Warum entscheiden sich Menschen für einen bestimmten Ort, an dem sie schreibend tätig sind? Ist es die Stadt mit ihren beruflichen und außerberuflichen Möglichkeiten, die Beziehungen zu anderen Menschen, die sich mit der Zeit etabliert haben, die Liebe zu einer schönen Sprache oder vielleicht einem bestimmten Kulturkreis? Unzählige Gründe können aufgezählt werden, warum ein Ort genau der richtige zu sein scheint. Ernst Tugendhat hat in einem Interview[Fn1] mit der Tageszeitung 'die tageszeitung' (taz) bekannt, dass er 1999 nur auf Grund der guten Bibliotheken zurück nach Tübingen gekommen ist.
Philosophen brauchen ein gutes Gedächtnis. Das Trägermaterial ist hier nicht unbedingt das menschliche Gehirn. Vielmehr benötigen die Denker einen schnellen und unkomplizierten Zugriff auf die für sie wichtigen Informationen, die in Bibliotheken gesammelt oder in Datenbanken zur Verfügung gestellt werden. Aus diesem „Treibstoff“ ziehen sie die Ideen, die sie aufnehmen oder verwerfen – auf alle Fälle kritisch hinterfragen.
Auch Journalisten brauchen solch ein gutes Gedächtnis. In den meisten Fällen gibt es in den Verlagshäusern ein mehr oder minder großes Archiv, aus dessen Fundus sich die Redakteure nach Belieben bedienen können. Meist sind diese Archive stark auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnitten. Die Sammlung der taz ist geprägt durch die Ausrichtung der Zeitung: eine 'Anhäufung' der wichtigsten Ideen und der Geschichte der Linken Bewegung.
Das Archiv der taz befindet sich derzeit in einer großen Umbruchphase. Auf der einen Seite sollen Kosten eingespart, auf der anderen aber soll die Arbeitseffizienz erhöht werden. Aus der Sicht der Geschäftsleitung kann dies nur funktionieren, wenn Teile der Sammlung aufgegeben werden. Vor allem der physisch vorhandene Teil (Zeitschriften, Bücher, etc.) solle zugunsten von Datenbanken weichen. Durch das konsequente Entsorgen von Zeitschriften und Zeitungen gehen Informationen verloren, die durch das Internet nicht zu ersetzen sind (Die Zeitschrift Emma bietet z.B. keine Archivfunktion im Internet an.). So aufkommende Probleme werden von den Entscheidungsträgern nicht erkannt. Hier scheint der monetäre Anreiz wohl zu groß zu sein. Diese womöglich aufkommenden Probleme bedürfen meiner Meinung nach aber einer Erörterung: Ist das Archiv der taz das Gedächtnis der Linken Bewegung? Sollte nicht lieber das Archiv zu einem – Achtung, Wortungeheuer! – Erinnerungszentrum ausgebaut werden? Wozu brauchen Journalisten ein robustes Gedächtnis?
Die Redakteure und Mitarbeiter des Zeitungsarchivs leben in einer friedlichen Koexistenz zusammen. Alle Informationen, Namen, Personendaten, Zahlen, eventuelle O-Töne können die Archivare in ihren Sammlungen und Datenbanken finden. Die zur Verfügung stehenden Informationsressourcen sind von Bedeutung für die politische Ausrichtung des Blattes. Neben diesem inhaltlichen Faktor spielt die Zeit eine große Rolle. Die meisten Journalisten besitzen, meiner Meinung nach, keine umfassenden Kenntnisse über die notwendigen Datenbanken oder verfügen nicht über die kostenpflichtigen Zugänge. Einmal angefertigte Recherchen können im Archiv abgelegt werden, um sie bei Bedarf erneut zu verwenden. So bestehen vielfältige Möglichkeiten, durch ein gutes Verhältnis zwischen Archiv und Redaktion Geld sowie Zeit einzusparen.
Der Aufbau eines Archivs, das Sammelprofil und die Datenbankauswahl beeinflussen die Qualität der dort zu findenden Informationen. Diese „Erinnerungen“ prägen die jeweilige Identität der Zeitung und beeinflussen zukünftig die Redakteure.
Die taz wurde am 17. April 1979 als 'linkes, lautes' Projekt gestartet[Fn2]. Es sollte eine Gegenoffensive gegenüber der vorherrschenden Springer-Presse geschaffen werden. Aus diesem Grund ist das Archiv eine organische gewachsene Sammlung. Es gab nie einen festen Sammelauftrag. Vielmehr wurde in das Archiv aufgenommen, was dem 'Projekt' diente. Heute ließe sich die Entwicklung der Linken in den letzten 30 Jahren mit allen Verwinklungen, Wendungen, Auswüchsen und Sackgassen, die es gegeben hat, nachvollziehen. Dieses Wissen um die linke Identität macht seit jeher den Charme der taz aus. Was passiert aber nun, wenn sich das Archiv von seiner Identität trennt und aus einem linken, emanzipatorischen ein 'Allerweltsarchiv' wird? Das Aufgeben der eigenen Wurzeln führt zum Verlust der gewachsenen Identität. Diese Konsequenz mag jetzt etwas überspitzt formuliert sein, aber im Folgenden geht es um ein Problem in diesem Zusammenhang.
Die Qualität einer Tageszeitung hängt in weiten Teilen von der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ab. Dies lässt sich aber nicht leisten, wenn das Archiv der taz eingedampft, in mundgerechte Happen zerlegt wird. Im März dieses Jahres gab es ein Treffen der Zeitungsarchivare in Berlin. Die meisten Archivare stehen derzeit unter einem ähnlich starken monetären Druck. Überall sollen Kosten eingespart werden, viele unterschiedliche Strategien wurden besprochen. Jedoch stand immer im Vordergrund, Teile der Sammlung aufzugeben. Andere Lösungswege wurden nicht diskutiert. Dennoch gibt es einen vollkommen konträren Ansatz, der hier vorgebracht werden müsste: Warum sollten die Archive nicht ausgebaut werden, anstatt sie zu verkleinern? Das Zeitungsarchiv der taz könnte ein 'Linkes Erinnerungszentrum' sein. Die Geschichte der linken Bewegung würde so erhalten bleiben.
Zukünftig müssen sich Archive ein schärferes Profil zulegen. Profilierung in diesem Zusammenhang darf aber nicht heißen, wahllos alles Kostenintensive über Bord zu schmeißen, sondern muss in der Herausarbeitung von Kompetenzen liegen. Gleichzeitig bleibt die Brisanz des Kostenfaktors erhalten. Es soll nur verdeutlicht werden, dass er eine Größe unter vielen ist. Die Begriffe Identität, Erinnerung, Informationsgüte sollten genauso in die Überlegungen miteinbezogen werden. Das Ziel wäre die Erhaltung des Qualitätsjournalismus mittels eines robusten Gedächtnisses.
Das Archiv der taz bietet in seiner Sammlung viele Informationsquellen, die so geballt nicht noch einmal vorkommen. Viele der Archivalien sind in Bibliotheken schwer und in Datenbanken nur in ungenügender Form (Von sinnvollen Recherchemöglichkeiten möchte ich hier gar nicht sprechen) zu finden. Für einen guten Journalismus benötigt man 'wertvolle' Informationen. Das ausgebaute taz-Archiv kann hier als Ideenschleuder dienen, um gegen den heute herrschenden Zeitgeist zu bestehen.
Die Zukunft kann nur bestimmen, wer die Vergangenheit kennt. Marx hat in seiner 11. These über Feuerbach geschrieben:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.“
Darum müssen wir Geschichte studieren. Das geht am besten mit einem guten Archiv.
Fußnoten
[Fn 1] Ernst Tugendhat: Die Zeit des Philosophierens ist vorbei: Interview in der taz vom 28./29.07.2007. www.taz.de/index.php?id=digitaz-artikel&ressort=do&dig=2007/07/28/a0001&no_cache=1 (zurück)
[Fn 2] Wir
über uns. Taz über die tageszeitung: www.taz.de/index.php?id=ueberuns_verlag,
jeweils aufgerufen am 16.08.2007 (zurück)
Bastian Zeinert studiert Bibliothekswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.