Kurven, Karten, Stammbäume – das lässt sich leicht in Zeit, Raum und Entwicklung übersetzen. Und damit liegen dann die drei Grundabstrakta menschlicher Welterkenntnis unter der Leselampe. Glaubt man dem Literaturwissenschaftler Franco Moretti, so hat seine Disziplin bislang an dieser Stelle ihren blinden Fleck. Man arbeitet sich in der klassischen Literaturwissenschaft derart an Einzelfällen ab, dass der Blick fürs Ganze fehlt und befindet sich folglich in einer methodologischen Sackgasse. Da kommt ein Ansatz, bei dem es darum geht, „der Literaturwissenschaft neue Wege zu eröffnen“, wohl nicht ungelegen, sofern man mit Moretti die Sackgasse als solche sieht.
Neue Wege, alte Pfade
In ihrem Grundansatz erinnern Morettis neue Wege allerdings durchaus an die schon länger begangenen Pfade des Strukturalismus. Morettis Verdienst ist, sie methodisch zu durchmessen. Im vorliegenden Band findet der Leser allerdings mehr einen Kompass denn ein Navigationsgerät und so bleibt ihm viel selbst zu entdecken: Ganz im Stile eines idealtypischen Revolutionärs legt Moretti erst einmal in groben Zügen vor und überlässt es einer in Zukunft zu vollbringenden Auseinandersetzung, „jedes einzelne Schräubchen feinzujustieren.“
Das schmale Bändchen erweist sich demnach als Programmschrift und erfüllt diesen Zweck tadellos. Der erklärt provisorische Charakter schützt immerhin gegen die zu erwartenden Attacken einer der „most backwards disciplines in the academy“ (Moretti in der New York Times), an der Stelle, wo sie dem womöglich wirklich als Provokation empfundenen Versuch, den Methodenpool des Faches in Richtung Graphentheorie, Mapping und Evolutionstheorie umzukrempeln, eine solidere Ausarbeitung abverlangen könnte. Sobald man nun zur Kritik ansetzt, muss man immer mit der Entgegnung rechnen, man sei zu kleinkariert und bremse damit den methodologischen Fortschritt. Letzterer wird aber als notwendig angesehen, will man die Disziplin auf der Höhe der Zeit halten. Dazu zählt für Moretti auch, dass man sich der grundlegenden Relativität wissenschaftlicher Erkenntnis stellt: „'Alles‘ – dafür haben wir schließlich die Astrologie und unsere geisteswissenschaftlichen Metatheorien.“
Man will eigentlich nicht glauben, dass man in den Geisteswissenschaften des 21. Jahrhunderts noch an geschlossene große Erzählungen glaubt. Die Astrologie betreibt immerhin mittlerweile eigene Fernsehsender, aber das gehört hier gar nicht her.
Kanon und Kollektiv
Der Aufbruch zu neuen Wegen beginnt für Moretti in gewisser Weise damit, hinter sich erstmal eine Schranke zu senken. Es gilt, das enge Korsett des Kanons zu sprengen und Abschied von der Textologie des interpretativen „Close Reading“ zu nehmen. Anstatt also zu ergründen, warum Vladimir Nabokov zu Beginn von Lolita T.S. Eliots Gedicht Gerontion – und die Literaturwissenschaft selbst – in gewohnter Raffinesse auf den Arm nimmt, sollte man besser Eliot und Nabokov als Vertreter bestimmter Genre begreifen, sie in einen Zeitstrahl eintragen und mittels elektronischer Datenverarbeitung in objektiveres Großes einordnen. So lässt sich eher das Gesamtbild greifen. Texte sind für Moretti „nicht die eigentlichen Objekte der Literaturgeschichte“. Texte sind – in einer Übernahme des „typologischen Denkens“ Ernst Mayrs – „repräsentative Individuen“, die für eine übergeordnete Gruppe, also beispielsweise das Genre oder einen Formtypus, stehen. Der konkrete Einzeltext ist dabei „ nur ein Blatt an einem der vielen Äste des Stammbaums.“ Folgerichtig versteht Moretti Literatur mehr als einen kollektiven Vorgang denn als ein Ergebnis individuellen Schaffens. Die Betrachtung von Leuchttürmen erweist sich vielleicht aus einer exemplarisch ausgerichteten Perspektive als aufschlussreich, bietet aber nur bedingt Erkenntnisse über das Meer dahinter. Als notwendig zeigt sich demnach die Transformation des Gegenstands der Literaturgeschichte von „individuellen Fällen zu Serien; von Serien zu Zyklen; von diesen zu Genres als ihren morphologischen Verkörperungen.“
Der zufälligen Auswahl bestimmter kanonisierter Texte will Moretti durch die lückenlose Erfassung der gesamten Literaturproduktion begegnen. Traditionell ist die Vollständigkeit des Blickes als Voraussetzung für Objektivität nur über zwei Formen der Eingrenzung zu gewinnen: Entweder man verengt den Betrachtungswinkel in der Tiefe über die Begrenzung der relevanten Aspekte oder in der Breite über den Kanon. Oder beides. Morettis Gegenbild ist die Distanz zum Inhalt als Weitwinkel. Er folgt eher dem ersten Ansatz, in dem sie bestimmte Eigenschaften abstrahiert und darüber hinaus die Texte selbst nivelliert. Die Idee ist so originell wie sinnvoll. Das Störende an dem Unterfangen ist nur, dass Moretti sie leider nicht als systematische Ergänzung, sondern als einzig sinnvolle Alternative in Gestalt einer „rationaleren Literaturgeschichte“ ins Spiel zu bringen versucht.
Viele Freunde unter den Ulysses-Exegeten macht man sich aber sicher nicht, wenn man Moretti ernst nimmt und loszieht um James Joyce mit Knut Hamsun in einem Topf aufzukochen und den Arbeitern im Weinberg des konkreten Textes nicht nur zwischen den Zeilen einen irrationalen Ansatz unterstellt. Dabei gibt es zweifellos zureichend wissenschaftliche Fragestellungen nicht zuletzt in der von ihm vorgeschlagenen „komparativen Literaturwissenschaft“, die eine „Wissenschaft der Weltliteratur“ – wie vermeidet man hier den Kanon? – mit der der vergleichenden Morphologie kombiniert.
Masse und Reproduktion
Im Prinzip hat Moretti natürlich Recht mit einer Erweiterung der Methoden, die der Kunstproduktion in den Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit gerecht werden müssen. Weiterentwickelt eröffnet der Ansatz nahezu identische Analysemöglichkeiten für alle symbolischen Kulturprodukte der Massengesellschaft, also für ein Spektrum, das von der Ansichtskarte über den Popsong bis hin zum Fernsehfilm reicht. Aber man wird damit nicht jeder denkbaren und sinnvollen Fragestellung gerecht. Am Ende verwirft er die Arbeit im konkreten Text auch nicht gänzlich, sondern praktiziert sie vielmehr als Mittel zum Zweck. Um die „morphologische Drift“ überhaupt erst erkennen zu können, muss die Morphologie jedes in das Sample einbezogenen Textes ermittelt werden. Wenn man nun im Rückgriff auf die Spatial Form Joseph Franks[Fn1] – auf die man sich in Morettis Kartenkapitel durchaus einen fruchtbaren Verweis hätte vorstellen können – beginnt, einen Text zu kartographieren, wird man kaum eine Wahl haben, als zunächst einmal textologisch zu arbeiten. Morettis Ansatz stellt entsprechend eher eine Erweiterung als eine Ablösung dar.
Balance und Methode
Verzichtet man also auf den Ausschluss des einen durch das andere, wird das tatsächliche Potential einer derart interdisziplinär angesetzten Methodologie sichtbar. Wenn man wie Moretti schon einmal dabei ist, sich freimütig in anderen Disziplinen zu bedienen, könnte man sich leicht „Checks and Balances“ als Metapher aus der Staatstheorie borgen und es auf ein methodologisches Prinzip der Rückkontrolle reflektieren: Die Erkenntnisse aus der Interpretation des „close readings“ müssten nach einem solchen Verständnis mit denen der abstrakten Methoden widerspruchsfrei vereinbar sein. Ist dem nicht so, dann hakt es entweder auf der einen oder der anderen Seite. Die quantitativen Daten sind nützlich, da sie unabhängig von Interpretationsansätzen funktionieren. Sie müssen dafür aber auch sauber gewonnen werden. Darüber hinaus ist das eigentlich Spannende ja nicht die Datenmenge an sich, sondern das, was man aus dieser ableitet. Hier kommt wieder die Interpretation ins Spiel. Moretti selbst weist darauf hin, wenn er feststellt, dass die Daten in ihren Kurven „insofern eine Herausforderung darstellen, als sie häufig Erklärungen erfordern, die man mit quantitativen Methoden selbst nicht leisten kann.“ Sie bieten sich aber an, um „theoretische Erklärungen falsifizieren [zu] können.“ Buchstäblich Checks and Balances also.
Die statistische Erfassung von Publikationshäufigkeit stellt sich demnach dahingehend als ein auf der Aussageebene trivialer und objektiver Vorgang heraus, als dass er methodisch einen idealen Vorbereitungsschritt darstellt. Für sich sprechen die Zahlen natürlich noch nicht. Insofern ist das Erkenntnismodell, welches Moretti heranzieht, der eigentlich interessante Aspekt.
Dieses ist ein evolutionäres, wobei man neben Darwin Wissenschaftstheoretiker wie Ludvik Fleck und Thomas Kuhn als Gewährsmänner findet. Moretti geht davon aus, dass eine literarische Form immer dann von einer anderen ersetzt wird, wenn sie ihre „künstlerische Brauchbarkeit“ einbüßt. Die Zeitspanne umfasst nach seiner Genre-Analyse aus dem Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts ca. 25 Jahre. Solange hält sich eine Form als „Normalliteratur“. Wie aber bestimmt sich die „Brauchbarkeit“?
Lob der Abstraktion: Morettis Schlüsselband für die Literaturgeschichte.
Form und Gesellschaft
Für Moretti bestimmt sie sich aus der Form und hier blitzt dann auch deutlich marxistische Provenienz des Autors durch. Denn die Form ist streng materialistisch Resultat einer „Konstellation der gesellschaftlichen Kräfte und Ausdruck dieser Kräfte“. Das bedeutet in gewisser Weise, dass eine Gesellschaft bestimmte Formen erst ermöglicht und in jedem Fall bevorzugt, was die Produktion dieser Formen wiederum honoriert und zwar solange, bis die Entsprechung zwischen Gesellschaft bzw. gesellschaftlichem Anspruch und der Literatur überholt ist. Genres verschwinden also nicht, weil sich die Themen ändern, sondern weil – so Morettis These – die Leser für die Themen verschwinden. Er spricht mit Karl Mannheim von einer „Generationenrhythmik“. Dies erklärt dann auch in gewisser Weise, warum sich Charlotte Roche in diesem Jahrzehnt besser verkauft als Eric Malpass, letzterer aber nach wie vor lieferbar ist. Der körperbetonte Stil der 18-jährigen Helen Memel ist für die aktuelle Leitgeneration ein adäquateres Ausdrucksmittel für das Coming of Age in mittelständischen Familienstrukturen als der von Briefbeschwerern faszinierte 7-jährige Gaylord Pentecost. Zumal, wie man oft hört, das Medium Brief in der Gesellschaft nur noch einen Nischenrolle einnimmt. Andererseits scheint ein kleiner, marktrelevanter Teil der „Generation Gaylord“ immer noch da zu sein, weshalb die Nische noch bedient wird.
Genreschaften
Der Begriff des Genres erweist sich allerdings selbst als nicht unproblematisch. Form und Thema liegen immer eng beieinander, bleibt doch die Form Ausdrucksmittel für bestimmte inhaltliche Anker. Dies erschwert eine morphologisch eindeutige Abgrenzung. Daraus ergeben sich Inkonsistenzen: Der Briefroman und der Multiplot-Roman sind streng formale Bestimmungen, während Sportroman und Dorfgeschichten sich stärker über ihr Sujet bzw. den Handlungskontext definieren. Der „Amouröse Briefroman“ ist dann die Mischform. Wie man Abgrenzungslinien durch die auf Anspielung und Intertextualität setzenden Beispiele des modernen Romans konsequent ziehen kann, wird noch gar nicht thematisiert. Aus Zusammenhängen der Wissensordnungen weiß man um die Schwierigkeit einer Klasse „Sonstiges“.
Dies ändert nichts an der Tatsache, dass ein Genre oder eine Gattungsanalyse zweifellos sinnvoll ist. Die Voraussetzung ist allerdings eine Kontextualisierung des Materials, wie es der russische Philosoph Michail Ryklin geradezu beispielhaft in seiner Arbeit über „Kommunikation als Religion“ am Beispiel der Retour de l’U.R.S.S.-Literatur ausführt.[Fn2] Die Gattungsbezeichnung stammt von Jaques Derrida und wurde im Prinzip erst 50 Jahre nachdem die letzten dieser Reiseberichte, die, oft verklärt, vom Stand der Durchsetzung von Sozialismus und Kommunismus aus westlicher Perspektive berichten, geprägt. Sein Mittel der Wahl bzw. Erkenntnis des „eigenen Rhythmus, einer inhärenten Dramatik und einer wiederkehrenden formalen Struktur“[Fn3] war die Analyse des Diskurses. Es bedurfte demnach einer Methode aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um eine Gattung aus der ersten zu erkennen. Deutlich wird hieran, dass Gattung selbst eine flexible Kategorie darstellt, die vom jeweiligen Blickwinkel abhängt. Den sauberen Schnitt zwischen Gattung 1 und Gattung 2 kann man nur setzen, in dem man die Perspektive fixiert.
Ebenso deutlich wird, wie komplex und verschachtelt die Bezugsnetze sind, an denen man die Perspektiven ausrichtet. Wer sich von Moretti eine Vereinfachung erhofft, wird enttäuscht. Die Literatur gestaltet sich so komplex wie die soziale Umwelt, in der sie sich vollzieht und nur weil man dem Mikroskop ein Makroskop beifügt, wird sie nicht durchsichtiger. Letztlich erweist sich die singuläre Betrachtung gegenüber der der Wechselbeziehungen vielleicht sogar als leichter in der Handhabung. Der Charakter der Literatur als soziale Praxis führt folgerichtig zu einer Literaturwissenschaft, die auch als sozialwissenschaftlich verstanden werden muss.
Struktur und Beziehung
Was Moretti dementsprechend eigentlich unternimmt, ist eine Verschiebung von einer objektzentrierten Literaturwissenschaft hin zu einer an Prozessen und Relationen ausgerichteten. Also nichts anderes als eine Strukturalisierung dessen, was er gemeinhin als literaturwissenschaftliche Praxis ansieht, unter Zugabe einiger evolutionstheoretischer Ingredienzien. Als Leitkategorien fungieren nicht primär die Biografie des Autors, der konkrete Entstehungskontext und eine wie auch immer intendierte Aussage, sondern temporale, räumliche und morphologische Aspekte.
Damit bewegt er sich z.T. ein wenig hinter der Zeit, nämlich bei Roland Barthes’ berühmtem Tod des Autors, und z.T. auf der Höhe derselben. Die abstraktere Debatte, ob Zyklen oder Zufall für die Durchsetzung von Innovationen verantwortlich sind, wird schon recht lange in der Volkswirtschaft in Ankopplung an das Modell Kondratjews geführt und auch hier sind System- bzw. Strukturbeziehungen das Bindeglied. Die Autoren der Retour de l’U.R.S.S. fungierten z.B. als Bindeglieder und damit strukturell als „Vernetzungen“ zwischen verschiedenen Systemen: zwischen den politischen Systemen in Westeuropa und dem in der Sowjetunion, zwischen den westeuropäischen Intellektuellen und der KPdSU, zwischen dem Reisenden als Individuum und den Individuen, denen er auf seiner Reise begegnet sowie denen, die seine Berichte lesen, zwischen denen die die Berichte lesen und der Sowjetunion, zwischen dem Autor, dem Verlag und dem Buchmarkt usw. bis zur Beziehung zwischen Derrida, Ryklin und eigentlich auch allen, die diesen Satz lesen. Eine Methode, die zwischen den diversen Wirkungs- und Adressatenebenen systematisch differenziert und dieses Netzwerk darstellt, wäre für eine adäquate Rezeptionsgeschichte nicht nur hilfreich, sondern eigentlich die Basis.
Karte und Raum
Für diese und auch die textimmanenten relationalen
Beziehungen, die Moretti im Karten-Kapitel seines Buches ins Zentrum
rückt, bietet die räumliche Vergegenständlichung
das adäquate Visualisierungsmittel. Gerade in der Debatte um
die Raumtheorie erkennt man, wie dynamisch der Umgang mit ein und
demselben Gegenstand erfolgen kann: Der vermittels einer Landkarte
abgebildete Raum kann genauso als Repräsentation eines physisch
definierten Realraums gesehen werden, wie als Abbildungsfläche
von Beziehungen zwischen einzelnen Punkten. Beides ist im Schulatlas
enthalten. Wenn man daran geht, den durchweg relational definierten
Cyberspace zu topographieren, böte der reziproke Ansatz
einer festen Verortung und Visualisierung des Cyberspace in realräumlichen
Bildmetaphern eine der menschlichen Wahrnehmung entsprechende Konkretisierungsform
für das Navigieren in diesem. Der Erfolg von Google-Maps
als Basis für diverse Mash-Ups scheint jedenfalls
in diese Richtung zu weisen.
Die von Moretti vertretene Anwendung der Geographie auf Erzählpraxen
lässt natürlich im Kontext der Literaturwissenschaft sofort
an das Konzept des Chronotopos von Michail Bachtin denken.
Allerdings betont Moretti in besonderem Maße die Abstraktion,
die aus der geographisch geprägten Verortung in einer Karte
ein geometrisches Netz ableitbar macht. Er befindet sich demnach
in seinem Betrachtungsgebiet auf einer Linie mit dem, was beispielsweise
mit der Raumsoziologie in die Soziologie drängt: Die Konstruktion
von Raum über Relationen.
Moretti löst einzelne Elemente vom inhaltlichen Geschehen und topographiert sie unabhängig vom Ablauf einer Handlung und erhält dadurch eine Karte, auf der die Distanzen zwischen den Elementen sichtbar werden. Nicht der zeitliche Längsschnitt, sondern der räumliche Querschnitt interessiert an dieser Stelle. Sucht man wie er Muster im Nebeneinander, also in der Simultanität der Elemente, bietet sich dieser Schritt an. Unklar bleibt dabei, wie die einzelnen Elemente als für die Betrachtung relevant ermittelt werden. Hier bleibt in gewissem Umfang doch nur eine – nicht-interpretative – Tiefenlektüre im Sinne einer Bestandsaufnahme. Oder ein automatisiertes Text-Mining, wie es den Vertretern der semantischen Technologien vorschwebt.
Die kartographische Literaturanalyse abstrahiert nach Moretti auf die Relation zwischen einzelnen inhaltlichen Elementen sowie ihren Häufigkeiten. Die Karten sind zwar teilweise auf realräumliche Kontexte bezogen, was für bestimmte konkrete Fragen hinsichtlich der Zielerkenntnis notwendig sein kann. Sie sind aber auch abstrakt, rein auf bestimmte Relationen bezogen, denkbar.
Eine solche Karte des Textes entspricht dabei nicht dem Fluss einer Narration, sondern bietet die Visualisierung eines Musters, welches sich aus der Textstruktur ergibt und im Normalfall nicht bewusst durch den Autor manipuliert ist. Es geht also um Texturen unter dem Text. Diese werden als geometrische Muster sichtbar, sind also nicht zufällig entstanden oder willentlich entworfen, sondern Resultat einer, wie es Moretti nennt,„Kraft“. Auch hier bleibt die Frage, was wiederum hinter dieser steht: Zufall oder Strukturzwang? Indem Moretti selbst die Kartographie süddeutscher Orte durch Walter Christaller heranzieht, gibt er schon eine Antwort. Nur unterscheidet sich die Kraft, die hinter konkreten geographischen Mustern steht, wohl von der, die hinter der räumlichen bzw. räumlich repräsentierbaren Relationalität von Ereignissen in Romanen zu vermuten ist. Für letztere ist nicht zuletzt ausschlaggebend, ob die dargestellte Relationalität mit den Vorstellungen der Leserschaft korreliert oder nicht. Der Leser als temporärer Bewohner des Textes muss sich nicht wie im Realraum den Bedingungen anpassen. Er kann das Buch auch einfach zuklappen, sich der Handlung entziehen und zu einer anderen wechseln. Das Umziehen ist hier ein vergleichsweise einfacher Akt – es sei denn, man lässt sich im literaturwissenschaftlichen Seminar genau über diesen Titel prüfen.
Evolution und Form
Folgt man Moretti, wirkt also das Publikum als zentraler Auslesefaktor in der Evolution der literarischen Formen: Es bekommt aus der Literaturproduktion eine sich permanent mehr oder weniger differenzierende Formenvielfalt zur Auswahl angeboten, aus der es sich die ihm entsprechenden Varianten herausnimmt. Die erwählten Formen werden am Leben erhalten. Eine aktuell vorliegende und überlebende Form ist das Ergebnis der Konstellationen gesellschaftlicher Kräfte.
Selbstverständlich gibt es nicht die eine Form. Vielmehr wirft Moretti mit seiner Kritik am Kanon seinen Kollegen gerade diesen Reduktionismus auf eine gültige Basisform vor. Durch die Begrenzung auf ein jeweils zentrales Modell „gewinnen diese Theorien zwar ihre Eleganz und Attraktivität, gleichzeitig werden so jedoch neun Zehntel der Literaturgeschichte ausgelöscht. Und das ist zuviel.“ Ihm geht es hier gerade um Sensibilität für die unterschiedlichen morphologischen Ausdifferenzierungen und nicht um die schnelle Bestätigung des Formaltypischen und den Übergang zur Auslegung des Inhalts.
Aus diesen Ausdifferenzierungen bzw. Divergenzen lassen sich Rückschlüsse auf die Rahmenbedingungen, in denen sich eine Form etabliert, ableiten. Um dies zu veranschaulichen, greift Moretti in diesem Zusammenhang wiederum zur Raummetapher als Erklärungsbild: „Eine neue Spezies […] entsteht, sobald eine Population in ein anderes Gebiet übersiedelt und sich anpassen muß, um zu überleben.“ Die Spezies ist beispielsweise ein formales Merkmal – im Buch wird das Beispiel der „erlebten Rede“ ausgeführt – das in einem spezifischen gesellschaftlichen Rahmen, den Moretti in seiner kurzen Beispielanalyse an den Bezugsorten bestimmter Schriftsteller anbindet, in bestimmter Form variiert wird. Diese „[r]äumliche Diskontinuität treibt also die morphologische Divergenz voran.“
Stammbaum und Karte
In der Konsequenz müsste die morphologische Differenzierung bzw. schlechthin die „Entwicklung“ ebenfalls weniger als konkretes Fortschreiten in der Zeit, sondern mehr als abstrakter Möglichkeitsraum bewertet werden. Die Evolution der Form und damit in der Ableitung die Entwicklung der Menschen wäre folglich nicht gerichtet. Das Modell des Stammbaums, das konkret von einem Ursprung ausgeht, suggeriert dagegen eine Richtung.
Es gilt, den Stammbaum als Visualisierungsmittel zu begreifen, bei dem der Ausgangspunkt selbst nur eine aus einem größeren Entwicklungsrahmen herausgegriffene Verästelung darstellt. Zeit als Maßstab für Differenzierung besitzt in diesem Modell dahingehend Gültigkeit, als dass eine konkrete Differenzierungsstufe eine bestimmte andere voraussetzt, dieser also folgt. Es gibt ein Nacheinander, welches sich aber analog zum Raum als relational zeigt. Eine Differenzierungsform – oder auch ein konkreter Text – lassen sich dabei als manifestierte Differenzierungen mit Bezügen zu Vorläufern und Folgeformen verstehen. Dass in diesem Geflecht der Relationen zwei identische Formen an verschiedenen Positionen im Morphospace entstehen, bleibt erfahrungsgemäß unwahrscheinlich, ist aber nicht ausgeschlossen.
Das Stammbaummodell scheint in gewisser Weise im Konflikt mit der bei Moretti konzentrisch geschilderten Topographisierung, da die Differenzierung dem Stamm folgend in ihrer Entwicklung gerichtet verläuft. Die Lösung liegt allerdings schon im Charakter der Karte selbst begründet: Das Kreismodell der Karte entspricht der Draufsicht auf den Stamm. Man blickt quasi von oben in die Krone. Die Dimensionen der Karte sind Länge und Breite, die des Baumes, Breite und Höhe. Die Zusammenführung macht aus zwei zweidimensionalen Modellen ein dreidimensionales. Dies auszuarbeiten wäre ein spannendes Unternehmen und vielleicht gibt es bereits entsprechende Ansätze in anderen Disziplinen. In der Literaturwissenschaft aber wohl eher nicht und auch Moretti selbst geht nicht soweit.
Man könnte jedoch unter einer solchen Voraussetzung durchaus auch einmal mit einer Vertauschung experimentieren und das inhaltliche Mapping der Handlungselemente in die Struktur des Stammes übertragen, sowie die Herausdifferenzierung formaler Eigenschaften in die Dimensionalität der Karte. Die Frage, ob man dadurch tatsächlich mehr Anschaulichkeit gewinnt, ist natürlich offen. Zur Prüfung der Tauglichkeit des jeweiligen methodischen Ansatzes ist solch ein Gedankenspiel aber hilfreich. Denn in der „Vergleichenden Morphologie“ ist davon auszugehen, dass sich bestimmte Differenzierungen simultan entwickeln. Wenn man es unternimmt, aus einem derartigen Morphospace Entwicklungsmöglichkeiten vorhersagen zu wollen bzw. Vorbestimmungen zu erkennen, erhält man mit der Überblendung von Baum und Karte immerhin eine zusätzliche Dimension, in der sich die Entfernung vom Ursprung und zu Parallelvarianten ableiten lässt.
Erkenntnisziel und Geltungsrahmen
Wenn man als Leser Morettis methodologischen Dreischritt mitvollzogen hat, bleibt man etwas gespalten zurück. Das liegt weniger daran, dass sein Ansatz nicht zündet. Im Gegenteil: Er zeigt deutlich, wie sich das Analysepotential der Literaturwissenschaft ganz nennenswert verbreitern lässt, indem er drei in diesem Feld wenig präsente Methoden andiskutiert. Allerdings wäre vor der eingeforderten methodologischen Wende zu klären, was Literaturwissenschaft überhaupt erkennen soll. Und ob eine strukturalistische Musterung für dieses Erkenntnisziel das Mittel der Wahl sein kann.
Die morphologische Reduktion jedenfalls könnte die Literatur zu einem Untergebiet der Sprachwissenschaft schrumpfen lassen. Literatur erschiene dabei als besondere, bestimmten Strukturen folgende Variante von Sprachgebrauch und tatsächlich ist die Annäherung an einen Roman aus einer soziolinguistischen Richtung nicht ohne Reiz. Dazu wiederum bedarf es jedoch einer tieferen soziologischen Grundierung des Ansatzes Morettis.
Die Kurvendiskussion führt in dieselbe problematische Ecke der L’art pour l’art, in der sich Bibliometrie und Szientometrie häufig befinden und bewegen sich damit interessanterweise im Anspruchsfeld einer modernen Kunst, die Selbstbezüglichkeit in ihr Zentrum rückt. Nur teilt Wissenschaft diesen Anspruch äußerst selten. Der Künstler-Wissenschaftler steht also vor seinem Ausgangsmaterial – in diesem Fall einem Pool von Daten – kann sich aber nicht legitim der freien Kombination hingeben, sondern ist an Hypothesen gebunden, in denen die relevanten Relationen für eine Betrachtung ermittelt und formuliert werden. Moretti führt das Problem mitsamt einer möglichen Lösung selbst an, aber nur wenig aus. Der Schlüssel findet sich in der Kombination der Daten mit konkreten Ereignissen und Entwicklungen. Man legt also z.B. einen Zeitstrahl auf einen anderen und sucht nach Schnittpunkten, die in der Schlussfolgerung auf einen Zusammenhang verweisen.
Für die Kartographierung bzw.das Mapping gilt ähnliches: Es erweist sich nur dann als sinnvoll, wenn die Anbindung an die kulturelle Umgebung gelingt, also den gesellschaftlichen Rahmen, in dem es vollzogen wird und Gültigkeit beansprucht.
Den drei abstrakten Ansätzen ist also gemeinsam,
dass sie für sich genommen nur eine eher selbstreferentielle
Aussagekraft besitzen. Sieht man Wissenschaft aber als in einen
gesellschaftlichen Rahmen eingebettet und wissenschaftliche Erkenntnis
als Möglichkeit, Handlungsziele deutlicher herauszustellen
und damit konkret das Verhalten zu beeinflussen und Unsicherheit
zu reduzieren, geht es nicht ohne eine Kontextualisierung. Dies
umfasst immer auch eine inhaltliche Ebene und enthält also
auch immer ein Element der Interpretation. Der Literaturmarkt ist
nicht nur ein „rücksichtsloser Wettbewerb der Formen“,
sondern eben auch einer der Themen. Gerade in der Literatur lässt
sich Form schwer ohne Thema denken und wenn man formale Extremformen
wie z.B. die konkrete Poesie betrachtet, muss man feststellen, dass
diese weniger gelesen wird, sondern mehr als visuelle Kunst erfahrbar
wird.
Nicht zuletzt setzt die Genrebestimmung eindeutig eine thematische
Verortung voraus. Um diese aber gerade in der Literatur dynamisch
und entwicklungsoffen zu halten, muss man sich eben doch ab und
an durch ein Schlüsselwerk durcharbeiten, um es zu erschließen.
Am besten aber durch mehrere. Und in zeitlicher Distanz –
Retour de l’U.R.S.S. mag hier als Beispiel für
ein Re-Reading in Ergänzung zum Close Reading
und idealerweise einer abstrakten sowie, wo angebracht, quantitativen
Analyse gelten.
Gerade mit Kreativprodukten, wie sie von Literatur im Idealfall hervorgebracht werden, gehen standardisierte Klassifikationen eher grobschlächtig um. Dies gilt umso mehr in der Nahsicht, die sich auch dort um Vergleiche bemüht, wo sich ein Vergleich kaum findet. Hier ist der genealogische Ansatz oft angemessener und insofern hat Moretti mit dem Stammbaummodell den Hebel für die Analyse im Angebot. Nur wird hier gleichzeitig die Bedeutung des klassischen Ansatzes der Tiefenlektüre deutlich: Ohne diese fällt es schwer, intertextuelle Beziehungen in Form und Inhalt aufzuzeigen.
Dies gilt natürlich besonders für Produkte einer wie auch immer gearteten literarischen Avantgarde, deren zentrales Kennzeichen es ist, aus der Schematisierung herauszufallen. Diese entsteht sicher nicht im luftleeren Raum, weist aber oft stärker den Willen zum Bruch als den zur Kontinuität auf. Die Literaturwissenschaft, wie sie Moretti als überholt ansieht, widmet sich bevorzugt diesen Ausnahmetexten. Man kann nun berechtigt fragen, ob sie dies tun soll oder ob neben dem Kanon des Besonderen nicht auch ein Kanon des Allgemeinen, gemeinhin als banal und die jeweilig gültige morphologische Redundanz honorierenden Massengeschmack treffend beschrieben, eine stärkere Gewichtung in der Literaturwissenschaft verdient. Wenn Moretti darauf hinweisen möchte, liegt er wiederum auf einer Linie mit der verstärkten Thematisierung von alltags- und popkulturellen Phänomenen in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften.
Für eben die Normalliteratur sind Morettis Grundmethoden sicher eine ausgezeichnete Annäherung und womöglich gar die einzige Möglichkeit, um die Quantität dieser Kulturprodukte überhaupt verarbeitbar zu machen. Hier bietet sich eine Disziplinen übergreifende Elaboration zweifellos an. Auch führt die Pluralisierung von Lebensstilen zu einer Differenzierung von literarischen Geschmackspräferenzen. Es wäre also spannend zu prüfen, inwieweit eine pluralisierte Nischenkultur nicht auch zu einem kräftigen Nebeneinander von verschiedenen Normalliteraturen führt.
Die reizvollste Herausforderung ist perspektivisch vielleicht, Morettis Idee selbst in Rückgriff auf seine und wissenschaftssoziologische Ansätze zu beobachten und ihre Tauglichkeit dadurch zu ermitteln, ob sie die (wissenschafts)kulturelle Selektion eine Weile übersteht. Die Chancen stehen nicht schlecht, auch wenn er sich selbst durch die Rigorosität, mit der er den Ablösungsdiskurs angeht und zugleich selbst nicht durchhält, wissenschaftlich etwas in die Ecke drängt. Seine Hypothesen und methodischen Ideenskizzen sind ohne Zweifel anregend, aber eben nicht einzigartig genug, als dass nicht von anderer Stelle andere Einflüsse ganz ähnlich auf die Literaturwissenschaft wirken könnten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich Moretti vor allem sensibel für den wissenschaftlichen Zeitgeist.
Postmoderne und Hypertext
Dieser Zeitgeist nähert einst als getrennt angesehene Phänomene an. Ein Netz, in dem alles, was symbolisch darstellbar ist, mit allem zusammenhängt, ist seine Metapher. Entsprechend nahe liegt es, Verbindungslinien zwischen den drei Leitmetaphern der Methodologie Morettis – Kurve, Karte, Stammbaum – sowie Phänomenen, die aus dem WWW und postmoderner Kultur bekannt sind, zu ziehen. Die digitale symbolische Kultur, die ihre Kommunikationen über dynamische, flexibel verknüpfbare Plattformen verschaltet und in der Tat im Kern auf eine Struktur, nämlich die binäre, reduzierbar ist, wird durchgängig auch mit Methoden erfasst, wie sie Morettis Ansatz spiegelt:
1. Sowohl Technorati wie auch Google-Zeitgeist und andere Webquellen liefern kurvenfähiges Datenmaterial en masse, welches Rückschlüsse auf die kulturelle und gesellschaftliche Verfasstheit bestimmter Nutzergruppen zulässt.
2. Die Relationierung von symbolischen Zusammenhängen erlebt mit Google Maps und Live Maps in Gestalt sogenannter Mash-Ups eine sehr rege Nutzung. Mit dem so genannten Mobile Computing, beispielsweise über Dienste wie Google Latitude verschwimmen die Grenzen zwischen virtuellem und realem Raum weiter. Die Landkarte wird zum Navigationssystem, auf dem konkrete wie rein symbolische Aspekte abgebildet werden. Der New Yorker Adresse 243 Riverside Drive kann auf einer solchen Karte problemlos die Entsprechung einer bloßen Postadresse genauso zugewiesen werden, wie der Fakt, dass Uwe Johnsons Hauptwerk Jahrestage hier einen zentralen Schauplatz findet oder auch, dass zwischen dieser Adresse, die in den Jahren 1966-1968 Johnsons tatsächliche war, und der Wohnung, die Hannah Arendt ab 1967 bewohnte, siebeneinhalb Querstraßen den Hudson hinunter liegen. Oder auch die Tatsache, dass jemand, der Google Latitude benutzt, diesen Weg gerade entlangläuft. Jede symbolische Aufladung realen Raums ist so mit einfachen Mitteln kartographierbar und im WWW mit Hypertextlinks verknüpfbar.
3. Verhältnismäßig einfach strukturierte und zu bedienende Artikulationstechnologien in den virtuellen Kommunikationsräumen bilden einen Handlungsrahmen, der zu einer über den technischen Rahmen hinaus kaum kanalisierbaren Vielfalt symbolischer und medialer Ausdrucksformen führt. Sehr präzise – weil digital erfasste und maschinell auswertbare – Feedback-Möglichkeiten machen die Bestätigung bzw. Ablehnung bestimmter Äußerungsformen und –inhalte klar nachvollziehbar. Kurz: Der Hypertext des WWW bietet sich wie keine andere Textform für ein Mapping und zugleich für eine Erfassung in Stammbäumen an. Bei delicious ist nachvollziehbar, wer als erstes in der Community mit welcher Erschließungssemantik einen Inhalt und damit eine Idee als aufhebenswert erachtet hat. Der Zeitpunkt ist exakt gestempelt. Zudem ist gerade über das Erschließungsvokabular ersichtlich, in welchem Umfeld dieser Inhalt verortet wird. Der blinde Fleck bleibt hier gerade nicht die Genealogie, sondern die Intention, auf die man über die sichtbaren Vernetzungen und Auszeichnungen hininterpretieren muss. Interessant wäre sicher, zu prüfen, inwieweit sich Gemeinsamkeiten und Durchsetzungsmuster zu klassischen Textmodellen zeigen. Darüber hinaus liegt die These nah, dass es eine Beschleunigung der Differenzierungen gibt, sich also die Haltbarkeit einer „Normalform“ verringert und eine Idee mit recht hohem Tempo modifiziert oder vergessen wird. Da die hypertextuelle Spur aber in der Regel zugänglich bleibt, ist auch eine verworfene Idee potentiell jederzeit verhältnismäßig leicht reanimierbar.
4. Die Reduktion auf das Element „Normalform“ oder „Normalliteratur“ scheint in einem stark pluralisierten kulturellen Umfeld kaum mehr tragfähig. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass es verschiedene, mehr oder weniger leicht kombinierbare, simultan existierende Leitformen gibt, die natürlich maßgeblich von den Möglichkeiten der Kommunikationstechnologie beeinflusst werden. Aufschluss darüber, welche Ideen sich wie durchsetzen – z.B. warum die Wikipedia zum aktuellen enzyklopädischen Leitmedium avancierte – lassen sich möglicherweise über die Hinzuziehung diskursanalytischer Methoden ermitteln.
5. Darüber hinaus harmoniert das Modell der dominanten „Normalform“ durchaus mit dem Wisdom of the Crowds-Ansatz. Der Inhalt der Wikipedia lässt sich für eine bestimmte Kohorte, nämlich die der webaffinen und engagierten Internetnutzer, aufgrund des Konsensverfahrens seines Entstehens als Normaltext verstehen. Ähnliches lässt sich übrigens auch für das „Normalwerkzeug“ des Zugriffs auf Webinhalte sagen: Google ist deshalb so prominent, weil es ein Großteil der Internetnutzer als Normalform übernommen hat. Sowohl an Google wie auch an der Wikipedia lässt sich obendrein feststellen, dass die Offenheit dieser medialen Systeme in Kombination mit der Institutionalisierung ihrer Nutzung ein entscheidendes Merkmal für die Verfestigung im Alltagsgebrauch und damit im Status der Normalform bedeuten.
Wenngleich Franco Morettis quantitative Literaturtheorie
als Leitmethode einer allgemeinen Literaturwissenschaft im vorliegenden
Entwicklungsgrad, der einer ausformulierten Hypothese entspricht,
nur bedingt in Frage kommt, vermittelt das sehr lesenswerte Büchlein
etwas anderes: Eine Ideensammlung für methodische Entwicklungen,
mit denen man virtuellen Kommunikationsprozessen entgegentreten
kann. Kurven, Karten, Stammbäume – all das lässt
sich in den Netzstrukturen exzellent visualisieren. Was die Auseinandersetzung
dort aber zeigt, ist, dass die technisch-quantitativen Erschließungsmethoden
bislang ausgerechnet auf der Ebene der Bedeutung scheitern. Das
semantische Netz ist bis heute ein straff syntaktisches. Vielleicht
sollte man an dieser Stelle gerade den intensiveren Austausch mit
interpretativen und hermeneutisch ansetzenden Wissenschaftsprogrammen
suchen. Also eine Art Gegen-Moretti.