de Solla Prices „Little Science, Big Science” aus dem Jahre 1963 oder Donald Beavers Ph.D.-Thesis „The American scientific community, 1800-1860: a statistical-historical study” an der Yale University 1966. Und es war auch in dieser Zeit, als mit Eugene Garfield ein Bibliothekswissenschaftler mit dem Science Citation Index (SCI) begann, Zitationen von Beiträgen in wissenschaftlichen Zeitschriften systematisch zu erfassen.

Mit dem Ausbau des SCI und der quantitativ orientierten Wissenschafts- und Technikforschung gewann die Bibliotheks- und Informationswissenschaft ein Instrumentarium, das sie nicht nur für die Analyse weiterer Disziplinen nutzt, sondern welches es ihr erlaubt, sich und ihrer Darstellungspraxis wissenschaftlicher Erkenntnis einen Spiegel vorzuhalten.

Im folgenden soll anhand der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Zeitschriftenaufsätze aus dem Jahre 2009, wie sie im Web of Science verzeichnet sind, ein bibliometrisch-motivierter Zugang zu dem derzeitigen Status Quo der Publikationsaktivitäten exploriert werden. Da sie überwiegend auf Zähldaten beruht, darf sie methodisch nur als ein erster, aber notwendiger Schritt verstanden werden.[Fn 64]

Zeitschriften im Fachgebiet Bibliotheks- und Informationswissenschaft – Der Journal Science Citation Report - Social Sciences Edition 2009

Der Journal Science Citation Report (JCR) ist als Teil des SCI historisch gewachsen und dokumentiert Kernzeitschriften wissenschaftlicher Disziplinen. Im JCR Social Science Edition sind für das Jahr 2009 im Fachbereich Information Science & Library Science 65 Fachzeitschriften verzeichnet.[Fn 65]

Angereichert mit statistischen Indizes über Produktivität und Wirkung, gibt der JCR einen ersten Überblick über die Kernzeitschriften im Fach.

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Das Säulendiagramm ordnet die Zeitschriften nach ihrem Journal Impact-Faktor (JIF). Der JIF ist ein einfaches, viel diskutiertes Maß, das Eugene Garfield bereits 1955 in einem Artikel in Science motiviert hatte.[Fn 66] Der JIF setzt Zitierungen und die Anzahl zitierbarer Beiträge einer Zeitschrift für eine bestimmte Zeitspanne ins Verhältnis. Das Diagramm bildet die 2009 erzielten Zitierungen auf 2007 und 2008 veröffentlichte Artikel der Zeitschrift ab, welche durch die Anzahl der Artikel, die 2007 und 2008 publiziert wurden, geteilt wird. Das Maß operiert unter der Annahme, dass Zitierungen Ausweis wissenschaftlicher Akzeptanz sind, mit ihnen also eine gewisse Diskussionswürdigkeit der in einem Journal veröffentlichten Beiträge attestiert wird.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die prominente Stellung des Journal of Informetrics. Mit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 2007 haben Philipp Mayr und Walther Umstätter die Relevanz für ein solches Journal mit Rekurs auf die Bradford-Verteilung nachgewiesen.[Fn 67]

Zitierte Zeitschriftentitel in den LIS-Journals 2009

Wenn wir einen Überblick darüber haben möchten, welche Journals generell im Jahre 2009 durch diese Kernzeitschriften im Fachgebiet (LIS-Journals) zitiert wurden und wenn ja, wie viele, dann müssen wir über den Social Sciences Citation Index gehen. Es wurden aus den 65 Kernzeitschriften die Datensätze zu 2.388 Zeitschriftenartikeln für das Jahr 2009 heruntergeladen. Damit einher geht der Verzicht auf weitere im Citation Index verzeichnete Typen wie letter, note, review, Editorial material oder Proceedings paper. Die so heruntergeladenen Datensätze wurden weitergehend für die statistische Auswertung geordnet und bilden die Grundlage für die nachfolgenden Betrachtungen.

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Im Jahre 2009 wurde die Zeitschrift Scientometrics am häufigsten in den LIS-Journals zitiert. Es fand weder eine Betrachtung von Selbstzitierungen statt, noch wurde eine Deduplizierung hinsichtlich der Tatsache vorgenommen, dass ein Journal mehrfach in den Literaturhinweisen eines Zeitschriftenartikels auftreten kann. Ebenfalls wurde das historisch bedingte Auftreten von verschiedenen Ansetzungsformen einer Zeitschrift nicht unter den aktuellen Titel zusammengefasst, wie das prominente Beispiel der Zeitschrift Journal of the American Society for Information Science and Technology (J AM SOC INF SCI TEC), vormals Journal of the American Society for Information Science (J AM SOC INFORM SCI) in der Abbildung zeigt.

Zitierte Quellen in den LIS-Journals 2009

Neben den Titeln interessiert natürlich, welche Beiträge häufige Betrachtung in den LIS-Journals gefunden haben. Es sind diejenigen Quellen im Säulendiagramm aufgenommen, die im Jahre 2009 mindestens 20mal zitiert wurden.

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Ganz vorn steht die Arbeit des US-amerikanischen Physikers Jorge E. Hirsch, der im Jahr 2005 ein neues bibliometrisches Maß für die Bewertung individueller Leistungen vorstellte, welches wiederum eine Vielzahl an Diskussionen und Anpassungsvorschlägen nach sich zog. Der h-Index betrachtet die Gesamtleistung eines Autors. Das Maß gibt die Anzahl der Artikel an, die mindestens mit dieser Zahl zitiert wurden.

Dass nicht nur Zeitschriftenaufsätze zu Citation Classics in den LIS-Journals werden können, zeigen etwa die Monographien „Introduction to Modern Information Retrieval” von G. Salton und M.J. Mill aus dem Jahre 1983 oder „Belief, Attitude, Intention, and Behavior: An Introduction to Theory and Research” von M. Fishbein und I. Ajzen aus dem Jahre 1975.

Autoren in den LIS-Journals 2009

Wenn wir nach wirkungsmächtigen Personen im Fachgebiet fragen, bietet es sich zunächst an, die Autoren aus den Referenzlisten der LIS-Journals zu aggregieren. Das folgende Säulendiagramm listet die ersten 40 Autoren absteigend hinsichtlich der Anzahl ihrer Erwähnung auf.

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Die ersten vier Plätze belegen Forscher im Umfeld der Bibliometrie aus Europa. Mit Viswanath Venkatesh reiht sich ein Forscher über Informationssysteme von der University of Arkansas in die Top 5 ein. Mit Jorge E. Hirsch und Mark E. J. Newman werden zwei Physiker prominent in den LIS-Journals zitiert.

Neben der Wirkung wissenschaftlicher Autoren lässt sich natürlich auch deren Produktivität messen. Dafür verlassen wir die Betrachtung der Cited References und sehen uns die im Jahre 2009 in den LIS-Journalen veröffentlichten Artikel an. Insgesamt werden zu den 2388 Zeitschriftenartikeln 4645 Autoren verzeichnet. Das Säulendiagramm bildet diejenigen Autoren ab, die zumindest 5 Zeitschriftenartikel in den LIS-Journals 2009 veröffentlicht haben.

Da im Durchschnitt knapp zwei Autoren an einem Beitrag mitwirkten, liegt die Vermutung nahe, dass es einen Trend hin zu Kollaborationsbeziehungen gibt, die sich über Mehrautorenschaften manifestieren. Die Soziale Netzwerkanalyse (SNA) bietet Methoden, diese Beziehung zu modellieren. Hierfür wird zunächst eine sogenannte two-mode Matrix gebildet, die den Zeitschriftenartikeln die jeweiligen Forscher über die Autorschaft zuordnet und diese gewichtet. Das Ergebnis ist ein bipartites Netzwerk, das nur direkte Beziehungen zwischen Zeitschriftenartikel und Autor zulässt.1 Es wurden insgesamt 1691 components berechnet, also Teilgraphen innerhalb des Netzwerkes, die nicht miteinander verbunden sind. Der Übersicht halber werden nachfolgend die drei größten components visualisiert.

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Es zeigt sich, dass die Bibliometriker den höchsten Grad an Kollaborationsbeziehungen aufweisen. Interessant ist, dass spanische und chinesische Autoren ein wichtiges Bindeglied in der Konstitution von Ko-Autorschaftsbeziehungen sind.

Themensetzung über Keywords in den LIS-Journals 2009

Die Themensetzung lässt sich oberflächlich über Stichwörter begreifen. Ungeachtet der Homonym- und Synonymproblematik können sie in diesem Zusammenhang ein erster Ansatzpunkt sein.

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Das Säulendiagramm listet die meist vergebenen Stichwörter im Jahre 2009. Auch hier bietet es sich an, das gemeinsame Auftreten von Stichwörtern und Zeitschriftenaufsätzen in dem Jahrgang zu untersuchen. Im Gegensatz zu dem vorhergehenden Ko-Autorschaftsnetzwerk zeigt sich bei der Betrachtung der Stichwörter ein weitaus homogeneres Bild: Zwar wurden 4979 unterschiedliche Stichwörter vergeben. Allerdings verteilen sie sich auf nur 169 components. Der umfangreichste Teilgraph umfasst allein 3948 Knoten, also Zeitschriftenaufsätze und Stichwörter.

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Abschlussbetrachtung

Selbstverständlich bietet die vorgestellte Auswertung nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was mithilfe der quantitativen Auswertung von wissenschaftlichen Publikationsaktivitäten möglich ist. Zwar mögen sich viele Fragen beim Lesen des Artikels stellen, die unbeantwortet bleiben, und es mag auch der ein oder andere methodische Fallstrick lauern. Dennoch bietet die Exploration über das Zählen von Häufigkeiten und die Visualisierung von Netzwerkbeziehungen einen Einstieg, um sich der Frage nach den Status Quo der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis im Fachgebiet zu nähern.

Wer nach Spitzenfahrern fragt, verliert schnell das Vermögen und die Leistungen der Mitglieder des Peloton oder die der Abgeschlagenen im Besenwagen aus den Augen. Gerade für die verteilte und dynamische Wissensproduktion und ihrer Darstellung in der scientific community kann dies fatal sein. Allerdings scheint es, als sei die Bibliotheks- und Informationswissenschaft aus deutschsprachigen Ländern international nicht anschlussfähig. Mit LIBRI und der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie sind zwei Titel im JCR verzeichnet und wurden in die Analyse aufgenommen. Allerdings rangieren sie im unteren Drittel. Aber auch deutschsprachige Autoren finden sich in der Exploration nur vereinzelt, und wenn, kaum an prominenter Stelle. Das Vorurteil, dass die internationale bibliotheks- und informationswissenschaftliche Fachdebatte US-amerikanisch geprägt sei, kann nur schwer als alleinige Ursache gelten. Insbesondere Doktoranden und Nachwuchsforschende aus Spanien und China zeigen, dass trotz Sprachbarrieren die Teilhabe am Fachdiskurs über Zeitschriftenartikel möglich ist. Sie nehmen wichtige Positionen im Beziehungsgefüge der wissenschaftlichen Autoren ein. Zudem gehören zumindest im Gebiet der Bibliometrie die Top-Autoren europäischen Hochschulen an. Um allerdings zu entscheiden, ob die gefühlte Krise bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Zeitschriften aus deutschsprachigen Ländern gar eine Krise der Disziplin widerspiegelt oder aber ein Scheingefecht darstellt, wird es mehr bedürfen, als nur die im Web of Science verzeichneten Zeitschriftenartikel bibliometrisch zu betrachten.

 

Danksagung

Mein Dank gilt den Entwicklern der Statistiksoftware R und der Visualisierungssoftware für Graphen visone. Beide Werkzeuge wurden für die Auswertung der Daten verwendet.

http://www.r-project.org/

http://visone.info/


Fußnoten

[62] Stellvertretend für die Diskussion um die Darstellungspraxis bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Erkenntnisse seien folgende Beiträge genannt: Christian Hauschke (11. Mai 2010). „Bibliothekarische Fachkommunikation 2010”. In Infobib. http://infobib.de/blog/2010/05/11/bibliothekarische-fachkommunikation-2010/ , Klaus Graf (27. Juni 2010). „Die Open Access Heuchelei der Bibliothekare”. In inetbib [Mailingliste]. http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg42492.html, Jakob Voss (1. September 2010). „Aktuelle Diskussionen zur informationswissenschaftlichen Fachkommunikation”. Jakoblog. http://jakoblog.de/2010/09/01/aktuelle-diskussionen-zur-informationswissenschaftlichen-fachkommunikation/. Lambert Heller und Heinz Pampel erweitern und festigen mit dem Blog beyondthejournal.net die Debatte mithilfe einer fortlaufenden Bestandsaufnahme von relevanten Praxen im Umfeld des elektronischen Publizierens. [zurück]

[63] Frank Havemann (2009). „Einführung in die Bibliometrie”. Berlin : Gesellschaft für Wissenschaftsforschung. S. 3. http://d-nb.info/993717780/ [zurück]

[64] Ebd. S. 10. [zurück]

[65] Die Rede von Kernzeitschriften zeigt natürlich, dass es im Fachbereich noch weitere wissenschaftliche Zeitschriften gibt. Für eine ausführliche Diskussion siehe die preisgekrönte Abschlussarbeit von: Sebastian B. Böll (2007). „A scientometric method to analyze scientific journals as exemplified by the area of information science. http://eprints.rclis.org/15610 [zurück]

[66] Vgl. Eugene Garfield (1955). „Citation Indexes for Science: A New Dimension in Documentation through Association of Ideas.” Science 122(3159), 108-111. [zurück]

[67] Vgl. Philipp Mayr und Walther Umstätter (2007). „Why is a new Journal of Informetrics needed?” Cybermetrics 11 (2007). http://www.cindoc.csic.es/cybermetrics/articles/v11i1p1.html [zurück]

[68] Vgl. Mark E. J. Newman (2001). „The structure of scientific collaboration networks.” Proceedings of the National Academy of Sciences 98(2), 404–409. Und: Mark E. J. Newmann (2001). „Scientific collaboration networks I - Network construction and fundamental results.” Phys. Rev. E 64, 016131 (2001). DOI: 10.1103/PhysRevE.64.016131. [zurück]


Najko Jahn, M.A., hat Bibliothekswissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Nottingham studiert. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des DFG-Projektes "Persönliche Publikationslisten als hochschulweiter Dienst" an der Universitätsbibliothek Bielefeld.