> > > LIBREAS. Library Ideas # 17

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Erinnerungen an Joseph Weizenbaum


Zitiervorschlag
Konstantin Baierer, "Erinnerungen an Joseph Weizenbaum. ". LIBREAS. Library Ideas, 17 ().


An einem kalten Tag Januar 2008 sitzen wir zu viert in einer kleinen Wohnung nahe dem Berliner Alexanderplatz. Elektrogeräte in verschiedenen Stufen der Auflösung und Neuzusammensetzung bevölkern den Raum – zwei Reporter der Jüdischen Zeitung, ich und Joseph Weizenbaum am Tisch. Es bedarf einiger Zeit bis ich meine Bewunderung so weit heruntergeregelt habe, dass ich nicht mehr stupide lächelnd schweige vor einem der ganz Großen der Informatik. Er ist ein Greis geworden, Altersflecken überziehen Gesicht und Hände, die fachmännisch die Digitalkamera des Reporters betasten, der Gang ist etwas tapsig und gebeugt, aber unter den spärlichen, zusseligen, schlohweißen Haaren blitzen mal scharf, mal sanft dreinblickende, aber immer wachsame braune Augen.

Dass ab einem gewissen Lebensalter jenseits der Verrentung eine intensivere und offenere Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit einsetzt, ist auch bei Joseph Weizenbaum zu erkennen. Er erzählt freimütig, ohne die Sorgen, sein Renommee als Professor der Computer Science zu riskieren, von der Zeit, als die Familie noch in Berlin wohnte, das erste Mal, vor dem Krieg, am Gendarmenmarkt. Der Vater, Jechiel Weizenbaum, der als Hofkürschnermeister angesehen war und gut verdiente, blieb zeitlebens eine unnahbare, lieblose, fast bedrohliche Figur. Von ihm ist dem Mann mit der schwarzen runden Brille kein Wort des Lobes, kein Kompliment erinnerlich – doch eines! – dass er gut einparken könne, hat ihm der Vater zugutegehalten. Wie aus dem Sohn einer der anerkanntesten Kritiker des hereinbrechenden digitalen Zeitalters und ein mit akademischen Ehren überhäufter Professor wurde, hat der Vater nicht mehr erlebt.

Die Anekdote mit dem Einparken ist symptomatisch für einen Charakterzug, der das Gespräch kurzweilig und die Distanz gering hält: Weizenbaum erzählt ein amüsantes Erlebnis nach dem anderen, macht sich über vieles, hauptsächlich aber sich selbst lustig. Dass er zu den Fragen der Interviewer, die sich auf „sein“ Judentum beziehen, einen Witz parat hat, bevorzugt über den Kaufmann Moische auf dem Sterbebett, irritiert die drei Besucher, die nicht recht wissen, ob sie lachen sollen oder dürfen. Das freut wiederum Weizenbaum. Ob seine Familie praktizierende Juden waren („Ruft Moische auf dem Sterbebett nach einem Priester - Kommt der Rabbi und ruft 'Aber Moische, du warst doch immer frommer Jude!' - Darauf Moische: 'Es ist doch besser, wenn einer von ihnen stirbt...'“) oder ob er mit antisemitischen Klischees zu kämpfen hatte („Der schon fast blinde Moische ruft vom Sterbebett nach seinem Sohn: 'Sohn, bist du bei mir?' - 'Ja, Vater, ich bin bei dir.' - 'Tochter, bist du bei mir?' - 'Ja, Vater, ich bin hier' - 'Rachel, meine Frau, bist du bei mir?' - 'Ja, Moische, ich bin bei dir' - Da springt Moische aus dem Bett und ruft: 'Und wer passt jetzt auf den Laden auf?!'“). Er kokettiert mit dem Image des kauzigen, verwirrten Professors. Als ihn die ständig klingelnden Handys nerven – der 85. Geburtstag ist nicht mehr fern – legt er sie auf einen Stuhl und mehrere Decken darüber, lacht in sich hinein und erzählt wieder aus seiner Kindheit.

Dass er Mitte der 1930er Jahre vom Luisenstädtischen Realgymnasium verwiesen wurde und auf die Jüdische Knabenschule gehen musste, war in seinem Empfinden nicht die erste Erfahrung von Antisemitismus und Ungerechtigkeit, das kam erst danach. An der neuen Schule hörte er zum ersten Mal Jiddisch und lernte gelebtes nicht-assimiliertes Judentum kennen. Als er einen Freund aus ärmlichen Verhältnissen mit nach Hause brachte, herrschte ihn der Vater an, was er sich einbilde „so einen dreckigen Ostjuden in unser Haus zu bringen“. Weizenbaum macht jetzt lange Pausen und stellt fest, dass der namenlose Junge höchstwahrscheinlich den Holocaust nicht überlebt hat und dass er ihn, sich dessen erst Jahre später bewusst werdend, geliebt hat, verliebt war.

Die Ungerechtigkeit dieses einen Erlebnisses hat ihn fürs Leben geprägt, ihn zum Dissidenten, zum Ketzer gemacht, wie er mit Pathos betont, dann aber augenzwinkernd auf den Determinismusanspruch der Neurologie umschwenkt. Dabei ist wieder nicht ganz klar, ob er sich über sich selbst oder die Wissenschaft lustig macht. Er liebt diese Unschärfe.

Zu ELIZA sagt er wenig, das Thema hat sich und ihn über die Jahrzehnte erschöpft. Auch „Computer Power and Human Reason“ ist als solches eher nebensächlich, die darin und in späteren Publikationen und Interviews zunehmend schärfer und umfassender formulierten Thesen sind ihm wichtiger denn je. Er hat ein düsteres Bild von der Wissenschaft und den Perspektiven der Menschheit und bleibt erbitterter Kritiker des Militärs, ohne Pazifist zu sein – auch wenn einer zu werden er weiterhin anstrebe. Weizenbaum ist keiner, der von Kollateralschaden oder Gefallenen sprechen würde, er verwendet konsequent „Mord“ und „Ermorden“, wenn es um die Entwicklung von Raketen oder Überschallflugzeugen geht und nimmt die Ingenieure und Forscher moralisch in die Pflicht, am Wohl des Menschen, als Einzelperson und in der Gesamtheit, als Maß aller Entwicklung festzuhalten. Was genau das Gute ist, an das er glaubt, was ihn nicht verzweifeln lässt, bleibt im Halbschatten. Das Böse trage jeder in sich, aber die Ehrfurcht vor dem Leben, die Würde des Menschen und immer wieder die Liebe könne, müsse siegen.

„Computer Power“ ist fast 35 Jahre her, Computer haben seither in damals kaum zu erahnendem Maße unser aller Lebenswelt verändert. Spätestens mit dem letzten Winter der Künstlichen Intelligenz der 1990er Jahre ist das Topos des Computers als maschinelles Gehirn, das alle Probleme „lösen“ kann, die Menschheit aber zugleich versklavt, in seiner euphorischen, bzw. dystopischen Dimension weitgehend überholt. Damit hat Weizenbaums Kritik der Technikgläubigkeit zwar an Brisanz verloren, viele grundlegende, moralisch-ethische Aspekte seines Denkens, gerade im Hinblick auf die Verantwortung der Forschenden und der Entwickler in der Informatik, sind weiterhin hochaktuell.

Sieht mensch sich um in der Welt der Computerwissenschaft nach ethischen Richtlinien, nach moralischen und scharfkantigen Formulierungen, nach klaren Bekenntnissen, so fällt die Ausbeute erschreckend mau aus. Die FLOSS-Community mag revolutionäre Wege gehen, was Urheberrecht und Copyright angeht, zu einer Anti-Militär-Klausel konnte sich die Free Software Foundation bei der Entwicklung der GNU General Public License Version 3 aber nicht durchringen. Dass Nokia die Überwachungssysteme für die Diktatur im Iran liefert – wer spricht heute darüber? Einige Verbände, wie die Gesellschaft für Informatik, der Chaos Computer Club oder das Forum InformatikerInnen für den Frieden, bieten schriftlich fixierte ethische Richtlinien im Sinne eines Hippokratischen Eids für Informatiker, die einzuhalten oder überhaupt zur Kenntnis zu nehmen freilich niemand verpflichtet ist. Nicht obwohl, sondern weil Computersysteme immer weitgreifender das gesellschaftliche Leben mitbestimmen, ist es unabdingbar, dass Informatiker unbequeme Fragen stellen: Müssen Computer Teil des Schulunterrichts sein? Wiegt die Effektivierung einer volldigitalen Verwaltung den Verlust an informationeller Selbstbestimmung auf? Vereinfachen Computer Verfahrensabläufe oder lassen wir uns von ihnen beherrschen, indem wir ihnen immer autonomere Entscheidungskompetenz zugestehen? Können Computer neben den logischen auch die affektiv-empathisch-emotionalen Aspekte von Entscheidungen simulieren – und ist das überhaupt erstrebenswert?

Es gibt kein Berufsethos der Informatiker. Genau deshalb sind kritische Stimmen wie die Joseph Weizenbaums oder Jaron Laniers so wichtig. Dabei muss mensch keineswegs mit allem einverstanden sein, was die „Ketzer der Informatik“ an kultur- und technikkritischen z.T. tiefpessimistischen Einwänden vorbringen. Aber dass diese Einwände aus dem Herzen der Informatik selbst vorgebracht werden, verleiht dem kritischen Diskurs über die Folgen der Technik ein besonderes Gewicht und bringt ihn voran.

Eine schöne Erinnerung war für Joseph Weizenbaum, wie er 1950 an der Wayne State University an Planung und Bau eines Computers beteiligt war, „eine herrliche Zeit“ schwärmt er, alle Funktionalität des Geräts lagen offen und klar erkennbar vor ihm, zwanzig Jahre vor Erfindung des Mikrochips. Er sieht mich an und fragt, ob ich in meinem Studium auch mal einen Computer gebaut hätte. „Nein“, lache ich, „sicher keinen ganzen Computer.“ „Oh, das sollten sie!“ ruft er aus, „man kann so viel dabei lernen.“

Vier Stunden saßen wir beisammen und ich habe kaum zwei oder drei meiner technik- und computerwissenschaftsethischen Fragen herausgebracht, wegen denen ich mit am Tisch saß. Zwei Monate nach diesem Gespräch starb Joseph Weizenbaum im Alter von 85 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Ich habe einen Wissenschaftler in Erinnerung, der sich aus ehrlicher Sorge um die Menschheit unbequeme Fragen an die Wissenschaft im Allgemeinen und die Informatik im Speziellen zu richten gezwungen sah, einen jüdischen, amerikanischen Professor emeritus aus Berlin, der fern jeder Eitelkeit weder Religion, noch Herkunft, noch akademischen Ruhm so ernst nahm, dass er sich auch nur eines Witzes oder einer „funny story“ enthalten würde, einen Mann, der sich nicht schämt, sich selbst zu kritisieren, sich freimütig zu einem weitgefassten Liebesbegriff bekennt und Ausbeutung, Gier und Hass bei diesen und schärferen Namen nennt. Ein Pessimist, aber kein Fatalist, manchmal gallig, aber nie bitter, technikbegeistert, aber den Blick immer weit über den Tellerrand gerichtet.

Ich danke Moritz Reininghaus und Maria Roca, dass sie mich damals mitgenommen haben, auch wenn ich kaum Konstruktives beizutragen hatte.


Konstantin Baierer ist Masterstudent der Bibliotheks-und Informationswissenschaft am gleichnamigen Berliner Institut und studentische Hilfskraft beim DFG geförderten Projekt "IUWIS. Infrastruktur Urheberrecht für Wissenschaft und Bildung".