> > > LIBREAS. Library Ideas # 15

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Editorial zur Ausgabe 15


Zitiervorschlag
Redaktion LIBREAS, "Editorial zur Ausgabe 15. ". LIBREAS. Library Ideas, 15 ().


Was lange währt, wird manchmal alt. Mitunter zu alt. So erweist sich auch in der Bibliothekswissenschaft die Bodenplatte der vormals wirkungsmächtigen Theorien und Methoden, als zunehmend rissig. Zugegeben: Sie hält noch. Dies jedoch unter großer Spannung, mit einigem gezielten Auffüllen und Kitten mancher Risse, aber auch mit viel Flickschusterei. Das Problem der Platte ist, dass sich ihr Überbau permanent verschiebt, verändert und vor allem in einer Form erweitert, die die frühen Architekten und Statiker kaum vorhersehen konnten.

Leerer Lesesaal im  Berliner Grimm-Zentrum vor der Eröffnung.

Die Bibliothekswissenschaft - ein Leergebäude?
Wie definiert sie sich selbst in einer Zeit, in der Medien relativ und Inhalte absolut geworden sind.

Die Frage lautet also, inwieweit die Grundfesten der Bibliothekswissenschaft ihren Untersuchungsgegenstand noch zu tragen verstehen.

Die Antwort scheint klar: Aktuell nur bedingt und in der Zukunft vermutlich nicht mehr. Der Digitalisierungsschub in allen Bereichen, der sich seit den letzten 30 Jahren vollzieht, transformiert den Gegenstand „Bibliothek“ und mithin das Instrumentarium der Bibliothekswissenschaft. Man zweifelt mitunter, dass das Modell eines festen Methoden- und Ideengebäudes an sich noch stimmig ist. Man überlegt nicht selten, ob wir uns nicht auf dem Weg in eine mobile oder gar nomadisierende Wissenschaftskultur befinden, in denen Ideen, Methoden und Erkenntnisse in verschiedensten Erscheinungsformen flexibel dorthin projiziert werden, wo sie entweder die mutmaßlich größte Relevanz entfalten oder einfach nur passend scheinen.

Vielleicht ist das traditionelle Verständnis von Wissenschaft, wie sie Aufklärung und Moderne forcierten, schlicht eine buchstäbliche fixe – weil fixierte Idee – nicht jedoch der einzig sinnvolle und auf Dauer zweckmäßige Ansatz. Womöglich zerstreut sich nun die Fixierung von Wissenschaft in bestimmten auf Stabilität angelegten Strukturen der Kommunikation. Vielleicht verwässert die Ausrichtung der Wissenschaft auf die Vermeldung von Erkenntnissen als Resultat und wird prozesshafter, kleinteiliger, permanenter und dynamischer in Repräsentation. Es durchaus denkbar, dass die Wissenschaft wie wir sie kennen maßgeblich von ihren räumlich und materiell durchaus begrenzten Kommunikationsformen bestimmt war. Die begrenzte Mobilität der Zeichen erforderte eine stärkere Zusammenfassung, den Verzicht auf die Abbildung von Zwischenschritten, die Linearität der Diskussion.

Die postmateriellen Kommunikationsformen, wie sie auch Digitalen Bibliotheken zu Grunde liegen, entheben wissenschaftliche Prozesse nicht zuletzt ihrer Bindung an Orte, die das Material der Erkenntnisbildung, nämlich die Bücher, Zeitschriften und Begegnungsräume mit Kollegen und Mitarbeitern vorhielten. Für all die Disziplinen, deren einzige Hardware Bildschirm, Netzanschluss und Tastatur sind, bleibt als letzte physische Barriere der Zugang zu elektrischem Strom und dem Internet. Damit hat sich für einen Großteil der Wissenschaftler der Arbeitsort zu relativen Größe entwickelt und ermöglicht eine Dauermobilität. Analog dazu wird ihre Kommunikation kleinteiliger, schneller, offener und vor allem hypertextuell vernetzter.

Die Bibliothekswissenschaft erscheint, wo sie sich mit Entwicklungen im Digitalen befasst, erstaunlich bodenständig. Sie ignoriert das Thema nicht, ganz im Gegenteil, aber sie erfasst es entweder in den ihr vertrauten Mustern, oder in denen, die ein externer Diskurs vorgibt. Was man nur sehr selten sieht, ist, dass sie die Muster beider Kategorien hinterfragt. Entsprechend wirkt Methodologie oft überstrapaziert und erscheinen die Ausführungen zu den Themen überraschend hilflos, selbst oder gerade wo sie deskriptiv bleiben.

Die Dreifaltigkeit der Bibliothekswissenschaft: Sammeln, Erschließen, Vermitteln von Information bleibt stabil, wird in Bezug auf die angesprochene Transformation nicht gleichberechtigt verfolgt und reflektiert.

Für eine umfängliche Erklärung der Veränderungsprozesse, ihrer Folgen und Gestaltungsmöglichkeiten, fehlen im Reparatur-Set bisher die richtigen Instrumente.

Eine Lösungsstrategie, um die verloren geglaubte Angemessenheit im bibliothekswissenschaftlichen Erkenntnisprozess wiederzugewinnen, liegt tatsächlich in der disziplinären Mobilisierung, also einer aktiven Wechselwirkung mit anderen Disziplinen. Solitäre Deutungsmuster werden durch spezifische diszplinäre Deutungskompetenzen ersetzt, die erst in Kombination komplexe Phänomene zu erfassen vermögen. Das Problem dabei: Man strebt bei dieser Entwicklung hin zu einer methodischen Modularisierung, die jedoch einer Vereinbarkeit der Verständnishorizonte bedarf. Wo es in der Inter- oder auch Transdisziplinarität hapert, entdeckt man häufig schlicht unterschiedliche Sprachen. Wo die Bibliothekswissenschaft übergreifend valide Erkenntnisse im Bereich der Informationsvermittlung als Ziel beansprucht, muss sie demnach mehr denn je den sich verästelnden und pluralisierenden Charakter kommunikativer Praxen einzelner, oft sich in Teilbereichen vermengender Wissenschaftsgemeinschaften ins Zentrum der Betrachtung rücken.

Die Bibliothekswissenschaft kann und sollte ihre Position nicht zuletzt in einem sozusagen interwissenschaftskulturellen Dialog suchen. Während das Sammeln vorwiegend nach technischen Lösungen ruft, die Erschließung im Semantic Web immerhin eine recht eindeutige Orientierung vorfindet, erweist sich die Vermittlung und mehr noch die in dynamischen Kommunikationsstrukturen Wechselwirkung der drei Bausteine als wenig beforscht.

An dieser Stelle sehen wir die Risse. Will man die Fundamente des Fachs ins Digitale hinein erhalten, muss man sie mehr als Dockingstation verstehen, denn als stämmiges Tragwerk. Die digitale Wissenschaftskommunikation relativiert die Bedeutung der Institution Bibliothek für die Wissenschaft. Eine Vielzahl von Ansätzen der Organisation dieser Kommunikationsprozesse entwickelt sich parallel, in Überschneidung, in Rückkopplung. Die Pluralität von Diskursformen, sowohl inhaltlich wie auch technisch, die teils konkurrierend, teils komplementär gestrickt sind, zu verstehen sowie Prinzipien zu entwickeln, die diese Entwicklung adäquat analysieren und nach Möglichkeit, z.B. durch bedarfsnahe und Komplexität senkende Organisationsmuster begreifbar zu halten, steht unserer Ansicht nach weit oben auf der Agenda einer zeitgemäßen Bibliothekswissenschaft.

Eine zentrale Aufgabe von LIBREAS ist, das Gebäude der Bibliothekswissenschaft vor diesem Hintergrund – und zwar ergebnisoffen – permanent zu beobachten. Die aktuelle Ausgabe verstehen wir hierzu als erste Sondierung – nicht nur hinsichtlich der Inhalte der Ausgabe, sondern bezeichnenderweise auch hinsichtlich all der Texte, die nicht geschrieben wurden.

Die These vom „Semiotic Turn“ fand, in den Raum geworfen, weitaus weniger Resonanz als wir – auch nach Vorgesprächen – vermuteten. Ist die Hinwendung zu einer Betrachtung von Informationsstrukturen, wie sie ein erweitertes Verständnis des Semantic Web eigentlich zwangsläufig einfordert, im Bereich der Bibliothekswissenschaft doch nicht derart relevant, wie sich die Diskursgemeinschaft gemeinhin selbst versichert? Ist das Semantic Web in der Bibliothekswissenschaft ein potemkinsches Netz und eigentlich eindimensional auf geputzte Fassaden beschränkt, hinter denen sich eine große Leere erstreckt? Oder ist die Community derart mit sich und der Gestaltung ihrer semantischen Innovationsschritte beschäftigt, dass sie keine Zeit findet, Beiträge begleitend zum allgemeinen „Buzzreflex“ um das Thema beizusteuern?

Eine Stichprobe wie die unsere lässt natürlich keinen Rückschluss zu. Dass das Thema insgesamt nicht als irrelevant angesehen wird, zeigt u.a. die Tatsache, dass auch andere Zeitschriften entsprechende Themenausgaben planen (http://www.mdpi.com/journal/entropy/special_issues/cybersemiotics-paradigms). Nur operieren diese für uns erschreckend fern von den Wurzeldisziplinen der Informationssammlung, -erschließung und -vermittlung. Vielleicht erachtet man die Bibliothekswissenschaft in diesem Zusammenhang tatsächlich als unrettbar überholt. Wir würden dies bedauern und möchten daher diese Wahrnehmung als Basis für eine Anschlussdiskussion um den Stand der Bibliothekswissenschaft in den offenen Diskursraum geben. Selbstverständlich sollte diese Diskussion andauernd geführt werden. Sie wird aber zu selten geführt und gern mit dem Argument, man kenne das schon alles, abgeblockt, bevor man überhaupt in die Nähe eines Ergebnisses kommt. Also: Fortsetzung folgt – und zwar so lange, wie notwendig.

Kommentare, Aufsätze, Reflexionen, Anregungen, etc. bitte an die Redaktion. Für Diskussionen dieser Art bohren wir die Fixierung auf die Einzelausgaben auf und werden zukünftig vermehrt auf Preprints setzen, die zeitnah erscheinen.

„Nach der Semantik – Eine neue linguistische Kehrtwende“

Der konkrete aktuelle Schwerpunkt „Nach der Semantik – Eine neue linguistische Kehrtwende“ fragt nach der Notwendigkeit einer Hinwendung zur Semiotik als begrifflichem Bezugsrahmen für die neue Qualität der automatisierten Erschließung und Verfügbarmachung z.B. von wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Zunächst führt Katrin Weller in die Grundidee des Semantic Web ein, um anschließend auf die Bedeutung von Ontologien als neue Methode der Wissensrepräsentation hinzuweisen. Noch erscheint die Idee des Semantic Web bei weitem nicht ausgereift, was nicht zuletzt an der schieren Menge der zu erschließenden Information sowie dem Mangel an Best Practice-Erfahrungen liegt. Für die Anreicherung des Semantic Web blickt die Autorin auf seine Zwischenform, das Social Semantic Web, welches als eine pragmatische Lösungsstrategie für die beschriebenen Probleme zu verstehen ist.

Aber auch das Begriffsinstrumentarium der Bibliothekswissenschaft, das sich am Datenträger Papier orientiert, scheitert gegenüber der fortschreitenden Digitalisierung der wissenschaftlichen Kommunikation. Jakob Voß hinterfragt daher, inwieweit der Dokumentenbegriff der Bibliothekswissenschaft in diesem Zusammenhang noch angemessen ist. Eine Sammlung von Daten mag zwar hierfür eine notwendige Bedingung sein. Hinreichend für die Begriffsdefinition eines Dokumentes sei allerdings, dass die Daten entsprechend modelliert und sich in den Formaten wieder finden lassen.

Dass die aktuelle bibliothekswissenschaftliche Debatte auf Metaphern baut, ist der Ausgangspunkt des Beitrages von Cornelius Puschmann. Die metaphorische Beschreibung der digitalen Wissenschaftskommunikation lässt sich dabei als eine Art Platzhalter verstehen, insofern sie sich mehr oder weniger stark am Datenträger Papier orientiert. Ihr Gebrauch weist damit auf konzeptionelle Lücken hin, die es in Zukunft zu füllen gilt.

Zwei Beiträge nähern sich abschließend dem Schwerpunkt von der bibliothekarischen Praxis an. Dirk Wissens Ausgangspunkt ist das Dienstleistungsangebot einer wissenschaftlichen Bibliothek. Er beschreibt, welche Konsequenzen die verteilte Nutzung von Medien in virtuellen Räumen auf Bibliographien, Kataloge und OPACs hat. Kristen Radcliff Clark adaptiert das Konzept der Intertextualität für die Untersuchung und Herausbildung der Lese- und Schreibfähigkeit von Heranwachsenden und gibt damit einen Vorgeschmack auf unsere kommende Ausgabe zum Thema „Kinder und Bibliotheken“.

„Open Access und Geisteswissenschaften“

Der zweite Schwerpunkt lässt sich als direkte Fortführung der LIBREAS-Ausgabe 14 verstehen und ist selbst ein Beispiel für die veränderten Publikationsstrukturen bei webbasierten Diskursen. Er wurde offen auf Preprint-Ebene im LIBREAS-Weblog geführt (libreas.wordpress.com) und findet in dieser Ausgabe eine vermutlich nahezu willkürlich gesetzte Fixierung, die ebenfalls als Einladung zur Weiterführung des Diskurses gedacht ist. Uwe Jochum, Joachim Eberhardt und Joachim Losehand diskutieren durchaus mit Verve und nicht zuletzt auf dem Pflaster einer den Sommer 2009 bestimmenden harten Diskussion um das Wissenschaftsurheberrecht.

Die darin kollidierenden und mittlerweile auch verschmelzenden Fragen zielen alle in die Richtung, wie denn der rechtliche und damit auch der praktische Rahmen für das wissenschaftliche Publizieren in digitaler Form perspektivisch aussehen soll. Besonders interessant wird die Problematik, wenn man nicht von einer homogenen Wissenschaftskommunikation ausgeht, sondern eine Pluralität der Kommunikationspraxen akzeptiert, die mitunter sogar intradisziplinär anzutreffen ist. Hier ist der letzte Aufsatz zum Thema noch lange nicht verfasst.Vermutlich sind die drei vorliegenden mehr als Vorläufer zu den Diskussionen, die noch kommen werden, zu verstehen. Betrachtet man, wie sehr bestimmte Begriffe in den letzten Monaten geschärft wurden, so zeigt sich, dass auch rhetorisch die Netiquette oder den gesunden Menschenverstand mitunter zuwiderlaufende Debattenbeiträge, als Ausprägungen einer letztlich doch fruchtbaren Diskussion ihre Funktion erfüllen: Sie stecken die Grenzen des Sagbaren, also den Diskursrahmen ab, und ermöglichen damit eine fokussierte Anschlussdiskussion.

und einiges mehr...

Einen anderen, fast möchte man sagen: waidwunden, Punkt des Internetrechts demonstriert ein Beispiel aus der schulbibliothekarischen Blogosphäre. Wie unsicher das Terrain ist, auf dem man sich beim Publizieren im WWW bewegt, zeigt u.a. auch die Tatsache, dass wir nach Einholung einer internetrechtlichen Expertise zwei Zitatstellen in Umschreibungen abwandelten, um eine Angreifbarkeit an dieser Stelle auszuschließen. Man mag dies als übervorsichtig werten, aber es hat sich aus nachvollziehbaren Gründen niemand im Redaktionsteam gefunden, der ein großes Interesse an einem länger währenden rechtsanwaltlichen Briefwechsel hegt und mögliche Bildungsreisen an den entsprechenden Verhandlungs- bzw. Gerichtsstandort, der dank der hiesigen Rechtsordnung irgendwo zwischen Bad Reichenhall und Greifswald liegen kann, unternehmen will.

Dazu gibt es in der wohlgeordneten Ausgabe Nummer 15 noch ein Bündel Rezensionen, wobei sich zwei der Besprechungen mehr oder weniger direkt an den semiotischen Schwerpunkt dieser Ausgabe anlehnen.

Ansonsten dürfte es wenigstens unserer Stammleserschaft nicht entgangen sein, dass wir dem Erscheinungsbild eine etwas veränderte Form gegeben haben. Hierzu und zu allem anderen auch wünschen wir uns zahlreiche Rückkopplungen und ansonsten hoffentlich die eine oder andere Erkenntnis bei der Lektüre.

Ihre und Eure LIBREAS. Library Ideas-Redaktion

20. Oktober 2009