Wie jede Wissenschaft hat auch die Bibliothekswissenschaft ihre Axiome. Spätestens mit der Entwicklung und Durchsetzung westlicher demokratischer Gesellschaften im zwanzigsten Jahrhundert fungierten Bibliotheken, aber auch Museen und Archive, als Vermittler zwischen Vergangenheiten und möglichen Zukünften. Dauerhaftes Erinnern und stetiges Lernen gestatteten es dem Nutzer, sich in der Gegenwart dem Anderen zu öffnen und zugleich die eigene Identität zu finden. Dass die Sammlung, Speicherung und Verfügbarmachung nur über Selektivität von Vergangenen erfolgen konnte und damit Bibliotheken Bestandteil einer prozesshaft zu erreichenden gesamtgesellschaftlichen Fortschrittsgeschichte wurden, konstituierte einen Grundsatz, der sich heutzutage verstärkt zugunsten einer ewigen Gegenwärtigkeit auflöst.
Inzwischen ist nicht mehr die
erfahrbare Vergangenheit handlungsleitend, sondern ihre immerwährende
Reproduktion in der Gegenwart. Dadurch geht die Historizität
einer Narration im Bild oder in einer Textur verloren. Die Folge
ist das dauerhafte Ereignen einer Masse an Objekten und Dokumenten,
deren entkontextualisierte Aussagen zwar zeichengenau durchsuchbar
sind, aber nicht mehr sinnstiftend wirken. Insbesondere Initiativen
zur Digitalisierung von Kulturgütern führen zu einer Inflation
an Trägern, deren Inhalte aufgrund ihrer Herauslösung
aus dem Ursprungskontext unter dem Anspruch eine flexiblen Rekombinierbarkeit
sowie ihrer zweidimensionalen Abbildung nicht mehr systemrelevant
verarbeitet werden.
Wie lässt sich dieser Entkopplung von Vergangenheit und Zukunft
in der Gegenwart, welche in diesem Zusammenhang einer sich digitalisierenden
Geisteswissenschaft[Fn1]
oder der Bibliothek 2.0[Fn2]
zugeschrieben wird, überhaupt entgehen, ohne die Fehler eines
„Kollektivsingulars von Geschichte“ zu wiederholen oder
der Moderne nachzutrauern? Eine Alternative bietet der US-amerikanische
Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen an, dessen Werk Echolalias
– On the Forgetting of Language seit 2008 in einer überaus
lesbaren deutschen Übersetzung von Michael Bischoff im Suhrkamp-Verlag
vorliegt.
Heller-Roazens Hauptthese scheint paradox: Vergessen unterliegt der Sprachpraxis immanent, sie macht aber zugleich das Vergessen unmöglich. „Das Unvergeßliche ist so wenig das Gegenteil von Vergessen, dass es selbst dem Gedächtnis eines Menschen entfallen kann, auf den es in denkbar beispielhafter Weise zuträfe“ (S. 247) heißt es im Schlusskapitel von 21 anregenden Abschnitten, die mit der Beobachtung des Lallens eines Kindes beginnen und mit Überlegungen zum biblischen Bauwerk des Turms von Babel enden. Im Rekurs auf Betrachtungen Roman Jakobsons verfügen Kleinkinder vor der Spracherwerbsphase über einen Apparat, der ihnen die Artikulation sämtlicher in allen Sprachen vorkommenden Laute erlaubt. Im Zuge der späteren Konditionierung innerhalb einer Sprachgemeinschaft verlieren sie jedoch diese Fähigkeit. Dennoch kehren Laute, aber auch vergessen geglaubte Worte und Idiome häufig wieder und hallen im Bewusstsein des Sprechers zurück.
Echolalien Nation - Das Grundprinzip "Wiederholung" treibt den Menschen in den schmalen (linguistischen) Raum zwischen seiner Vergangenheit und seinen Zukünften.
Als einen seiner Kronzeugen wählt Heller-Roazen im sechzehnten Kapitel Elias Canettis autobiographische Erinnerungen Die gerettete Zunge: Geschichte einer Jugend, welche exemplarisch für die „verstörende Erfahrung“ (S. 173) des Sprachverlustes und des Spracherwerbes steht. Galt seit dem Mittelalter die Muttersprache als primäre Sprache, die durch Zweitsprachen ergänzt wird, so musste Canetti die Erfahrung machen, dass er seine Muttersprache vergessen hatte. Die zweite Sprache ergänzte nicht, sie ersetzte. Aufgewachsen im bulgarischen Rutschuk in einem Umfeld, das vom Bulgarischen und Landino, einem innerhalb der jüdischen Diaspora weitervermittelten spanischen Idiolekts aus dem Mittelalter, geprägt war, erlernte Canetti als Achtjähriger das Deutsche, welches die Sprache wurde, in der er später dichtete und dachte. Canetti berichtete erstaunt, wie er Ereignisse seiner ersten Kinderjahre nicht in der Mutterprache, sondern in der später erlernten deutschen Sprache erinnert. Heller-Roazen zitiert: „Wie das genau vor sich ging, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt, bei welcher Gelegenheit dies oder jenes sich übersetzt hat“ (S. 182), um daraufhin ein Erlebnis Canettis in Prag wiederzugeben: Dieser erkannte dort intuitiv das tschechische Wort hudba für Musik wieder, ein Erlebnis, das ihm zeigte, wie sich das Slawische in ihm nachwirkte. Allerdings findet Heller-Roazen diese Erklärung von Canetti wenig plausibel:
„Die typologischen Ähnlichkeiten zwischen der südslawischen und der westslawischen Sprache sind zu gering, als daß man die eine in der anderen wiederfinden könnte. Sinnvoller wäre es da schon die Annahme, daß Canetti in Prag nicht die Sprache hörte, sondern ein Echo: den Klang einer vergessenen Sprache in einer anderen.“(S. 188)
Somit kann eine Muttersprache nicht eine Sprache als solche, wie das Bulgarische oder Deutsche sein, sondern sie ist in den Augen Heller-Roazen mit Bezug auf einen Brief von Marina Zwetajewa an Rainer Maria Rilke zugleich Medium und Resonanzkörper jeglichen Sprechens, „in dem jede Sprache unter dem Einfluß einer jenseits ihrer Grenzen erklingenden Musik sich ganz ‚von selbst‘ übersetzt und in ‚eine andere‘ übergeht, ob französisch oder deutsch, wird wohl gleich sein‘“(S. 190).
Wenn wir diese Unterscheidung von Muttersprache L als Medium jeglichen Sprechens und n-ten Sekundärsprachen l1,...,ln akzeptieren, wird auch verständlich, warum Heller-Roazen Debatten um aussterbende Sprachen als „Sackgasse“ begreift. Mitunter scheint es, als würde eine Sprache mit ihren Sprechern sterben, wofür dramatische Berichte und Szenarien stehen, die zu einer Vielzahl an politischen Interventionen führen. So heißt es häufig, dass elektronische Medien und die globalisierte Wissenschaftskommunikationen den Tod der Sprachenvielfalt zugunsten eines funktionalen Englisch bedingen und daher Multilingualität gefördert werden müsse.
Für Heller-Roazen findet sich die Einsicht, dass Sprache ein organisches Gebilde sei, zuerst bei den Humanisten. Mit dem Erfolg von evolutionären Denkmodellen im 20. Jahrhundert erreicht diese Vorstellung eine neue Qualität. Jedoch fragt er sich, wann und ob sich der Tod einer Sprache überhaupt datieren lässt. Denn bereits bevor der letzte Sprecher einer Sprache verstorben ist, geriet sie in Vergessenheit.
„Die Frage, ob eine Sprache lebt oder bereits gestorben ist, hängt danach allein vom Bewußtsein einer Gemeinschaft ab, die einmal in dieser Sprache kommunizierte, und das selbst dann, wenn ein externer Beobachter zu dem Eindruck gelangt, die betreffende Sprache sei längst vergangen.“ (S. 75)
Auch wenn ein Dialekt oder eine Sprache li von ihren Sprechern vergessen wird, so bleibt dennoch L das Medium für die Kommunikation intersubjektiv geteilter Überzeugungen jeder partikularen Sprachgemeinschaft. Jedoch basiert die Vergänglichkeit einer Sprache nicht auf Konventionen, über die beispielsweise demokratisch abgestimmt wird, sondern man wird ihr erst gewahr, wenn sie „oft unbemerkt bereits aufgehört hat, sie selbst zu sein“(S 80).
Eine wesentliche Eigenschaft der Sprache L ist folglich ihre Veränderlichkeit, die sich weitgehend unabhängig vom jede sprachtechnischen Eingriffen durch Institutionen vollzieht und welche sich seit je in ungezählten Sprachen l1,...,ln manifestiert. Wenn zugunsten einer einzelnen Sprache interveniert wird, so wird nach Heller-Roazen ein Kategorienfehler begangen:
„Ihrem Wesen nach veränderlich, da die Zeit ihr Element ist, kann Sprache nie gänzlich besessen werden und damit auch nie gänzlich verloren gehen“(S. 81).
Der Fehler in der Bewertung des Phänomens führe letztendlich zu einer statischen Vorstellung der Sprache L, die, in der Gegenwart gefangen, keinerlei Veränderungen mehr widerfahren könne. Jedoch benötigen wir ein dispositionales Verständnis, um mögliche Interpretationen von linguistisch disparaten Quellen unter bestimmten Manifestationsbedingungen auch in Zukunft zu gewährleisten.
Kurz: Die Differenzierung der
Sprache zu Folgemanifestationen ist ein permanenter Prozess.
Wenn mit Heller-Roazen L ausschließlich über
ihre Manifestationen l1,...,ln zugänglich
zu sein scheint, begibt man sich in eine Debatte, die wahrhaft metaphysische
Ausmaße hat. Für ihn ist, ontologisch gesprochen, L
Teil einer außersprachlichen Realität, wenn Heller-Roazen
schreibt, dass „die Zeit der in ständigen Übergang
begriffenen Sprache vielleicht nicht die Zeit von Lebewesen ist“(S.
71) oder „[s]osehr die Biographen sich auch bemühen,
die Metamorphosen dieses proteushaften Wesens werden sie niemals
erfassen.“(S. 81). Damit mag er zwar erklären, warum
L von verschiedenen Sprachen gleichzeitig aktualisiert
ist. Allerdings bleibt sie dank ihres ontologischen Status nur indirekt
erkennbar.
Um die Brücke dennoch zu den Sprachwissenschaften zu schlagen, gelten für Heller-Roazen Strategien der indoeuropäische Linguistik als erfolgversprechend. Sie befasst sich ausschließlich mit solchen sprachlichen Formen, „welche per definitionem niemals nachgewiesen werden können“(S 113), weil ihnen die textlichen Grundlagen fehlen. Um Klarheit in der Forschung zu gewährleisten, machten die Indoeuropäisten nach August Schleicher rekonstruierte Formen mit einen vorangestellten Stern* kenntlich und damit für die Analyse nutzbar.
„Stellte man das Sternchen einem Wort voran, unterschied man es von allen anderen Wörtern. Das Sternchen holte den betreffenden Ausdruck gleichsam aus dem Bereich des empirisch Nachgewiesenen heraus und gab ihm einen sicheren Ort im undokumentierten Bereich des philologischen Postulats“(S. 114)
Mit diesen Schritt verabschiedet sich diese linguistische Disziplin von einem Verständnis, das Sprache wie ein Ding an sich betrachtet, sondern bezieht sich ausschließlich auf verschiedene Weisen, Aussagen über linguistische Formen zu treffen.
„Nirgendwo scheint der Stern in einem solchen Maße angebracht wie in der Verbindung mit den Elementen der Ursprache, die eigentliche keine Sprache im herkömmlichen Sinne darstellt, sondern, wie wir nun sagen können, eine *Sprache.“(S. 116)
Damit ist Heller-Roazen einem methodologisch motivierten Realismus verpflichtet, der Sprache zwar als Teil einer außersprachlichen Wirklichkeit ansieht, aber davon ausgeht, dass sich deren Wesen in ihren zahlreichen Instantiierungen l1,...,ln niemals vollständig erfassen lässt. Dabei hat gerade das Vergessen, wenn es wie im Falle des Sterns syntaktisch gekennzeichnet wird, eine konstitutive Funktion, um eine längst vergessene Sprache wieder begreifbar zu machen. Der formale Modus erlaubt eine Klammer zwischen unserem kontingenzaffizierten Begreifen des immanent der Sprachpraxis unterliegenden Vergessens und der Unmöglichkeit, sich der Veränderlichkeit der Sprache entgegenzustellen.
Heller-Roazens Echolalien
bieten tatsächlich Raum für eine Positionsbestimmung der
bibliothekswissenschaftlichen Forschung und Praxis. Sie läge
darin, sich weniger auf eine immerwährende Reproduktion von
digitalen und digitalisierten Dokumenten sowie ihrer beschränkten
inhaltlichen Vernetzung zu konzentrieren, sondern stärker formale
Repräsentationsmöglichkeiten zu entwickeln, die keinen
Status Quo der Interpretation disparater Quellen festschreiben.
Mit einem solchen Instrumentarium gelänge das Fach zu einer
Modalität, die die Gegenwart wieder als Vermittler zwischen
einer Vielfalt an Vergangenem und möglichen Zukünften
betrachtet und damit den vernachlässigten Aspekt der Kontextualisierung
mit dem Zweck der Sinnproduktion wieder ins Zentrum ihrer Forschung
rückt.
Fußnoten
[Fn 1] Hans Ulrich Gumbrecht, 2008, Geschichtlichkeit nach dem Historismus? Echolalien und Resonanzen: Über ein anderes Verhältnis zu Erinnern und Vergessen aus dem Geist der Sprachtheorie, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2008, Nr. 134, Seite N3. (zurück)
[Fn 2] Najko Jahn & Hannah Maischein, 2008, Hans Dampf hält Einzug ins Archiv der Zivilisation – die Zweite Moderne in Bibliothek und Museum, LIBREAS.Library Ideas, Nr. 13, Seite 3-12. Online unter: http://edoc.hu-berlin.de/libreas/13/jahn-najko-3/PDF/jahn.pdf (zurück)