Während der Vorbereitung der Ausgabe kam es zu einer kurzen Diskussion zwischen Ben Kaden und Dina Brandt. Da die Redaktion der Meinung ist, dass dieser Austausch auch für die Leser von LIBREAS interessant sein könnte, wird dieser hier dokumentiert. Weitere Meinungen zum Thema sind selbstverständlich sehr willkommen.
Ben Kaden
Während der Lektüre sind mir einige Anschlussfragen eingefallen, die sich vielleicht für eine Anschlussdiskussion anbieten: So ist beispielsweise zu überlegen, inwieweit die interne Selbstorganisation der Gemeinschaft der Wikipedianer nicht zu Hierarchien führt, die doch wieder auf Sozialem Kapital beruhen und die Strukturen, die Pierre Bourdieu beschrieb, reproduzieren? Ist dann also die Wikipedia, wenn sie bestimmte Autoritäten zur Bewertung der Inhalte als Begutachter einsetzt, in ihrem Ideal nicht gescheitert und erweist sie sich am Ende eher als eine dem technischen Stand angemessene und pragmatische Lösung für das, was man seit Diderot und D'Alembert unternimmt?
Und ist die Motivationslage von 2001 tatsächlich so idealistisch geprägt oder kann man das System nicht eher als spielerische Simulation einer Diskursgemeinschaft bewerten, die sich verselbstständigt hat, nun aber zwangsläufig ernsthaft werden muss, um glaubwürdig sein zu können? Die Simplizität des Angebots erwiese sich dabei als Abstraktion und Verkürzung des komplexen Systems der Wissenskumulation – richtig bemerkt: nicht der Erzeugung – aus der das symbolische Archiv einer Gesellschaft entsteht. Den Anspruch an Vollständigkeit findet man nur bedingt, aber das Relevanzkriterium bleibt – wenigstens in der deutschen Variante – ein zentraler Aspekt trotz unbegrenztem Speicherplatz.
Dass nach wie vor eben nicht alles in dieses Archiv aufgenommen wird, sondern z.T. willkürlich und restriktiv Ausschlüsse bestimmter Informationen erfolgen ließe sich auch als Relativierung einer nur vermeintlich revolutionären (oder subversiven) Idee verstehen. Die Wikipedia ist insofern nicht postmodern, als dass sie Wissenspluralismus nur soweit zulässt, wie das Gesamtgefüge in sich stimmig bleibt. Widersprüche sollen nach wie vor vermieden werden.
Und lässt sich also in der offensichtlichen Verdrängung klassischer enzyklopädischer Angebote nicht auch annehmen, dass mit der Wikipedia ein neues Wissensmonopol entsteht, in dem die Administratoren potentiell die Wächterfunktionen übernehmen, die im gedruckten Bereich den Herausgebern und Redakteuren zugeschrieben wurde?
Kurz: Entscheiden jetzt einfach andere und vielleicht eine größere Anzahl von Akteuren über das, was als gültiges Wissen gilt?
Birgt das Quasimonopol der Wikipedia nicht auch die Gefahr, dass aus der Möglichkeit ein Zwang wird? Das Eingangszitat Ihres Artikels deutet dies an und je stärker verankert die Wikipedia in der gesellschaftlichen Wissensdistribution ist, desto mehr Entscheidungsmacht über das, was als Wahrheit gilt, findet sich in ihr bzw. bei den sie lenkenden Akteuren. Will man mit seiner Position wahrgenommen werden, muss man sich zwangsläufig dort einbringen. Nicht jeder kann und möchte dies – sei es, weil er andere Verpflichtungen hat, sei es, weil ihm das Engagement in einem solchen Unterfangen nicht so wichtig wie andere Dinge des Lebens ist. Ist also die Wikipedia potentiell nicht ebenso exklusiv, wie die von den Vertretern des freien Wissens oft angegriffene Wissenskultur der klassischen Lexika?
Dina Brandt
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann zielen Ihre Bemerkungen alle darauf ab, ob Wikipedia tatsächlich wirklich subversiv ist, oder nur die etablierten Mechanismen aus dem Wissenschaftssystem – sicherlich medial neu definiert– übernimmt und diese daher nicht fundamental verändert. Mir ging es in dem Aufsatz zuerst einmal gar nicht darum, das Wikipedia-System zu dem besseren zu erklären, sondern nur darum, die Abwehrreaktion aus dem Wissenschaftslager zu beleuchten. In dem Teil scheinen wir uns ja einig zu sein.
Nun stellt sich in der Tat die Frage, ob Wikipedia
ein besseres System errichten kann. Immer noch einig sind wir uns
wahrscheinlich in der Einschätzung, dass die Online- Enzyklopädie
zumindest die Basis der Mitgestalter erweitert und zugleich eben
den neuen medialen Möglichkeiten der Kooperationen besser Rechnung
trägt.
Ganz ehrlich: natürlich ist die Wikipedia auch nicht die ultimative
demokratische Lösung. Auch hier etablieren sich Administratoren
mit mehr Macht, und Gelegenheitsautoren haben nicht viel zu melden.
Aber trotzdem bleibt das basisdemokratische Element der ständigen
Änderungsmöglichkeiten durch jeden immer erhalten. Das
würde ich schon noch als elementaren Unterschied festhalten
wollen. Die Administratoren haben in dieser Hinsicht auch keine
unbegrenzte Macht. Die Community reagiert sehr sensibel auf "oberherrschaftliches"
Gebaren einzelner.
Tatsächlich zielt aber mein Aufsatz auf einen ganz anderen Schluss ab, den ich aber in dem – eh schon sehr langen Artikel – nicht mehr ausbreiten konnte. Ich hoffe das an anderer Stelle tun zu können: meines Erachtens sollte Wikipedia viel weniger versuchen, durch stabile oder Flagged Revisions zu simulieren, es dem Wissenschaftssystem mit etablierten Wissensgarantien gleich tun zu können. Vielmehr sollte sie – in der öffentlichen Diskussion – ihre Stärke daraus gewinnen, dass sie zum einen im Foucault'schen Sinne Machtverhältnisse im Wissensdiskurs offenbart und zugleich eben beim "normalen" Menschen das Bewusstsein dafür schärft, dass man nicht alles glauben darf, was man gesagt bekommt, sondern selbstständig Kompetenz entwickeln muss, Information und Des information auseinander zu halten, oder auch: um sich der Konstruktion von Wissen (und damit Wirklichkeit) bewusst zu werden.
Damit kann man auch trennen zwischen dem Bemühen der Wikipedia-Community Widersprüche aufzuheben, gesicherte Versionen anzubieten oder gar etablierte Wissenschaftler zum Mitmachen zu bewegen (also das Wissenschaftssystem zu kopieren) und der tatsächlichen Anarchie, die doch immer wieder zu bemerken ist, da es nicht gelingen will (und kann), diese Bemühungen konsistent auf alle Einträge anzuwenden.
Ben Kaden
Ihre Kritik an der Kritik nehme ich an, bezweifle aber gleichzeitig, dass die von Ihnen gesehene Rolle in größerem Umfang realisiert werden kann. Dies liegt schlicht daran, dass mir die Zahl der aktiven Nutzer, also derer, die sich aktiv in Diskussionen einbringen, im Vergleich zur potentiellen Zahl eher gering scheint und somit "basisdemokratisch" nur eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe umfasst.
Wenn man die Wikipedia aber weniger als Werkzeug der Umsetzung, sondern als Modell und mehr oder Probebühne begreift, dann leuchtet mir das Verständnis der Wikipedia als Ausdruck einer auf Emanzipation gerichteten Wissenskultur weitgehend ein. Wirklich vom Bestehenden wird sie sich naturgemäß nicht lösen können, da sie in ihrer Funktion permanent auf den tradierten Wissenskanon rekurriert und über weite Strecken dessen Ordnungsprinzipien übernommen hat.
Interessant wäre zu untersuchen, ob beispielsweise die chinesische Wikipedia westliche oder chinesische Wissensstrukturen oder eine Mischung aus beidem als Maßstab nimmt. Davon, dass bei denjenigen, die mitwirken, eine Sensibilisierung für die Prinzipien der Wissensakkumulation, -legitimation und mitunter Ausschlüsse erfolgt, ist zweifellos auszugehen.
Die Wikipedia ist demnach weniger eine umfassend verlässliche Enzyklopädie, sondern mehr ein (autodidaktisch ausgelegtes) Lehrmittel für die Bildung von Informationskompetenz. Oder geht dies zu weit?
Dina Brandt
Um noch kurz auf Ihre Argumentation einzugehen: Tatsächlich denke ich keineswegs, dass Wikipedia das bestehende Wissenschaftssystem umstürzen könnte. Meine Argumentation zielt ja eher darauf ab, die Wikipedia aus der Fixation auf das Wissenschaftssystem heraus zu holen.
Faktisch kann sie mit dem Versuch, die Regeln des Systems durch gesicherte Versionen etc. nachzubilden, nur scheitern. Dafür sind zu viele Fragen hinsichtlich der Qualitätssicherung einfach nicht lösbar.
Aber: Mir geht es eben darum, dass die Enzyklopädie ihre Stärke weniger in Konkurrenz zu den etablierten Formen der Wissensorganisation findet, sondern sich tatsächlich, wie Sie es ausdrücken, als "ein (autodidaktisch ausgelegtes) Lehrmittel für die Bildung von Informationskompetenz" versteht.
Die größte Herausforderung, der wir uns in den nächsten Jahrzehnten stellen müssen (auch und gerade um die anderen anstehenden Probleme überhaupt lösen zu können), wird sein, den "normalen" Menschen mehr Medienkompetenz zu vermitteln. Wenn Wikipedia in dieser Hinsicht offensiver ihr Potenzial nutzen würde, denke ich, könnte die Gesellschaft viel davon profitieren.
Natürlich würde das immer noch verlangen, auf ein gewisses Niveau der Artikel zu schauen – so gesehen sind die im Moment angestrengten Bemühungen richtig und wichtig, jedoch sollte Wikipedia die Nabelschau auf das Wissenschaftssystem (ein sehr akademischer Zug) beenden. Die eigentliche Stärke der Wikipedia ist aus meiner Sicht gerade die Unmöglichkeit der Garantie bei gleichzeitiger Transparenz der Prozesse. Das sollte offensiv vermittelt werden.
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An dieser Stelle möchten wir die Diskussion gern öffnen und weiterführen. Anmerkungen bitte an redaktion@libreas.de ; Betreff: Wikipedia