Man kann es sich einfach machen mit den Kindern und den Bibliotheken. Kinder gehen in Bibliotheken. Auch und gerade in Deutschland ist es so. Ebenso wird niemand bestreiten, dass man immer mehr Engagement zeigen kann, insbesondere da man mit nahezu jeder Aktivität für Kinder die Öffentlichkeit positiv erreicht. Daran kann man noch besser anschließen, wenn man auf die im öffentlichen Diskurs erstmal durchgehend positiv besetzte „Bildung” referiert. Und in der Steigerung: Frühkindliche Bildung. Wenigstens im Diskurs scheint alles klar.
Vordergründig funktioniert dieser Ansatz prima. Seine Qualität als Erfolgsmodell zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es tatsächlich in fast allen Öffentlichen Bibliotheken eine explizite „Arbeit für Kinder” gibt. Nicht nur in bibliothekarischen Fachveröffentlichungen finden sich regelmäßig positive Bezüge auf Bibliotheken als Orte der frühkindlichen Bildung oder auch der sinnvollen Freizeitgestaltung. Immer dann, wenn Diskurse über das Lebenslange Lernen als zu betriebswirtschaftlich, biographiefeindlich, gar systemreproduzierend angegriffen und dagegen vorgeblich positive, humane Konzepte des Lernens im Lebenslauf entworfen werden, tauchen fast schon reflexartig Bilder von Kindern auf, die in Bibliotheken lesen und spielen. Und würde es jemand bestreiten: Kinder sind die Zukunft, Zukunft der Bibliotheken und Bibliotheken sind für sie ein wichtiger Ort.
Doch immer, wenn ein Bild so übermächtig ist, dass es zu stabilen Holzschnittmustern – Kinder sind super. Kinder sind Zukunft. Bildung ist toll. Kinder und Bildung noch weit besser, das Notwendige für eine gloriose Zukunft – gerinnt, stellt sich irgendwann die Frage, ob das in dieser Vehemenz überhaupt so stimmt. Dass sich insbesondere die positive Bewertung von Bildung nicht unbedingt in einer Bildungsnähe oder Bildungsaktivität von Menschen niederschlägt, sondern auf der Aussagenebene verbleibt, mag in der Bildungsforschung unter dem Begriff Weiterbildungsabstinenz beziehungsweise allgemeinverständlicher „Widerstand gegen Weiterbildung” (Daniela Holzer), ein diskutiertes Thema sein. Aber es scheint weder die Öffentlichkeit und Politik noch einen Großteil der bibliothekarischen Vertretungen zu erreichen bzw. zu interessieren. Genauso wenig zeigt das Wissen darum, wie begrenzt eigentlich unsere Erkenntnisse über das Denken, Lernen und Wünschen von Kindern und den Effekten kindlicher Bildung sind, Wirkung. Zwar ist diese Erkenntnis in der Bildungsforschung, der Sozialwissenschaft und der pädagogischen Praxis unbestritten. Dennoch tangiert sie die beständige Anrufung des Bildes von Bibliotheken als perfektem Ort für kindliches Lernen und Spielen wenig.
Wie fast immer kann auch beim Thema Zielgruppe Kind in Bezug auf Bibliotheken festgestellt werden: es ist weitaus vielschichtiger, als man mitunter annehmen möchte.
Diese Komplexität anzudeuten, ist das Thema des Schwerpunktes der Ausgabe 16 von LIBREAS.
Da wäre z.B. die Leseförderung. In unserem ersten Text diskutiert Susanne Brandt, dass es nicht damit getan ist, Kinder „an Bücher heranzuführen” ohne auf ein tiefer gehendes Konzept für Leseprogramme aufzusetzen. Es ist notwendig, den Medienkonsum von Kindern zu verstehen, um die Tätigkeit Lesen auf dieser Basis nachhaltig zu fördern. Dies geht nicht mit Programmen, die auf Ausleih- und Teilnahmezahlen abzielen, sondern nur durch eine kindgerechte Programmgestaltung, welche sich an der Kreativität und dem Interesse am Erzählen und Welt-Erfahren von Kindern orientiert.
Bezeichnend für das unterbestimmte Vorgehen bei der Arbeit mit Kindern ist das Fehlen einer entwickelten Bibliothekspädagogik. Jana Haase skizziert, auf welchen Grundüberlegungen eine solche Pädagogik aufbauen müsste. Bibliotheken müssen sich, so ihr Ansatz, darüber verständigen, was sie überhaupt wem sinnvoll vermitteln können, um im Anschluss zu klären, wie dies geschehen soll.
Natürlich ist Kindheit in Deutschland weit entfernt von Sorgenfreiheit und auch von Armut. Es ist bekannt und mehr oder weniger ständig im politischen Diskurs, freilich selten mit nachhaltigen Lösungen, präsent, dass besonders Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Armut und Folgeproblemen, gerade auch hinsichtlich der Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, betroffen sind. Karsten Schuldt zeigt aber, dass der leichtgängige Reflex, Bibliotheken gerade für arme Menschen als prädestinierten Lernort zu bezeichnen – weil sie barrierearm und fast kostenlos zugänglich seien –, auf einer ähnlichen eindimensionalen Annäherung an das Phänomen Armut setzt, wie es häufig bei der Arbeit mit Kindern der Fall ist. Bei der Beschäftigung mit Formen der Bildungsförderung bei Kindern in Armut verbinden sich also zwei unterkomplexe Bilder, die, so Schuldt, „im schlimmsten Fall gesellschaftlich kontraproduktiv und für die betroffenen Menschen auch beleidigend [sein können]”. Er beschreibt Menschen in Armut als selbstständig handelnde Individuen, die sich nicht bevormunden lassen und trotzdem das bestmögliche für ihre Kinder wollen, auch und gerade, wenn sie mit Bibliotheken zu tun haben.
Einen Einblick in ihre Bestandsarbeit für die Children's Literature Research Collections an der University of Minnesota liefert Anne Mostad-Jensen in ihrem Interview mit Karin Nelson Hoyle. Hierbei wird deutlich, dass auch der Aufbau und die Pflege des Bestandes von Kinderliteratur einer klaren Planung und entsprechender Kompetenzen bedürfen.
Der Bibliotheksbesuch war Pflichtbestandteil einer Kindheit in der DDR, erinnert sich Katharina Lachmann und beschreibt im Rückgriff auf ihre eigenen Bibliothekserfahrungen einen Bogen von kindgerechten Bibliothekskonzepten bis hin zur Betrachtung der DDR als Leseland.
Folgt man den Darstellungen der bibliothekarischen Verbände, dann hinterlassen Bibliotheken, die in der Kindheit besucht werden, Spuren, die auch bleiben, wenn die einstigen Nutzer der Kinderbibliotheken keine Kinder mehr sind. Aber was passiert, wenn Kinderbibliotheken geschlossen werden? Was bleibt als Spur im Stadtraum, im Gedächtnis der Stadt? Ben Kaden und Karsten Schuldt haben die Orte einiger geschlossener Kinderbibliotheken Berlins besucht und fotografiert. Es ist wenig, was im Raum verbleibt. Natürlich stirbt die Stadt nicht, wenn eine Bibliothek schließt. Aber sie verliert etwas.
Zwei Rezensionen zu von Kerstin Keller-Loibl herausgegebenen Arbeiten zur Bibliotheksarbeit mit Kindern und Jugendlichen zeigen, wie kontrovers der Themenbereich betrachtet werden kann. Während Jana Haase ein Buch zu bibliothekspädagogischen Klassenführungen als grundsätzlich sinnvoll bezeichnet, kritisiert Karsten Schuldt das Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit als reine Selbstdarstellung der Expertenkommission Kinder- und Jugendbibliotheken im dbv.
Zwei weitere Artikel außerhalb des Themenschwerpunkts dieser Ausgabe greifen Herausforderungen der digitalen Lebenswirklichkeit auf. Carsten Schulz berichtet eingehend über den W3C-Tag im letzten September in Berlin. Ein Schwerpunkt der Tagung, und damit auch des Berichts von Schulz, waren die Fragen der möglichen Verbindungen des Semantischen Netzes mit dem „Netz der Menschen”, also dem Netz der von Menschen erstellten Daten. Bibliotheken könnten sich diesen Debatten nicht nur deshalb nicht entziehen, weil es unmodern wäre. Sondern es sei vielmehr die Aufgabe von Bibliotheken, wenn sie sich als Einrichtungen verstehen, die mit Informationen umgehen, diese Debatten um das Semantische Netz zu begleiten und sich in der eigenen Zukunftsplanung auf diese zu beziehen. Über die Bedeutung und Vergänglichkeit des Neuen im technischen Bereich denkt Aline Hötzeldt in Ihren Text über E-Books nach.
Abgeschlossen wird diese Ausgabe mit drei sehr unterschiedlichen Rezensionen, denen gemeinsam ist, dass sie allgemein kritisch und an Auseinandersetzungen über vorgeblich feststehende Begrifflichkeiten und Denkmuster im Bibliotheksbereich interessiert sind und Willen zur Debatte zeigen. LIBREAS kann diesen Ansatz nur begrüßen. Mögen mit dieser Ausgabe neue Debatten eröffnet sein.
März 2010, die LIBREAS-Redaktion (Berlin, Bielefeld, Mannheim, Minneapolis/St. Paul)