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Editorial zur Ausgabe 14: Open Access und Geisteswissenschaften


Zitiervorschlag
Redaktion LIBREAS, "Editorial zur Ausgabe 14: Open Access und Geisteswissenschaften. ". LIBREAS. Library Ideas, 14 ().


Martha: It was an easy birth...
George: Oh, Martha; no. You labored...how you labored.[Fn1]

Ist Open Access der Wissenschaft Wo(o)lf? Jedenfalls scheint es, als würde so manchen Geisteswissenschaftler das blanke Entsetzen angesichts des möglichen blanken Zugangs zur Frucht seiner Schöpferkraft packen. Der Literaturwissenschaftler Roland Reuß zieht tapfer zu Felde und wittert hinter der aktuell angestrebten Praxis des freien Zugangs zur Information eine „klammheimliche technokratische Machtergreifung“.[Fn2]

Nimmt man Edward Albees Stück so wie jene, die bei der Frankfurter Allgemeinen die Überschriften formulieren als Leitbild für die entsprechende Entgegnung Gudrun Gersmanns[Fn3], Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Paris, so liegt der Unterschied, darin, dass hier die Väter vor den Söhnen sterben. Der Wissenschaftler ist für Reuß ein Opfer, dass „unkundig“ und „hilflos“ seine Texte in einem „digitale[n] typographische[n] Massengrab“ – gemeint sind wohl Digitale Repositorien – verschütt gehen sieht. Open Access ist ihm in erster Linie eine ideologische Forderung, die Gefährdung der „bewährte[n] Infrastruktur mittelständischer Wissenschaftsverlage“ und letztlich nichts Geringeres als die akute Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit an sich.

Dem aufgeheizten Versuch eines – um bei Albee zu bleiben – Exorzismus, den Reuß wenig später unter dem Schlachtruf „Enteignet die schamlosen Enteigner!“ in der Frankfurter Rundschau in aller Verzweiflung auf Google Books ausdehnt[Fn4] , stellt Gudrun Gersmann sachlich nüchtern die bekannten Vorteile gegenüber: Sichtbarkeit der Publikation, Kollaboratives Arbeiten, Begutachtung, Verwertungsrecht durch den Autor und Internationalisierung.

Dem Klischee nach stehen sich „hier die vornehmen Hüter der traditionellen Buchkultur, dort die ebenso fanatischen wie naiven Open-Access-Aktivisten“ (Gersmann) in Konfrontation gegenüber. Während Gudrun Gersmann versucht, eine Position in der Sache zu finden, wütet Roland Reuß leider derart überzogen über Wissenschaftler, die von Open Access zu „abhängige[n] Metöken“ degeneriert werden, dass man sich fragt, wo hier eigentlich der Ideologe sitzt. Bei diesem Thema leider wohl selbstverschuldet im Abseits.

Dabei gibt es durchaus kritische Argumente gerade gegen den naiven Weltverbesserungsglauben, dem die Vertreter des Allround-Zugangs und der Demokratisierungseuphorie durch interaktive Webplattformen nicht selten huldigen. Allen voran die häufig zu beobachtende Gleichsetzung den jeweiligen wissenschaftskommunikativen Praxen in den unterschiedlichen Disziplinen. Während die so genannten STM-Fächer ihre Erkenntnisse schnell und zeitnah vermelden bzw. registrieren wollen, erfordern gerade argumentative und beschreibende Wissenschaften mehr Darstellungsfläche und größere Rezeptionszeiträume. Man kann die Linie auch in Anlehnung an Ludwik Fleck anhand der Merkmale Zeitschriften- und Buchwissenschaft ziehen. Niemand wird das Jahrbuch der Kleistforschung auf das Format der Chemical Abstracts reduzieren wollen. Genauso wenig wird man die Biotechnology Letters gebunden und tiefenlektoriert als Jahressammlung anbieten wollen.

Die Heftigkeit der aktuellen Debatte zeigt, dass das Phänomen, wie auch andere aus dem Bereich digital vermittelter Kulturen, man denke nur an die E-Book-Debatte, nach wie vor nicht zureichend durchschaut, reflektiert und vermittelt ist. Ausgangspunkt für die vorliegende Ausgabe von LIBREAS ist die Frage, inwieweit sich die Wissenschaftspraxis der Geisteswissenschaften in elektronischen Publikationsmodellen, die aus einem anderen disziplinären Umfeld stammen, anpassbar sind und angepasst werden sollten. Die Frage danach, ob es für die Geisteswissenschaften überhaupt notwendig oder erstrebenswert ist, sich zur „E-Science“ zu entwickeln wird in dieser Ausgabe leider nicht nachgegangen. Sollte uns aber ein entsprechender Text erreichen, wird sich dafür in einer der nächsten Ausgaben, gern auch als LIBREAS-Preprint, Platz finden.

In dieser finden sich zunächst die Diskussion von Chancen und Problemen von Open Access in den Geisteswissenschaften, dargestellt Lilian Landes am Beispiel der Plattform perspectivia.net. Frei verfügbare Online-Publikationen sind, so die Autoren, in ihren beiden Spielarten (Retrodigitalisierungen bereits gedruckter Texte sowie genuin online publizierte Schriften) auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften auf dem Vormarsch.
Die Akzeptanz von Open Access untersuchte Nicole Henschel im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin für selbige und kommt zu dem Ergebnis, dass der Weg in Alltag, egal ob man die golden oder die green road wählt, noch ein langer ist.

Open Access sowohl hinsichtlich des Zugriffs wie der Lektüre ist seit nun mehr 8 Jahren Leitgedanke der Wikipedia und betrachtet man die deutlichen Flurschäden in Reihen der Lexikonverlage, kann man die Angst so manches Verlegers verstehen. Das die Wikipedia gleichzeitig auch den Wissenschaftsapparat an sich hinterfragen könnte, ist zumeist nur als Zitationsverbot in Proseminaren spürbar. Dina Brandt schreibt dem Ort gemeinschaftlicher Wissenssammlung aber durchaus ein subversives Potential zu und erläutert vor diesem Hintergrund Prinzipien und Mechanismen der Wikipedia sowie der Qualität und Verlässlichkeit dort enthaltener Artikel. Trotz einiger Defizite steht für die Autoren das demokratische Prinzip von Wikipedia als wichtiges Element bei der Wissenserzeugung und dem Wissenszugang klar im Vordergrund, das jedoch für sich genommen auch wieder die größte „Gefahr“ in sich birgt.

Elisabeth Mead Cavert Scheibel betrachtet in ihrem Text “Not Your Parents' History Professors: An Introduction to Three Digital Humanists” die Auseinandersetzung mit dem Thema des elektronischen Publizierens exemplarisch an drei jungen Wissenschaftlern, die im Center for History and New Media der George Mason University, in Fairfax, Virginia, USA arbeiten und sich selbst als „Digitale Geisteswissenschaftler“ bezeichnen.

Leah Rosenbluhm greift die ethischen und praktischen Anwendungen von Open Access in der Anthropologie auf und stellt aktuelle OA- Projekte vor.

Das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft hat in den letzten Jahren eine Art Generationenwechsel erfahren. Wohin die Entwicklung der hier praktizierten Wissenschaft weist, stellen die beiden Protagonisten in ihren Antrittsvorlesungen, die wir als Text abdrucken, selbst dar. Michael Seadle setzt sich in „The work that vanished“ mit der Frage des Verschwindens von Werk und Werken auseinander. Stefan Gradmann sieht in aller Digitalität die Notwendigkeit und das „Glück des Verstehens“ als zentralen Ansatzpunkt. Den sich daraus (hoffentlich) ergebenden „Semiotic Turn“ in der Bibliotheks- und Informationswissenschaft wird Schwerpunkt einer der kommenden Ausgaben sein und bitten, den Call for Papers zum Thema zu beachten.

Das Verstehen ist auch ein Problem der aktuellen Weltwirtschaftslage, die krisengeschüttelt zur Frage führt, warum niemand vorherzusagen vermochte, was am Ende geschah. Nicht jeder, der heute in eine Bibliothek drängt, folgt dieser Frage. Wahrgenommen werden aber generell höhere Nutzungszahlen und Anne Mostad-Jensen durchleuchtet mögliche Ursachen.

Ob aber einer der 21 guten Gründe hinter dem gestiegenen Interesse an der Bibliotheksnutzung steckt? Daran zweifelt so mancher. Beispielsweise Rainer Strzolka, der die Lücke, die sich zwischen Anspruch des jüngsten Strategiepapiers für Bibliotheken und der Wirklichkeit auftut, bestimmt und kommentiert.

Zwei Workshops, die sich in unserem Themenschwerpunkt einpassen, werden zusammengefasst: Najko Jahn berichtet über den Anfang des Jahres stattgefundenen Abschluss-Workshop des DFG-Projekts "Konzeptionelle Entwicklung einer Forschungsinfrastruktur für die e-Humanities in Deutschland" und Heinz Pampel informiert über den "Offene[n] Zugang zu Daten – eine Herausforderung" im Rahmen der Open-Access-Tage 2008 vom 10.10.2008 in Berlin.

Als ebenfalls im weiterem Sinne dem Thema zugehörig erweisen sich mehr als Problematisierungen denn als Rezensionen zu lesende Buchsprechungen von Najko Jahn und Ben Kaden: Ersterer folgt mit Daniel Heller-Roazen in die Unbesitzbarkeit in Nieverlierbarkeit von Sprache, zweiterer schöpft und siebt die interdisziplinär orientierte Methodologie des Literaturwissenschaftlers Franco Moretti.

Schließlich geht es noch nach Porto zur diesjährigen BOBCATSSS-Konferenz „Challenges for the New Information Professional“. Für uns berichtet Anne Mostad Jensen.

Wie immer gibt es Rezensionen zu verschiedensten Publikationen und die Dokumentation der Ausstellung "Wissensstädte – Bibliotheken in Afrika", die Ende letzten Jahres an der Humboldt-Universität zu sehen war.

Anregungen, Kritik und Lob sind stets willkommen!

Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre,
Ihre und Eure LIBREAS. Library Ideas-Redaktion

Berlin, im März 2009

Fußnoten

[Fn 1] Edward Albee: Who’s afraid of Virginia Woolf? Act 3, Excorcism (zurück)

[Fn 2] Reuß, Roland (2009) Die heimliche Machtergreifung. Volltext im faz.net (zurück)

[Fn 3] Gersmann, Gudrun (2009) Wer hat Angst vor Open Access? Volltext im faz.net (zurück)

[Fn 4] Reuß, Roland (2009) Enteignet die schamlosen Enteigner! Volltext auf fr-online.de (zurück)